Zwei Klippen
Ein Text, der mit der neuen Perikopenordnung erstmals einen Platz im Gottesdienst bekommt, aber zum Teil vertraut klingt durch die Wahl von Gen. 16,8 als Jahreslosung für 2023. Und damit sind auch gleich zwei Klippen benannt: unbedarft geschildert hat diese Geschichte Retraumatisierungspotenzial, das es – je nach Predigtsituation – im Blick zu behalten gilt. Was mit unserem heutigen Blick als Ausbeutung weiblicher Sexualität von versklavten Frauen gesehen werden muss, war im Alten Orient eine legitime Möglichkeit, ohne Adoption zu juristisch anerkannten Nachkommen zu gelangen.1 Auch wenn es damaligem Recht entsprach, ist es doch (wie z.B. Sklaverei allgemein) ein Missbrauch und die Verletzung der Menschenwürde. Dies ist nicht die Kategorie, anhand derer der Text primär zu interpretieren ist, aber mit Blick auf die Predigthörer*innen kann es wichtig sein, dies zu benennen.
Als zweite Klippe sehe ich die Frage, inwieweit wir als christliche Gemeinde hingehen können und diese Geschichte oder auch nur einen Einzelaspekt daraus zu einer generalisierten Aussage über das Verhältnis Gottes zu uns machen dürfen. Das geschieht, wenn z.B. V. 8 zur tröstlichen These gemacht wird: Gott sieht uns, wir sind nicht allein. Das geht m.E. am Skopus dieser Geschichte vorbei.
Verheißung und Kinderlosigkeit
Mit Gen. 16 haben wir einen Teil der Erzelternerzählung (EEE) vor uns und die erste von zwei Geschichten, bei denen die ägyptische Sklavin Hagar Hauptperson ist. Dass die Frauen in der EEE eine wichtige Rolle spielen, gilt nicht nur hier. Vordergründig geht es um die Kinderlosigkeit der Sarai, die hier aber mehr ist ein trauriges Schicksal. Dass der soziale Status einer kinderlosen Frau gefährdet ist, ist allgemein bekannt. Aber hier geht es um das Spannungsverhältnis zwischen Nachkommenschaftsverheißung (Gen. 12; 15; 17) und der Kinderlosigkeit2, um die der Leser seit Gen. 11,30 weiß. Diese Spannung ist über mehrere Kapitel aufgebaut worden und wird unmittelbar vorher in Gen. 15 von Abram mit Gott diskutiert. Mit Gen. 16 nun kommt der erste – legitime! – Lösungsansatz in den Blick. Erstaunlich ist hier nicht die Idee Sarais und die unkommentierte Bereitwilligkeit, mit der Abram darauf eingeht, sondern die mangelnde Fähigkeit, die Konsequenzen dieses Weges zu akzeptieren3.
Es ist m.E. müßig, den entstehenden Konflikt auf einer juristischen Ebene diskutieren zu wollen. Die Schutzvorschriften in Ex. 21,7-11 (betr. Sklavinnen, mit denen der Herr Sexualkontakt hatte) und Dtn. 23,16ff (betr. entlaufene Sklav*innen) beziehen sich jeweils auf hebräische Sklaven, während Hagar ausdrücklich Ägypterin ist. Auch ihr Name wird teilweise als vom hebr. Wort ger- für fremd abgeleitet gedeutet. Andererseits ist es schwierig, hier Rechtsvorschriften aus dem Alten Orient im Einzelnen heranzuziehen, da wir für diese Geschichte die Entstehungs- bzw. Bearbeitungszeit nicht genau kennen und es völlig offen ist, ob und was an Rechtsvorschriften wann in Palästina galt – und inwiefern es Eingang gefunden haben könnte in Texte, die einen anderen Zeitraum darstellen.
Preisgabe der Verheißung
Die EEE kennt die Zeugung eines legitimen Kindes mit einer Sklavin auf Wunsch der Herrin von Lea und Rahel in Gen. 29/30. Hier bleiben aber die Mütter und Söhne bei/in der Familie und es wird im Weiteren von ihnen als „Magd“, nicht mehr „Sklavin“ gesprochen4. Der Status einer Sklavin, die mit dem Kind des Herrn schwanger ist, wäre dann tatsächlich eine andere als zuvor.
In Gen. 16,3 lesen wir wörtlich, dass Sarai ihrem Mann ihre Sklavin „zur Frau“ gibt; das scheint mir ebenfalls ein Hinweis darauf zu sein, dass Hagar eine veränderte Stellung hat, sobald sie schwanger wird.
Wie auch immer das genau zu denken ist – ausgerechnet an der erhofften Konsequenz des eigenen Handelns entzündet sich ein Konkurrenzkonflikt, bei dem Abram eine seltsam unbeteiligte Nebenrolle spielt. Gerade noch hat er Gott seine Kinderlosigkeit geklagt, und als nun endlich eine Frau mit einem Kind von ihm schwanger ist, überlässt er Mutter und Kind der Willkür von Sarai. In Gen. 21 wird er beide, Hagar und Ismael, sogar verstoßen.
Irmtraud Fischer benennt, m.E. zu Recht und durchaus interessant, ein wiederkehrendes Motiv in den EEE: die Preisgabe der Verheißung durch Preisgabe der eigenen Frau in Gen. 12/20/26 oder des die Verheißung weitertragenden Sohnes in Gen. 16/21/22. In jeder dieser Geschichten ist es Gott selbst, der zur Rettung einschreitet und so seine eigene Verheißung verteidigt.5 Als „preigebend“ erscheint der fast wort- und willenlose Abram auch in dieser Geschichte.
Israel erzählt in Gen. 12-36 seine eigene Vorgeschichte: die Familiengeschichte(n), die vor der mit dem Exodus einsetzenden Volksgeschichte liegt (liegen). Und diese Familiengeschichten sind auf Schritt und Tritt bedroht von menschlicher Unzulänglichkeit, und seine Verheißung muss Gott selbst immer wieder retten.
Politische Konfliktgeschichten
In der vorfindlichen Endform ist unsere Geschichte der erste Teil der Erzählung, die in Gen. 21 fortgesetzt wird, und mit den Toledot Ismael in Gen. 25,12-18 zum Abschluss kommt. Diese Toledot greifen die große Verheißung aus 16,10-12 auf und erwähnen ebenfalls zwölf Völker! Alle drei Textstellen zusammen werden gelesen als vom Konflikt Israels mit den arabischen Nachbarvölkern handelnd. Und ihren gemeinsamen Wurzeln, die immer schon gefährdet waren.
Es ist Monika Eggers zuzustimmen, die zusammenfassend sagt: Die EEE sind politische Geschichten über die Konstellierung der Völker und ihre Positionierung zueinander, sie sind theologische Geschichten über das Verhältnis von Gott zu diesen Völkern, von denen das sich bildende Israel im Zentrum des Erzählinteresses steht.6
Über das „Verhältnis Gottes zu diesen Völkern“ nachzudenken, ist in der gegenwärtigen Zeit Herausforderung genug, auch ohne dass wir den Überschritt zum Christentum hier hineinlesen müssten. Da ich selbst keinem der beiden in dieser Geschichte betroffenen Völker angehöre, möchte ich verweisen auf einen beeindruckenden Text aus den Predigthilfen im christlich-jüdischen Kontext7, die für die in dieser Perikopenreihe erstmalig auftauchenden Texte aus dem AT ein „Plus“ eingefügt haben. In ihrem Text benennt Birgit Klein die Verwendung des Namens Hagar im gegenwärtigen Israel als Positionierung gegen die religiös-fundamentalistische Regierungsbeteiligung und als Ausdruck des Verlangens nach Begegnung auf Augenhöhe zwischen den beiden in Israel/Palästina lebenden Völkern. Als liturgische Konkretion schlägt sie die Einspielung eines Liedes von Linda Hirschhorn8 vor, das auf Youtube verfügbar ist: Sarah and Hagar9 – ein Gespräch dieser beiden Frauen quer über die Jahrhunderte und trotz aller Verletzungen.
Misericordias Domini wäre hier – vielleicht ausnahmsweise – die Treue Gottes auch zu Abrahams erstgeborenem Sohn Ismael und seinen Nachkommen.
Anmerkungen:
1 I. Fischer/M. Navarro Puerto/A. Taschl-Erber (Hg.), Tora, Bd. 1.1 von: Die Bibel und die Frauen, 2010, 252.
2 Monika Egger, Hagar, woher kommst du? Und wohin gehst du?, 2011, 86.
3 Bei I. Fischer so: Das Elternpaar war nicht Mensch genug, der Schwangeren entsprechenden Lebensraum zu gewähren. In: Schottroff/Wacher (Hg.), Kompendium feministische Bibelauslegung, 1999/2, 15.
4 Vgl. Anm. 1, 253.
5 A.a.O., 250ff.
6 Eggers, 17.
7 www.studium-in-israel.de/publikationen/predigtmeditationen.
8 lindahirschhorn.com/about.html.
9 www.youtube.com/watch?v=s-JRDZ9obIY.
Dörte Kraft