Konflikte und Kontraste
Der 2. Kor. steht im Kontext von Konflikten. Paulus meint, sich verteidigen zu müssen, weil man ihn in Korinth im Vergleich zu anderen Aposteln für eine schwache Figur hält. Er redet dabei als „Narr“ (11,21) und berichtet – nur hier – von dem „Pfahl“ in seinem „Fleisch“ (12,7). Die Waffen seines Kampfes aber sind dennoch nicht „fleischlich, sondern mächtig im Dienst Gottes, Festungen zu zerstören“ (10,4). Wenn Paulus schwach ist, ist er stark (12,10). Nicht zufällig beginnt der Apostel seinen Brief mit dem Lob des Gottes „allen Trostes, der uns tröstet in aller unserer Bedrängnis“ (1,4).
In dem Abschnitt, der hier besprochen werden soll, kontrastiert Paulus „die Herrlichkeit Gottes in dem Angesicht Jesu Christi“ mit den „irdenen Gefäßen“, die den anvertrauten Schatz enthalten, mit den „ostrakinoi skeuä“. Eines steht fest: Irdene Gefäße sind, anders z.B. als metallene, zerbrechlich. Der entscheidende Punkt – das Wunder in dieser Sache – ist, dass die Herrlichkeit Gottes auch zerbrechliche Gefäße erleuchtet.
Paulus sagt: „wir sind bedrängt“, „wir leiden Verfolgung“, „wir werden unterdrückt“ und „wir tragen das Sterben Jesu an unserem Leib“. Die christliche Gemeinde im Deutschland des Jahres 2024 wird dergleichen nicht ohne weiteres von sich sagen wollen. Wer allerdings auch nur ein wenig von den Nachrichten dieser Zeit mitbekommen hat, der oder die weiß: Um uns her in der Welt gibt es jüdische, christliche und muslimische (!) Gemeinden, die sehr wohl sagen können: „Wir sind bedrängt“. Hier lauert eine Gefahr: Prediger und Predigerinnen könnten von der Bedrängnis anderer erzählen und von der eigenen relativen Sicherheit schamhaft schweigen.
Zerbrechliche Menschen
Dieter Oloff hat diese Gefahr erkannt und vermieden. Seine Predigt im Jahr 1992 beginnt so: „Menschen sind zerbrechlich. Wir selbst sind zerbrechlich, wir sind leicht ‚angeknackst‘, sind nur Bruchstücke dessen, was wir gerne sein möchten und was wir sein sollten. Oft wollen andere auch nur Bruchstücke von uns: nur unsere Arbeitskraft, nur unsere Zeit, nur unseren ‚Dienst‘, nur unsere ‚Schokoladenseite‘. Und wir lassen uns darauf ein, werden schließlich ‚angeknackste‘ Menschen und am Ende womöglich zerbrochene Menschen.“ Er schildert dann die Enttäuschung der korinthischen Gemeinde von der „kläglichen Figur“ des Paulus und fährt fort: „Mit falschen und überzogenen Erwartungen kann man Menschen kaputtmachen, auch Apostel, auch Gemeindediakoninnen und Gemeindediakone, auch Leute in der Kirchenleitung, vielleicht auch die Kirche“.1 Die Predigt trifft geschickt den Punkt der Zerbrechlichkeit. Allerdings interpretiert sie diese Zerbrechlichkeit existential, also als Grundbefindlichkeit des Menschensein und damit ungeschichtlich. Menschen sind nun einmal zerbrechlich, immer und überall.
Scherbenhaufen
Meine Predigt beginnt mit den Ostraka, den Scherben, die vergangene Kulturen hinterlassen haben. Sie lassen – anders als große Texte der Vergangenheit – auf den Alltag schließen. Wer wird einmal die Ostraka unseres Lebens entziffern? Manchmal stehen Menschen, manchmal steht die Kirche vor einem Scherbenhaufen. Der größte kirchliche Scherbenhaufen der Gegenwart, zumindest in Mitteleuropa, besteht in Zeugnissen sexuellen Missbrauchs. Daneben gibt es gewiss noch ein paar andere. Leuchtet auch aus diesen Scherben der Schatz der Herrlichkeit Gottes? Natürlich nicht. Wir werden uns in dieser Sache nicht darauf hinausreden, dass Menschen nun einmal Sünder sind. Wir werden allerdings auch nicht moralisieren, sondern differenzieren: zwischen denen, die zerbrochen wurden, und denen, die Gefäße des Lebens zerbrochen haben. Das ist unsere Aufgabe in unserer geschichtlichen Situation. Dass die Herrlichkeit Gottes auch die gegenwärtigen Scherbenhaufen der Kirche erleuchten wird, können wir nicht einfach behaupten. Wir können nur darum bitten.
Für die Kirche in dieser Zeit gilt, was Hans Joachim Iwand geschrieben hat: „Wir verbergen unsere Schwäche, um Kraft zu heucheln, Gott verbirgt seine Kraft, um sie in der Schwachheit zu offenbaren. Darum verstehen ihn die Großen und Gewaltigen nicht. Darum müssen wir selbst an uns abnehmen und zerbrochen werden, ehe wir ihn begreifen und ergreifen in seiner Schwachheit, in dem Kreuz seines Sohnes, in der Erscheinung des einen Menschen Jesus … Darum der so schwer erkennbare Weg der wahren Kirche Jesu Christi durch die Zeiten. Es ist immer ein Weg am Abgrund entlang.“2
Anmerkungen
1 Die Predigt ist abgedruckt in: Rudolf Landau (Hg.), Calwer Predigtbibliothek, Bd. 3, Stuttgart 1997, 125-128. Es ist die einzige Predigt zu diesem Text, die ich gefunden habe.
2 Hans Joachim Iwand, Nachgelassene Werke, Bd. 3, München 1967, 289.
Rainer Oechslen