Da sitzen die beiden vor mir. Sie wechseln verliebte Blicke und strahlen sich glücklich an. Gelegentlich auch ein flüchtiger, verstohlener Blick zu mir, dem Pfarrer. Gleich wird es ernst. Traugespräch, das zweite: es geht um den Ablauf und den Trauspruch, den sie miteinander herausgesucht haben. „Wir haben etwas ganz Besonderes“, sagen die meisten Paare. Und wenn nicht ein Vers aus 1. Kor. 13, dann werden oft die Worte unserer neuen Jahreslosung zitiert: „Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe.“ Egal, in welcher Bibelübersetzung.

Drei Worte für die Liebe

Liebe, ach wie schön! Aber die Ernüchterung folgt auf den Fuß. Hier ist nicht die erotische, rosarote Liebe gemeint. Und jetzt ist es gut, dass die meisten Pfarrer*innen noch altsprachlich ausgebildet sind: Im Deutschen gibt es eben nur dieses eine Wort für Liebe. Im Griechischen aber, der Sprache des Neuen Testaments, der Sprache also auch der paulinischen Briefe, gibt es mehrere Worte für den Begriff der Liebe, mindestens drei: Eros erschließt sich hierbei immer am ehesten, als erotische Spielart. Agape ist uns in der kirchlichen Praxis vertraut durch das Agape-Mahl, ein Liebes-Mahl in Anlehnung und Abgrenzung zum Abendmahl. Sie meint eher Nächstenliebe. Und die dritte im Bunde, Philia, ist uns durch alle möglichen Neigungen wie z.B. frankophil als Freundschaft im Sinne von Zuneigung bekannt. Drei Arten der Liebe – und Paulus schreibt dauernd nur von Agape.

Die Enttäuschung stand manchen Paaren schon ins Gesicht geschrieben. Aber schließlich: Ist nicht Nächstenliebe eine solide Basis für jede Partnerschaft? Sozusagen eine Art Mindeststandard? Aber hoffentlich auch nicht allein. Eros wäre schon eine brauchbare Zugabe. Für die Partnerschaft.

Sex und Essen

In der Jahreslosung aber also auch nur Nächstenliebe. Nüchtern trocken wie Paulus an vielen Stellen. Hier in den Schlussworten seines ersten uns bekannten Briefes nach Korinth (es scheint mehrere gegeben zu haben, worauf zumindest 1. Kor. 5,9 und 2. Kor. 2,4 hindeuten). Paulus hat diesen Brief wohl drei bis fünf Jahre nach der Gemeindegründung in Korinth von Ephesus aus geschrieben. Die Heidenchristen waren durch inhaltliche Probleme und Streitigkeiten sowohl in Glaubensfragen als auch in der Glaubenspraxis einer Zerreißprobe ähnlich nah wie viele Kirchgemeinden und sogar Landeskirchen in unserer Gegenwart. Sexualität spielte dabei eine große Rolle – warum eigentlich machen Christen oft ausgerechnet daran so viele Grundlagen ihres Selbstverständnisses fest? Ehe oder Ehelosigkeit. Und: Haben weltliche (heidnische) Gerichte etwas in religiösen (innerkirchlichen?) Angelegenheiten zu sagen? Oder gar zu richten? Und dann Ernährungsfragen; damals Götzenopferfleisch, heute industrielle Tierhaltung versus veganer Ernährung. Seltsam, wie sich die hochstrittigen gesellschaftlichen und internen kirchlichen Fragen nach 2000 Jahren immer noch ähneln.

Paulus versucht Stück für Stück Klärung (aus seiner oft sehr persönlichen Sicht – womit er etliche Generationen Christentum geprägt hat) und schafft mit seinen Lösungen auch etliche Tatsachen für kommende Jahrhunderte. Manches davon wird heute neu hinterfragt.

Werden – geschehen – entstammen – wachsen

Interessant ist aber, wie Paulus zum Schluss „die Kurve kriegt“ – und damit manche der eigenen Steilvorlagen wieder entschärft: Alle eure Dinge lasst in der Liebe geschehen. Bei Paulus auch immer um der Schwachen willen. Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe. Interessanterweise in der (katholischen?) Einheitsübersetzung. Die Liebe sei das Maß. Vor dem Urteil. Vor dem Aburteilen. Vor dem Verwerfen. Liebe – mein Gegenüber im Blick haben, im Blick behalten. Versuchen, die Streitfrage aus deren Blickwinkel zu betrachten, zu verstehen, zu akzeptieren.

Was bei Eros noch so einfach klingt, fällt bei Agape schon nicht mehr so leicht. Derzeit gleich gar nicht. Argumente sind ja kaum noch gefragt. Und Liebe? Könnten wir es damit versuchen? Oder ist das zu altmodisch?

„ginesto“ steht da als Verb. Aorist Imperativ. Vom Verb ginomai. Eines der vertrautesten Wörter aus dem Neuen Testament. Werden, entstehen, aber auch abstammen und wachsen, und vieles andere mehr kann dieses Verb ausdrücken. Jetzt können wir wunderbar fabulieren, was das für dieses Jahr heißen möge, wenn „alles das Eure (Unsere) in Liebe entstehe“, oder wachse, aus ihr wachse, ihr entstamme, sich in ihr ereigne, stattfinde, sich befinde. Hauptsache mit liebevollem Blick, eben in Liebe. Das könnte ein lehrreiches und wunderschönes Jahr 2024 werden!

Eckehard Möller