Wer was glaubt: Jesu Passion im Matthäusevangelium
Bei Matthäus sind die Verhältnisse klar. Jesus hängt am Kreuz, wird gepeinigt, verhöhnt und stirbt. Die um das Kreuz herum agierenden Juden wenden sich von Jesus ab, verspotten ihn und seine Botschaft von der Gottessohnschaft: die vorübereilende Menschenmenge, die mit Jesus gekreuzigten Verbrecher sowie die Hohenpriester, Schriftgelehrten und Ältesten. Der Kreis der zwölf Jünger erlebt die Kreuzigung gar nicht erst mit, sie haben bereits die Flucht ergriffen. – Unter dem Kreuz steht auch der römische Hauptmann mit seinen Wachtposten. Beim Erdbeben erschrecken sie und bekennen: „Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen!“ (V. 54). Über unseren Predigttext hinaus reicht die Notiz, dass von Ferne die Jesus nachgefolgten Frauen der Kreuzigung zusehen (V. 55).
Der Bericht von Jesu Kreuzigung und Tod stellt nüchtern fest: Sämtliche jüdische Gruppen und Instanzen wenden sich von Jesus ab; der heidnische Hauptmann hingegen bekennt sich zu Jesus. Zwischen beiden Gruppen stehen die Jüngerinnen: Sie glauben von ferne, aber nicht öffentlich.
Wer was glaubt: Jesu Passion im Glasfenster des Künstlers Pot d’Or
An Karfreitag predige ich in der Heiligenroder St. Marien Klosterkirche über Jesu Kreuzigung und Tod. Unsere Kirche zeigt im Altarraum ein Glasfenster des Künstlers Gottlieb Pot d’Or. Auf diesem ist die Kreuzigungsszene abgebildet (https://www.weser-kurier.de/landkreis-diepholz/gemeinde-stuhr/kunst-in-der-kirche-wiederentdeckte-und-neue-schaetze-in-heiligenrode-doc7es84q0dyxh182ykehz1). In der Mitte ist der gekreuzigte Christus zu sehen. Links ist (aus der Blickrichtung des Betrachters) Maria dargestellt. Die Mutter Jesu betet und hat ihr Haupt gesenkt.
Spannend wird es auf der rechten Seite. Hier ist eine Person abgebildet, dessen Identität sich nicht eindeutig zuordnen lässt. Ist es Johannes, der Täufer? Für Johannes spricht, dass ein sich über dem Glasfenster befindliches, 500 Jahre altes Deckenfresko links neben Jesus Maria zeigt, rechts neben ihm Johannes den Täufer. Wäre die unbekannte Person Johannes, hätten sich in Maria und Johannes zwei jüdische Glaubensvertreter als „Zeugen der ersten Stunde“ unter dem Kreuz versammelt. Der Künstler Pot d’Or hätte sein Glasfenster analog zum Deckenfresko gestaltet. Da die Analogie von modern und historisch in der Kunst gerne genutzt wird, spricht vieles für die Zuordnung zu Johannes.
Nun aber entdeckt der aufmerksame Betrachter an der unbekannten Person ein Detail, welches gegen die Zuordnung zu Johannes dem Täufer spricht. Die unbekannte Person trägt ein Kleidungsstück mit einem stark ausgebildeten Schulterbereich, welches einer Soldatenuniform ähneln könnte. Manche Betrachter des Glasfensters erkennen hier den römischen Hauptmann unter dem Kreuz und somit einen nicht-jüdischen, heidnischen Glaubensvertreter.
Eine offene Glaubensgeschichte
Da der Künstler Gottlieb Pot d’Or bereits 1978 verstarb, ist es heute leider nicht mehr möglich, ihn selbst nach der Auslegung seines Heiligenroder Kirchenfensters zu fragen. Die Überlegung, wen die unbekannte Person unter dem Kreuz darstellen soll, muss also offenbleiben. Ich erlebte Kirchenführungen von älteren Kollegen in unserer Kirche. Sie vertraten die Ansicht, Pot d’Or habe bewusst die Identität und damit auch die Glaubensrichtung des Mannes offengelassen. Betet ein Jude (Johannes) unter dem Kreuz? Oder bekennt sich ein Heide (der Hauptmann) zu Christus? Oder stehen vielleicht du oder ich unter dem Kreuz, die Arme vor der Brust gekreuzt und zu Jesus aufblickend? Und wenn ja, wie stehe ich da? Ehrfurchtsvoll? Staunend? In Anbetung versunken?
Mir persönlich gefällt dieser dritte Interpretationsansatz. Ich mag die Überlegung, dass ich selbst es sein könnte, die unter dem Kreuz die Nähe Jesu sucht. Ich bin weder Jüdin, noch bin ich Heidin. Und sollte ich mich einer Richtung innerhalb des evangelischen Glaubens zuordnen, so würde auch dies sowohl Elemente aus der evangelisch-lutherischen Frömmigkeit als auch aus überkonfessionell-christlichen Glaubensrichtungen aufweisen. Mein Glaube ist vielfältig, offen und in Bewegung.
Sehnsucht nach Mehr
Viele Kirchengemeinden sind sich heute dessen bewusst, dass sie sich breit aufstellen und vielfältige Zielgruppen mit ihren vielfältigen Glaubensrichtungen ansprechen müssen. Dies ist nicht nur dem Druck der Kirchenaustritte geschuldet, sondern einfach dem Interesse und der Lust daran, neuen Menschen zu begegnen und sich mit neuen Glaubensstilen auseinanderzusetzen. Und wer weiß, wer in Zukunft nicht noch alles vor unserem Heiligenroder Glasfenster stehen wird, ehrfurchtsvoll, staunend oder anbetend – und sich Jesus und seinem Glaubensweg nahe fühlt? Wir alle tragen die Sehnsucht nach Mehr ins uns: das Verlangen nach Geborgenheit und Liebe, nach Vergebung und Hoffnung – egal, welchem Glauben und welcher Religion wir letztendlich angehören.
Tabea Rösler