Kontext

Die Erzählung von der bronzenen/ehernen Schlange steht im Buch Numeri mitten im Umbruch: Mirjam und Aaron sind im vorangegangenen Kapitel gestorben, dass auch Mose nicht ins verheißene Land kommen wird, wurde angekündigt. Das Volk hat seinen Lagerplatz bei Kadesch verlassen und ist auf dem Weg ins Ostjordanland, aber nach der missglückten Kundschaftermission ist klar: weitere lange Jahre liegen vor ihnen (14,28-35).

Das ganze Buch Numeri ist „zwischeneingekommen“ – enthält mehr oder weniger zusammenhängende Überlieferungen, die gesammelt wurden, als die Corpora Exodus/Leviticus und Deuteronomium weitgehend abgeschlossen waren. Der hebräische Name bemidbar = in der Wüste beschreibt den Inhalt: irgendwo zwischen Sinai und dem verheißenen Land.

Unsere Erzählung ist ein „Einzelstück“ und doch interessant eingepasst an gerade dieser Stelle. Die eherne Schlange ist in der christlichen Tradition Joh. 3 folgend immer wieder als Sinnbild des Kreuzes Christi ausgelegt worden, was zum Sonntag Reminiscere auch durchaus passt. Ich entscheide mich dennoch mit U. Schwemer1 dafür, diesem Text eine eigene Botschaft zuzutrauen.

 

Genervt – frustriert – zermürbt

Auf den ersten Blick ist dies eine Erzählung über das „murrende“ Volk, wie wir sie mehrfach in Ex. und Num. finden, aber das Ziel der Geschichte ist außergewöhnlich.

Ein wichtiges Schlüsselwort fällt sofort im ersten Vers (V. 4): dort wird gesagt, die Seele des Volkes sein „tiqzar“, das in seiner Grundbedeutung wohl „kurz“ heißt. Die Bibel in gerechter Sprache übersetzt mit kurzatmig, in der Elberfelder Übersetzung ist das Volk ungeduldig;Horst Seebass übersetzt der Lebensmut des Volkes wurde kurz. Die Lutherbibel übersetzt verdrossen, Ulrich Schwemer zermürbt. Aus all diesen Begriffen wird die Stimmung deutlich: genervt, frustriert, müde geworden, perspektivlos, entmutigt. Da sie ja nicht mitten im Nirgendwo aufgeben können, schlägt diese Stimmung in Zorn und Rebellion um.

Vom Führungstrio ist nur noch Mose übrig – hier wird gerne auch ein holperiger Generationenwechsel gesehen. Die Vision der Aufbruchsgeneration reicht als Energielieferant nicht für die zweite Generation – zumal noch kein Ende des Weges in greifbarer Nähe ist. Aber es ist nicht nur Mose, gegen den sich der Zorn richtet: V. 5 („ihr“) meint Mose und Gott! Die elende Nahrung ist Gegenstand der Beschwerde, wie schon früher in Ex. 16,17 und Num. 11,20. So „hört“ man die Glorifizierung Ägyptens auch hier quasi mit.

 

Strafe und Heilung

Diese Beschwerde wird nun nicht mit einem sättigenden Wunder beruhigt, sondern mit harter Hand bestraft; im Text verschärft noch durch den Wechsel von elohim auf JHWH in V. 6: es ist ihr Exodus-Gott, gegen den sie sich hier erheben. Sie stellen ihre eigenen Grundlagen in Frage, wenn der Auszug aus Ägypten womöglich ihrer Vernichtung hätte dienen sollen. JHWH schickt „brennende Schlangen“, deren Biss tödlich ist. Auf Moses Fürsprache hin geschieht nicht etwa das Ende der Plage, sondern etwas Neues: JHWH gebietet die Herstellung eines „Heilsmittels für den Augenblick, … das im Hinblicken Vertrauen zu seiner wirkungsvollen Einsetzung verlangte.“2

Hier passiert kein Problemlösungswunder, das das Volk zufriedenstellt und wieder in die Spur bringt. Die Situation der Bedrohung bleibt, die Schlangen beißen weiterhin – aber wer seinen Blick zu diesem „Heilsmittel“ und damit zu JHWH wendet, bleibt am Leben. Diese Ausrichtung im Vertrauen auf JHWH wird, anschließend an Weisheit 16,7 in der jüdischen Auslegung dieser Geschichte betont.

Hier endet die Geschichte – ob die in 2. Kö. 18,4b erwähnte nehushtan mit dieser Geschichte zusammenhängt, bleibt vorläufig ungeklärt.

 

Aspekte der Predigt

Welche Aspekte dieser Geschichte können für 2024 ausgezogen werden? Mir scheinen drei Aspekte interessant: Erstens der Generationenwechsel und die Frage, ob und wie es der nachwachsenden Generation gelingt, ihren Weg zu finden. Man könnte die ungewöhnliche Reaktion JHWHs auf den Zorn auch dahingehend verstehen, dass es nun jeder einzelne ist, der sich diesem Gott anvertraut. Die Vision vom verheißenen Land ist nicht vererbbar, ebenso wenig eine Gottesbeziehung; in dem Augenblick, in dem sie die grundsätzliche Fürsorglichkeit JHWHs in Frage stellen, müssen sie eine eigene Erfahrung machen. Die Erinnerung an den Exodus verblasst angesichts des knurrenden Magens.

Ein zweiter Aspekt scheint mir das Umschlagen von Müdigkeit in Rebellion zu sein. Der sprechende, wenn auch schwer zu übertragende, Begriff der tiqzar näfäsch-am in V. 4ist die Begründung für diese Rebellion. Die Seele des Volkes ist mürbe geworden zwischen Staub und Steinen. Das begeisternde Glück des Aufbruchs liegt lange zurück, das Ziel ist weit entfernt. Wozu das alles? War das überhaupt sinnvoll? Hätten wir bloß nicht… Aus der Enttäuschung heraus wird das Vergangene verklärt und die Sklaverei wird zu den „Fleischtöpfen Ägyptens“. Die müde Seele schaut nicht mehr nach vorne, sondern nach hinten. Damals war alles besser. Früher war mehr Lametta

Dieser Stimmung zu folgen, ist gefährlich, denn die Lösungen von gestern reichen unmöglich für die Fragen von heute, geschweige denn morgen. Die kurzatmige Seele hat nicht die Puste für die große Aufgabe. Da finde ich es spannend, dass das Volk hier eine neue Heilserfahrung macht, und es gerade nicht den mahnenden Rückgriff auf den Exodus gibt. Daraus ließe sich für explosiven Zorn oder matte Resignation angesichts überfordernder Probleme heute etwas ableiten: wer einen langen Atem braucht, braucht eine erneuerte Vision. Das kann durchbuchstabiert werden für Wirtschaftsunternehmen, Familienbetriebe, Kirche, Sozialpolitik, Umweltfragen, Straßenbegrünung… Es werden nicht die alten Konzepte sein, die weitertragen.

Ein Drittes schließlich ist dieses „Heilsmittel“, das nicht einfach so wirkt, sondern buchstäblich Hinwendung verlangt. Eine Intervention JHWHs, die die Gefahr bestehen lässt. Eine Bewahrung nicht vor, sondern in der Gefahr. Ein Handeln JHWHs, das den Menschen braucht. Diese eherne Schlange ist gerade kein Kultobjekt, auch kein Gegenstand des Aberglaubens, sie ist ein Symbol des Heilshandelns JHWHS. Wohl darum ist dieses Bild so beliebt als Voraus-Abbildung Christi – aber diese Geschichte ist alt, in ihrer Grundsubstanz wahrscheinlich vorexilisch. Sie erzählt von einem Gott, der zusammenarbeitet mit der vertrauensvollen Hinwendung des Menschen an einer Stelle der Geschichte Israels, als das individuelle Gottesverhältnis eigentlich noch nicht Thema war. Und damit passt sie eben sehr gut zu Reminiscere.

 

Anmerkungen

1 Vgl. Ulrich Schwemer zur Stelle in den „Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Kontext“, Jg. 2024, 112ff.

2 Vgl. H. Seebass, BKAT IV,2, 2003, 314.

Dörte Kraft