Dieser Nagel muss sitzen!“

Das Zitat stammt von Eberhard Jüngel. Das sagte der Tübinger Dogmatiker in seinen Vorlesungen an den Stellen, wo inhaltlich etwas Spitz auf Knopf, wo etwas Entscheidendes auf dem Spiel stand. Was immer wir sonst von seinen Vorlesungen behalten oder nicht behalten hätten: „Meine Damen und Herren: dieser Nagel muss sitzen!“

Mit dem Predigttext aus dem 2. Kapitel des Galaterbriefs haben wir so einen Nagel. Entsprechend apodiktisch formuliert Paulus hier. Da steht etwas auf dem Spiel: für Paulus selbst die erfolgreiche Fortsetzung seiner gesetzesfreien Heidenmission und für die Galater die Gewissheit der Rettung aus dem Glauben.

 

Auseinandersetzung um die Geltung der Tora

Auf die Gefahr hin, etwas Selbstverständliches zu wiederholen: Es geht hier nicht (!) um eine Auseinandersetzung zwischen Juden und Christen! Dies ist eine Auseinandersetzung innerhalb der noch ganz jungen Kirche, die Auseinandersetzung zwischen denen, die einen (wenn auch mit Apg. 15 nicht wirklich übereinstimmenden) Minimalkonsens mit den jüdischen Gesetzen auch für Heidenchristen für wichtig und richtig halten und denen, die dies ablehnen. Erstere werden in der Forschung gerne „Judaisten“ genannt – es sind Judenchristen, als deren wichtige Autorität der Herrenbruder Jakobus gilt, eine der „Säulen“. Paulus, obwohl selbst aus dem pharisäischen Judentum kommend, vertritt eine andere Linie: Wer aus den nichtjüdischen Völkern und Religionen zum Glauben an Christus kommt, soll nicht verpflichtet werden, Teile der Tora halten zu müssen. Und die Gemeinschaft der einen mit den anderen soll nicht an der fehlenden Tora-Observanz der Heidenchristen scheitern!

An dieser Stelle ist Paulus apodiktisch: Wer ein noch so kleines bisschen Gesetz zur Mit-Voraussetzung für die Rettung macht, macht den Tod Jesu „umsonst“. Unsere Verse enthalten keine eigentliche theologische Begründung für diese Behauptung; die entfaltet Paulus (erst?) im Römerbrief. Hier schlägt er „nur“ den Pflock ein – den Nagel, der sitzen muss.

 

Rechtfertigungsdruck

Es ist darum m.E. nicht sinnvoll, im Zusammenhang mit diesem Text das Verhältnis von Gnade und Geboten zu erläutern; das ist ein wichtiges Thema, aber dieser Text gibt es nicht her. Für die Predigt zielführender erscheint mir die Beschäftigung mit dem Begriff „Rechtfertigung“. Paulus und seine Gegner in Galatien sind sich darin einig: Die Frage nach der Gerechtigkeit bzw. Rechtfertigung wird verhandelt vor dem Hintergrund der Frage nach dem Bestehen im göttlichen Endgericht. Im Glauben an Christus ist dem Menschen jetzt schon das Bestehen zugesagt und er ist damit außerhalb der Reichweite des Gesetzes (dem Gesetz gestorben) und sein weiteres irdisches Leben ist ein Leben für den Sohn Gottes.

Nun wird es wohl unter den heutigen Predigthörern keine Mehrheit mehr geben, die von der Frage nach dem gnädigen Gott umgetrieben ist, und so stellt sich die Frage, was unseren Zeitgenossen zugesprochen werden kann. Ich möchte hierfür eine Formulierung von Rowan Williams aufgreifen: The universal welcome. Paul’s disturbing idea.1 „Disturbing“, beunruhigend, ist hier in der Tat, dass Paulus einen Gott verkündet, der die Menschen ohne Vorleistungskatalog und ohne Erfüllungsanspruch annimmt. Die Apodiktik des Paulus, die in unseren Ohren vielleicht harsch klingen kann, ist recht verstanden die Verteidigung der voraussetzungslosen Liebe Gottes.

Auch wenn heute die Sorge vor dem Endgericht nicht mehr das allgemeine (oder christliche) Lebensgefühl prägt, so gehen wir doch oft um mit Begriffen, die von dort herrühren: Wir stehen unter Rechtfertigungsdruck, wir wollen Ansprüchen gerecht werden, wir rechtfertigen uns für Fehler. Auch hier geschieht ein permanenter Abgleich mit ausgesprochenen oder impliziten Erwartungen, Rollenbildern, Ansprüchen. Und wenig überraschend: Wir werden ihnen oft genug nicht gerecht.

Dieser Druck durchzieht das gesamte Leben: Leistung in Schule oder Ausbildung, Karriere, Verdienst, die glückliche Ehe und Familie, tiefe Freundschaften, das den Idealen nah genug kommende Aussehen, die nötige Anpassungsfähigkeit – oder Durchsetzungskraft, je nach Umfeld…, mein Haus, mein Boot, meine Frau, mein Anlageberater…

 

Zur Freiheit befreit

Das Gegenteil zu solchem Druck wäre Freiheit! Zur Freiheit hat uns Christus befreit, kann Paulus in Gal. 5,1 sagen, und er folgert daraus, dass es möglich ist, den Ansprüchen und Forderungen von Menschen von dieser Freiheit her zu widerstehen. Die Kraft zu diesem Widerstand kommt aus dem Aufgehobensein in der bedingungslosen Annahme durch Gott.

Noch einmal Rowan Williams: So how exactly does this freedom work? If it’s freedom from anxiety about an unknown and unpredictable God, it’s freedom from all those behaviours that go with such anxiety – the passionate self-concern that seeks its own security, the fear that others are doing better or are more deeply loved than we are, the search for gratifications of every sort. It is a freedom for new kinds of relationship in which we are at last able to contribute to each other’s life and well-being instead of threatening and feeling threatened by each other.2

Vielleicht kann beim Adressieren eines unfrei machenden Zusammenhangs, das bildlich eindrucksvolle „Widerstehen ins Angesicht“ (V. 11) durchgespielt werden: das konkrete Angehen eines unangemessenen Drucks mit der Forderung, den Menschen freizugeben, für dessen Freiheit Christus gestorben ist. So kann ein Mensch buchstäblich hören, dass er/sie sich nicht nur aus eigener Kraft wehren muss.

Es gilt, den Selbstrechtfertigungszwang in den unterschiedlichen Lebenszusammenhängen aufzuspüren und Gottes universal welcome dorthineinzusprechen, wo sich Menschen nach Freiheit sehnen.

 

Dörte Kraft

 

Anmerkungen

1 Rowan William, Meeting God in Paul. Reflections for the Season of Lent, 2015, vii.

2 A.a.O., 36.