Welt-Literatur

Die Thronfolgeschichten aus den biblischen Samuelbüchern haben das Zeug zur Weltliteratur. So wie die griechische Tragödie nach den ihr eigentümlichen Gattungsprinzipien den Stoff menschlichen Lebensschicksals bearbeitet hat, so enthüllt auch das Drama um die Thronnachfolge Sauls tiefe Wahrheiten über des Menschen Sein. Die hier niedergeschriebenen Erzählungen sind nicht nur spannend zu lesen, sie bieten nicht nur ein – freilich in ganz bestimmter Absicht – nacherzähltes Stück politischer Geschichte Altisraels, sondern sie erfassen etwas von der Tragik, Dürftigkeit und Liebenswertigkeit menschlicher Existenz.

Dem Schriftsteller Stefan Heym gebührt das Verdienst, diesen literarischen Aspekt erkannt und herausgearbeitet zu haben. Heym tut dies auf seine Weise: Er misstraut der Oberfläche der Erzählung und dekonstruiert die Hofberichterstattung, die das Ziel hat, dem verstorbenen König David ein ewiges Andenken zu verschaffen. Die von Heym in seinem Roman „Der König David-Bericht“ eingeführte Hauptfigur, der antike Historiker Ethan aus Esrah, stößt im Laufe seiner Recherchen zu dieser Arbeit auf so viele Ungereimtheiten und kritische Stimmen, dass sich sein Bericht am Ende wenig eignet, um dem großen König David zu huldigen; stattdessen wird das schonungslose Porträt eines Intriganten und Machtpolitikers entlarvt, der über Leichen ging, um seine persönlichen Ziele durchzusetzen. König David, ein Mann von Welt also, wie die Welt sie seither in Hülle und Fülle gesehen hat – bis in unsere Gegenwart hinein.

 

Strahlender Siegertyp David

Die vorliegende Perikope erzählt von der Großmut des jungen David. Noch nicht in Amt und Würden eingesetzt, wenngleich bereits zum Königsnachfolger designiert zieht David den Hass des amtierenden Königs von Israel, Saul, auf sich. Dieser wittert in dem jungen aufstrebenden „Multi-Player“ einen ernsthaften Konkurrenten und versucht, sich des Rivalen mit den in diesem Milieu üblichen Mitteln zu entledigen.

David, Anführer einer kleinen und äußerst beweglich agierenden Guerilla-Truppe, kann sich den Attacken Sauls erwehren, ja, es spielt ihm sogar das Glück – manche nennen es „Gott“ – in die Hände: In einer Höhle, in der sich David mit einigen seiner Leute aufhält, verrichtet der nichtsahnende Saul sein Geschäft. Eigentlich die Chance für David, seinen Verfolger ein für allemal beiseite zu schaffen! So raten ihm auch seine Begleiter. Doch David schleicht sich an den kauernden Saul lediglich heran, um ihm einen Zipfel seines Gewandes abzuschneiden – als Zeichen der Todesnähe, in der sich der König befand, und als Beweis für die Großmut des Herrschers in spe, der die Gelegenheit nicht für seinen Vorteil nutzte, sondern den Rivalen mit dem Leben davonkommen ließ.

Soll die Predigt diese Großtat rühmen? Sie zum Anlass nehmen, Feindesliebe zu predigen und einmal mehr die Botschaft zu kolportieren, „jene zu segnen, die euch fluchen“? Soll sie der Gewaltlosigkeit und dem Pazifismus ein Denkmal errichten, auch angesichts eines blindwütig schnaubenden und sich maßlos aggressiv gebenden Tyrannen? All dies könnte im „evangelischen“ Sinne wahr sein. Und doch erscheint es mir als Finte angesichts dieser Geschichte, denn genau so will es ja die „Hofberichterstattung“ über den König David: seine Tugend im übergroßen Licht erstrahlen lassen, ihm sein Andenken auf dem Heldenplatz der Geschichte und in den Herzen nachfolgender Generationen sichern.

Das erscheint mir zu glatt, zu harmlos, ja, zu langweilig.

 

Tragischer Held Saul

Meine Sympathie gilt Saul, dem Unterlegenen, dem Verlierer in dieser Geschichte. Mit ihm kann und will ich etwas anfangen. Ich lese die Ereignisse mit seiner Brille. Einst war er Hoffnungsträger, so wie jetzt der junge David: ungestüm, wild – eben auch einmal jung. Ein Ekstatiker mit Visionen. Aber in seinem Charakter lagen Licht und Schatten nah beieinander. Er konnte im einen Augenblick mitreißend-euphorisch sein und im nächsten in ein tiefes Loch der Depression fallen. Sein Selbstbewusstsein war flatterhaft. Das lässt ihn ehrlich erscheinen, macht ihn sympathisch. Irgendwann fiel er bei seinem wichtigsten Berater, dem Propheten Samuel, in Ungnade: Er hatte nach einem Kriegszug gegenüber dem niedergeworfenen Feind Gnade walten lassen und nicht das Todesurteil vollstreckt. Sagen wir: er handelte nicht fanatisch-religiös, sondern politisch-klug. Ausgerechnet das wird ihm innenpolitisch zum Verhängnis.

Und nun entkommt er der Hand seines Erzrivalen David sozusagen um Haaresbreite. Aber nicht, weil es eine glückliche Fügung so will, sondern weil David – aus welchen letztlich undurchschaubaren Gründen – es so handhabt. Wie bitter muss es sein, auf Gedeih und Verderb von der Gnade desjenigen abzuhängen, den man eigentlich als Bedrohung ansieht und bekämpft!

Doch im Grunde kann es Saul gleich sein, warum genau er in der Höhle En-Gedi mit dem Leben davonkam. Er dürfte in diesem Augenblick die Flüchtigkeit seines Daseins erkannt haben, und das macht ihn menschlich, macht ihn zu einem von uns. Der abgeschnittene Zipfel seines Rocks ist nichts weiter als ein Sinnbild seiner zutiefst ungewissen menschlichen Existenz. Die Schere ist am Lebensfaden angesetzt und kann jederzeit zuschnappen. „Wer von euch kann seines Lebens Länge auch nur eine Spanne zusetzen?“

Am Ausgang der Höhle von En-Gedi blickt Saul zurück in den Geburtskanal eines Lebens, zu dessen Entstehen er nichts beigetragen hat, und er blickt aus in den Todeskanal eines Lebens, zu dessen Fortbestand er nichts sichernd einbringen kann. Sauls Leben: ein Schnipsel vom Gewand der Zeit in den Händen eines anderen … Wie mag ihn diese Anmutung angefasst haben? Beseligend-befreiend? Beängstigend? Niederschmetternd? Oder eröffnete sich ihm im Augenblick dieser Erkenntnis der Himmel, der regnet über Guten und Bösen, und die Sonne desjenigen, der sein Angesicht leuchten lässt über Gerechten und Ungerechten?

Saul ist mein tragischer Held, irden-brüchiges Gefäß göttlichen Lichts, eine Handvoll Sternenstaub, einzig belebt durch den Odem aus einer anderen Dimension, der Prototyp des Menschen schlechthin: begabt, begnadet, schuldverstrickt, vom eigenen Eifer gelähmt, trotzig, irrtumsbehaftet, beschränkt, liebesbedürftig – am Ende ein Bettler mit leeren Händen, das ist wahr!

 

Eine Chance für Gott

Zwei Reden markieren das Ende der Perikope, eine aus dem Mund Davids, eine aus dem Mund Sauls. Wie zwei Plädoyers! Doch gesprochen vor den Ohren welcher Jury? David rühmt seine eigene Großmut, stellt seine Lauterkeit aus und versäumt keine Gelegenheit, Saul zu demütigen und der Bosheit zu bezichtigen. Was für ein kleiner Geist, der solche Selbstbestätigung braucht! Ganz anders Saul: „er erhob seine Stimme und weinte“. Im Angesicht jener tiefen Erkenntnis über die Brüchigkeit und Flüchtigkeit menschlicher Existenz, deren Zeuge er wurde, bleibt nichts übrig, als sich in die Arme Gottes zu werfen. Saul ist viel zu klug, um nicht die politische Ausweglosigkeit seiner Situation zu erfassen, und so gesteht er David das künftige Königtum zu. Er nimmt sich zurück und – aufrichtiger Verlierer, der er ist – verneigt sich vor dem kommenden Machthaber.

Entscheidend ist jedoch Sauls letzter Satz: Da ringt er David den Schwur ab, Sauls Familie nach dessen Tod zu schonen und seinen Namen in Ehren zu halten. Saul hat in den Abgrund menschlicher Existenz geblickt; er hat den Rockzipfel seines Lebens eingebüßt als Signum der Vergänglichkeit; dem Schwerthieb, der ihn hätte niederstrecken können, entfloh er um Haaresbreite, einmal, heute, doch nicht für alle Tage. Wer von dieser bitteren Frucht gekostet hat, weiß um die Süße des Lebens, das sich am Morgen öffnet wie eine Blüte – jeden Tag neu – und am Abend welkt. Er weiß um die Verantwortung für diejenigen, die ihm nachfolgen. Und er weiß um die Bedeutung des einzigen, was den immerwährenden Häutungen des Lebens zu trotzen vermag: ein ehrenwertes menschliches Andenken. Wie sollte Gott einem solch erbärmlich-aufrichtigen Sünder seine Gnade versagen?

 

Peter Haigis