Mut für einen neuen Lebensabschnitt
Das Johannesevangelium erzählt Jesu Geschichte für die nachösterliche Gemeinde. In der Relecture (Jean Zumstein) wird die Geschichte Jesu mit der Situation der Gemeinde nach Ostern in Beziehung gesetzt. Das Anliegen ist, die Christen zu einem besseren Verstehen ihrer Gegenwart und Zukunft zu bewegen, indem an den Sinn der Geschichte Jesu erinnert wird. In den Abschiedsreden sind Worte Jesu zusammengefasst und für die Rat- und Mutlosen ausgelegt, die um ihn trauern und fortan auf sich selbst gestellt leben müssen. Zentraler Punkt der 3. Abschiedsrede ist 16,7: „es ist gut für euch, dass ich weggegangen bin“. Trotz des großen zeitlichen Abstands ist dies auch die Situation der Gemeinde heute.
Der johanneische Jesus kündigt den Parakletos an, den „Herbeigerufenen“. Vielleicht den Herbeizurufenden? Parakletos wurde von Martin Luther mit „Tröster“ übersetzt. Heute gebraucht man die Worte „Trost“ oder „Tröster“ im Hinblick auf Traurigkeit, zu Luthers Zeit jedoch hatte das Wort einen weiter reichenden Sinn: es bedeutete Ermutigung für Entmutigte. Der katholische Theologe Fridolin Stier gebraucht in seiner Bibelübersetzung den Begriff „Mutbringer“. Das scheint es genau zu treffen: Gottes Geist, der den in Trauer erstarrten, der auch den Verzagten und Ratlosen Mut machen kann für einen neuen Lebensabschnitt. Den verspricht Jesus seinen Nachfolgern.
War früher alles besser?
Auch heute schauen Christen traurig zurück. Früher war scheinbar alles besser. Die Zeit der Volkskirche ist vorbei, nicht mehr fast 90%, sondern gerade noch etwas über 50% der Menschen in unserem Land sind in der Kirche. Die über 50jährigen denken zurück an die Zeit bei den Pfadfindern oder in der Jungschar und sagen bedauernd: „Ja, früher, da war mein Glaube noch irgendwie lebendig.“ Jüngere haben diese Erinnerung kaum noch, ihnen scheint Glauben nichts mehr zu bedeuten.
Erklärungen dafür gibt es viele. Menschen schauen zurück auf Jahrzehnte der Unsicherheit und sind müde und erschöpft. „Eigentlich kenne ich nur Krisen: Wirtschaftskrise, Flüchtlingskrise, Corona, Ukrainekrieg…“, sagt mein 35jähriger Sohn. Wer zurückschaut, wird mutlos. Die einen, weil sie sich noch zu erinnern meinen, wie einmal alles besser war, die anderen, weil sie vermeintlich nur Krise und Unsicherheit kennengelernt haben.
Mutbringer Gottes
In dieser Situation braucht es den Mutbringer Gottes, der seinen Christen die Augen dafür öffnet, dass es auch heute Chancen und Möglichkeiten gibt. Der Abschied von der Volkskirche schafft auch neue Möglichkeiten. Ein Wagnis ist natürlich dabei. Es ist immer ein Wagnis, Neuland zu betreten Aber der Mutbringer Gottes kann helfen.
Er kann auch mitten in der Welt wirksam werden. In einer Rede vor Gericht hat der in Sibirien umgekommene Alexej Nawalny gesagt: „Ich bin ein gläubiger Mensch. Ich halte mich an das Versprechen1 ‚Selig sind, die da hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit, denn sie werden satt werden!‘ Deshalb fällt es mir leichter als anderen in Russland, mich mit Politik zu befassen.“2
Der Mutbringer öffnet „aller Welt“ die Augen über ihre Schuld. So kann er wirksam werden. Ein Beispiel: „Die Fremdlinge sollst du nicht bedrücken“ heißt eines der Gebote Gottes. Und Jesus trat für die ein, die keinen Platz fanden in der Gesellschaft der rechtschaffenen Bürger. Wer hält das für eine verbindliche Verhaltensmaßregel? Wer glaubt noch in dieser Konkretion? Müssten Christinnen und Christen nicht viel lauter widersprechen, wenn Menschen, die in unserem Land Schutz suchen, abgeschreckt, abgewiesen, zurückgeschickt, remigriert werden sollen?
Der Mutbringer Gottes hilft, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Er hilft die Wahrheit auch über uns selbst zu ertragen: Steht nicht hinter dem meisten Unrecht die Angst, zu kurz zu kommen? Aber Angst müssen wir nicht haben. „Der Fürst dieser Welt“, das Böse, das den Tod bringt, wird nicht das letzte Wort behalten, auch wenn es in diesen Tagen oft ganz anders aussieht. Der Ausgang der Weltgeschichte ist nicht offen. Gott wird das letzte Wort haben. Diese mutmachende Perspektive gibt Jesus den Traurigen und Verzagten. Und bis es soweit ist, wird sein „Mutbringer“ uns begleiten. Wir können ihn zuversichtlich herbeirufen.
Lucie Panzer
1 Nawalny verwendet den Begriff „Gebot“. Theologisch und inhaltlich meint er wohl eher „Versprechen“ bzw. „Verheißung“.