Dieser Predigttext ist eine Zumutung! Auch dann, wenn man ihn theologisch-typologisch auf den Kreuzestod Jesu hin auszieht (was auch den Ausschlag für seine Platzierung am Judika-Sonntag gegeben hat).
Was sollen wir predigen an diesem Sonntag? Ist die Fremddeutung mit Hilfe christlicher Kreuzessoteriologie angemessen? Ist sie überhaupt hilfreich? Wird dabei nicht eine Unverständlichkeit, eine irrationale Provokation, durch eine andere ersetzt? Der am Kreuz gestorbene Jesus ist dem heutigen Empfinden ja nicht minder fremd als der das Sohnesopfer fordernde Gott Abrahams.
Von der besonderen Brutalität der Szene zeugt auch die meisterhafte Darstellung Rembrandts in seinem Gemälde „Die Opferung Isaaks“ (1634) (https://de.m.wikipedia.org/wiki/Datei:Rembrandt_Abraham_en_Isaac,_1634.jpg). Man beachte die Dunkelheit, die den „umnachteten Abraham“ umgibt, das über dem nackten Leib Isaaks bedrohlich schwebende Messer (gleich einem Damoklesschwert) oder die linke Hand Abrahams, die das Gesicht Isaaks gewaltsam niederdrückt – ich werde darauf zurückkommen.
Doch zunächst: Wer ist dieser „Gott Abrahams“?
Rettung
Die Exegese des Textes im Zeichen neuzeitlicher Humanität beruft sich gerne auf die in dieser Geschichte thematisierte Ablösung eines Menschenopfers durch ein Tieropfer. Demnach bilde sich in der Erzählung von Abraham und Isaak auf dem Berg Morija ein religionsgeschichtlicher Paradigmenwechsel ab: Während in früheren Zeiten (und im altorientalischen Umfeld des Judentums) Menschenopfer durchaus belegt seien, habe der israelitische Glaube einen Abscheu gegenüber dieser Praxis gehabt, der sich in dieser – jedenfalls früh verorteten, wenn schon nicht historisch frühen – Erzählung niederschlage.
Für eine solche Deutung könnte der auffällige Wechsel des Gottesnamens (Elohim – JHWH) sprechen, die Jürgen Ebach dahingehend erklärt, dass es die fremde Gottheit (ha elohim) sei, die den Befehl zur Opferung gibt, während es der Bote JHWHs ist, der dem grausamen Geschehen Einhalt gebietet: „In eben dem Moment, in dem Gott mit dem eigenen Namen erscheint, wird offenbar, dass das Menschenopfer nicht sein soll“ (Gottes Name(n) oder: Wie die Bibel von Gott spricht; in: Bibel und Kirche 2/2010, 62-67, hier 66).
Dagegen könnte man die heute überwiegend angenommene späte Datierung in der Exils- oder Nachexilszeit anführen, die mit deuteronomistischen Einflüssen des Textstücks begründet wird. Nach dieser Deutung geht es in dem Erzählabschnitt weniger um die Opferthematik selbst als vielmehr um die durch Leiderfahrung motivierte Frage nach der Gerechtigkeit Gottes angesichts erlittenen Unrechts, also nach der Frage der Treue Gottes zu seinem Volk im Kontext der Erfahrungen des Exils. Man müsste dann also eine ältere Überlieferungsschicht annehmen, die die Thematik des Menschen- vs. Tieropfers traktierte und von einer späteren Tradition mit anderer Erzählabsicht übermalt wurde.
Gehorsam
Als anstößig wurde immer wieder der Gehorsam Abrahams empfunden, der mit geradezu unmenschlicher Fremdsteuerung etwas zu vollziehen bereit ist, was jeder Humanität, jedem Ethos und jedem Gewissen doch zutiefst widersprechen müsse – zumindest in aufgeklärten Zeiten. Immanuel Kant hat gegen diese Geschichte polemisiert, dass sich Abraham nicht gegen einen Gott auflehnt, der ganz offensichtlich dem Sittengesetz widerspreche, das er doch selbst zu garantieren habe.
Solchen „Kadavergehorsam“ wissenschaftlich zu untersuchen, war die Absicht des berühmten Milgram-Experiments. Dabei ging es um die Frage, ob Menschen bereit seien, anderen Menschen Schmerzen zuzufügen oder sie zu verletzen, ja zu töten, wenn eine höhere autoritative Instanz dies von ihnen verlangt. Eine entsprechende Versuchsreihe des Max-Planck-Instituts München aus dem Jahr 1970 wurde filmisch dokumentiert: „Abraham – ein Versuch“ (45 Min.) (https://www.youtube.com/watch?v=7IfxKYrVMsM). Der geschichtliche Hintergrund hierfür liegt in den Erfahrungen des Faschismus und des Nationalsozialismus aus den 1930er und 1940er Jahren und ihrer „Banalität des Bösen“ (Hannah Arendt).
Allerdings verkennt eine derartige Parallelisierung mit der Abraham-Isaak-Geschichte, dass es in Gen. 22 – liest man die Erzählung im Kontext der Verheißung und Erfüllung des Nachkommens Abrahams – weniger um einen abstrakten und blinden Gehorsam geht als um ein unbedingtes Vertrauen und Festhalten an Gottes Zusage, wider alle Erfahrung.
Daher trifft die jüdische Titulierung der Geschichte als „Bindung Isaaks“ (V. 9) eher als die gemeinhin christliche Redeweise von der „Opferung Isaaks“, denn Isaak wurde nicht geopfert!
Glaube
Die Pointe des Glaubens nimmt der dänische Philosoph Sören Kierkegaard in seiner Deutung der Erzählung auf (in: „Furcht und Zittern“), durchaus im Widerspruch gegenüber Kant. Für Kierkegaard ist es gerade nicht die Vernunft – auch nicht die Vernunft im Sinne vernünftiger Moral – die dieser Geschichte Herr zu werden vermag, sondern lediglich der Glaube. Während die Vernunft an der dargestellten Paradoxie geradezu irre werden muss, kann der Glaube mittels der Paradoxie in eine Radikalität getrieben werden, in der er nichts anderes mehr ist als Glaube bzw. Vertrauen.
Was vor den Lehrbüchern der Studierstuben geradezu absurd erscheinen mag, erweist sich von den Lehren des Lebens in seiner Verworrenheit und Undurchdringlichkeit her als einziger Rettungs- oder Hoffnungsanker. Eine so ausgerichtete Deutung der Abraham-Isaak-Erzählung setzt auf Aussagen wie die, dass Abraham und Isaak beide zurückkehren werden (V. 5), oder die, dass Gott sich das Schaf zum Opfer ersehen werde (V. 8).
Liebe
Der israelische Schriftsteller Meir Shalev hat ein Buch geschrieben mit dem Titel „Aller Anfang. Die erste Liebe, das erste Lachen, der erste Traum und andere erste Male in der Bibel“ (Diogenes Zürich, 2010). Bei seiner Recherche hielt sich Shalev an eine einfache literarische Regel: Wann ist in der Bibel das erste Mal von einer bestimmten Sache oder Begebenheit explizit die Rede?
Die allererste Stelle, an der in der Bibel von Liebe die Rede ist, ist die Vaterliebe, nämlich die Liebe Abrahams zu seinem Sohn Isaak. Spät kommt sie, diese Rede von der Liebe, immerhin erst nach 21 Kapiteln – und überraschend: Denn ausgerechnet in dieser so grausam und kalt wirkenden Erzählung von Abraham und Isaak ist von „Liebe“ die Rede. Für Shalev kein Zufall!
„Nimm deinen Sohn, deinen einzigen, den du liebst …“, sagt Gott zu Abraham (V. 2). Es ist Gott, der Abraham über die Beziehung zu seinem Sohn Isaak gewissermaßen aufklären muss. Shalev bringt diese Stelle in Verbindung mit der Schöpfungsgeschichte: Der Gott, der die Welt mit ihren Erscheinungsformen hervorbringt und den Erscheinungen Namen gibt, das Licht „Tag“ nennt und die Finsternis „Nacht“, der gibt auch dem Gefühl, das Abraham gegenüber Isaak verspürt, einen Namen – das ist „Liebe“.
Vor diesem Hintergrund gewinnt die Geschichte von Isaaks Beinahe-Opferung einen neuen Sinn: Gott prüft nicht Abrahams Gehorsam. Er fordert keinen radikalen Glauben. Vielmehr zeigt er an Abrahams Beispiel, wie man blind sein kann für die Liebe – hier für die Liebe, die Abraham seinem Sohn gegenüber empfindet.
Damit ist auch der Punkt erreicht, wo das Gemälde Rembrandts ein entsprechendes Detail zu dieser Deutung beisteuern kann, denn es ist sehr vielsagend, dass Abraham seinem „geliebten Sohn“ Isaak das Gesicht gewaltsam verbirgt. Diese Geste ist entwürdigend und sie passt nicht zum Motiv der Liebe, so wenig wie das angebahnte Opfer. Abraham nimmt Isaak das Ansehen, er erkennt ihn nicht von Angesicht zu Angesicht, kann ihn nicht erkennen! Abraham befindet sich im Widerspruch mit sich selbst. Er durchläuft eine „Schule der Liebe“ und braucht doppelte Aufklärung: die Aufklärung darüber, dass dieses Gefühl, das er seinem Sohn gegenüber verspürt, Liebe ist, und die Aufklärung darüber, dass es im Leben eines Menschen nichts geben darf, das die Liebe einschränkt oder relativiert, ja, dass die Liebe nichts und niemandem geopfert werden darf, denn die Liebe ist das Größte (1. Kor. 13,13) und Gott ist die Liebe (1. Joh. 4,16).
Peter Haigis