Es gibt nur wenige Geschichten im AT, die sich als Stoff für eine breite romanhafte Erzählung oder für eine szenische Aufführung auf der Bühne eignen. Diese gehört dazu – und zwar ungekürzt. In der Geschichte des syrischen Feldherrn Naaman begegnet uns ein tiefer Einblick in die menschliche Seele, in ihr Leiden und ihre Leidenschaften, in ihr Hoffen und ihr Glücksempfinden. Es begegnen uns die grundlegenden Themen des Menschseins: Krieg und Frieden, Krankheit und Heilung, Freiheit, Zwang, Stolz und Erlösung, Fremde und Heimat … und all dies hineingewoben in einen spannenden Erzählstrang. Warum also nicht „Naaman der Syrer“ als Oper in fünf Akten? (Für mich wird auch nur in einer solchen Verfremdung die tiefe Wahrheit dieser Geschichte angesichts der politischen Wirklichkeiten, die derzeit in Nahost gesetzt werden, erfahrbar.)
Die Personen des Stücks:
Ben-Hadad, der König von Aram
Naaman, sein Feldherr
dessen Ehefrau
ein junges israelitisches Mädchen
Joram, der König von Israel
Elisa, ein Prophet
Gehasi, dessen Diener
weiter: ein Bote des aramäischen Königs, verschiedene Diener des Naaman sowie aramäische Kriegsleute und Minister des Königs von Israel.
Erster Akt
Im Garnisonspalast des aramäischen Feldherrn Naaman. Er ist soeben, gemeinsam mit seinen Kriegsleuten, von einem erfolgreichen Feldzug gegen das Heer des israelitischen Königs heimgekehrt. Ich stelle mir eine eindrucksvolle Chorszene vor: Die Männer rühmen die Stärke ihrer Truppe, die Schlagkraft ihres Heeres und die kluge Strategie des Hauptmanns. Sie danken ihren Göttern für den errungenen Sieg.
Naaman ist eine imposante Gestalt – ein Bariton. Er lässt sich von seinen Offizieren feiern, doch zugleich merkt man seinen Reaktionen an, dass er ein bescheidener und frommer Feldherr ist. In seinem Namen, „Naaman“ = „Freundlichkeit“, klingt das schon an. Er besteht darauf, dass die Gefangenen menschlich behandelt werden. Das übliche Brandschatzen und Morden der Kriegsheere kritisiert er mit Verachtung.
Als Naaman – durchaus höhnisch – darauf angesprochen wird, was er mit dem israelitischen Mädchen zu tun gedenke, das seine Leute als Beute mitgebracht haben, antwortet er in einer langen Arie und erzählt die Geschichte von der Auffindung des Mädchens. Nicht geraubt hat er sie, sondern adoptiert; aus den Flammen eines brennenden Hauses gerettet, als die Familie bereits Opfer des Feuers geworden war. Nun zu einer Waisen geworden habe er sich ihrer persönlich angenommen. Er bringe sie seiner Frau als Dienstmädchen.
Verwandlung der Szene: Wir befinden uns in der Waffenkammer Naamans, wo er in eine Klage einstimmt. Er legt seine Rüstung ab – und unter ihr tritt seine Verletzlichkeit zutage. Seit Jahren leidet er unter einer zermürbenden Hautkrankheit. Der unansehnliche Schorf setzt ihn dem Ekel der anderen aus. Seine Krankheit macht ihn einsam.
Zweiter Akt
Der zweite Akt führt uns ins Haus Naamans, ins Schlafgemach der Frau des Feldherrn. Naamans Frau nimmt das israelitische Mädchen bei sich auf, als sei es eine Aramäerin. Doch bald treten die Unterschiede zutage: Das Mädchen weigert sich, vor den Hausgottheiten Verehrung zu zeigen. Sie enthält sich bestimmter Speisen und beharrt auf ihrer eigenen Kleidung. Naamans Frau lässt sie gewähren und fragt sie nach ihrer Herkunft. Darauf enthüllt das Mädchen seine Geschichte: Wehmütig schildert es das Leben in der fernen Heimatstadt Samaria und erinnert sich an die Mauern, Türme und Zinnen der Stadt, an den heiligen Berg mit dem Tempel und an einen „Mann Gottes“, der in dieser Stadt wohnt. Dieser „Mann Gottes“ – davon ist das Mädchen überzeugt – wäre imstande, den aussätzigen Feldherrn zu heilen.
Verwandlung der Szene: Naaman und seine Frau alleine auf der Terrasse ihres Hauses. Es ist Nacht. Naamans Frau erzählt ihrem Mann von dem Mädchen und seiner Wehmut nach der Heimat Samarias. War es recht, sie hierher nach Damaskus zu verschleppen? Doch Naaman weist die Frage zurück: Wo und wie könnte es ihr besser gehen als hier?
Dann erwähnt Naamans Frau den „Gottesmann“ aus Samarien und die Möglichkeit, dass er Naaman von seiner Hautkrankheit heilen könne. Naaman will zunächst nicht glauben, dass der von dem Mädchen erwähnte „Herr Israels“ der wahre Gott sein soll. Wie kann ein Gott, der in einem Krieg unterliegt, der wahre Gott sein? Dennoch lässt ihm der Gedanke möglicher Heilung keine Ruhe.
Dritter Akt
Der Thronsaal Ben-Hadads, des Königs von Aram: Naaman hat dem König sein Anliegen vorgetragen, einen Boten nach Samaria schicken zu dürfen. Der soll vor dem König von Israel Naamans Leiden schildern und um Hilfe ersuchen. Irrtümlicherweise nehmen Naaman und Ben-Hadad an, dass das israelitische Mädchen mit dem sog. „Mann Gottes“ den König von Israel gemeint haben müsse. Wer sonst sollte einen solchen Titel tragen? Also richten sie einen Brief an König Joram, in dem sie dessen Heilkunst rühmen und darum bitten, er möge sie an dem aramäischen Feldherrn und seinem Aussatz unter Beweis stellen.
Vierter Akt
Im Thronsaal König Jorams: Der syrische Bote tritt auf und verliest den Brief des Königs von Aram. Joram erschrickt zunächst, dann sammelt er sich und reagiert gereizt. Eine unverschämte Provokation sei dies – so wendet er sich an seine Minister („Er hält mich wohl für Gott, dass ich töten könnte und lebendig machen). Joram ist voll Zorn, steigert sich in seine Rage hinein. Wunderbar, wie die Musik hier mitgeht, schneller, lauter, rauschhafter wird! „Seht nur, wie er Streit mit mir sucht“ – mit diesen Worten endet Jorams große Arie.
Für einen Augenblick ist es still. Keiner der Minister wagt zu widersprechen. Dann ertönt eine dünne Violinstimme und mit ihr die Stimme des Propheten Elisa, ein Countertenor. Elisa deutet den Sieg des syrischen Heeres als Strafe Gottes an Israel. Seine Botschaft ist unangenehm; sie ist dissonant und passt nicht zur Tonart, in der Joram und seine Minister singen. Doch Elisa bleibt unbeirrt: Weil Naaman Gottes Werkzeug sei, müsse er geachtet werden. Die Heilung von seiner Krankheit sei ein Weg, um ihm die Macht des wahren Gottes, des Herrn Israels, vor Augen zu führen.
Fünfter Akt
Vor dem Haus Elisas: Naaman fährt in prächtigem Aufzug vor. Er erwartet, dass der angekündigte Gottesmann aus der Tür tritt und mit seinem Heilungszauber beginnt. Doch es geschieht nichts. Dreimal wiederholt sich der musikalische Auftakt der Szene, bis Gehasi, der Diener Elisas, aus dem Haus tritt und Naaman anweist, was er zu tun habe, um rein zu werden, nämlich hinabzusteigen ans Ufer des Jordan, um sich dort siebenmal zu waschen.
Der syrische Feldherr ist sichtlich enttäuscht über diese Behandlung: kein angemessener Empfang, keine persönliche Diagnose, nur die lächerliche Empfehlung eines Lakaien, sich im Jordan zu waschen. „Gibt es nicht genug Flüsse in Aram und ist ihr Wasser nicht besser als alle Wasser in Israel, um sich darin rein zu waschen?“, singt er und weiß zugleich, dass dies unwahr ist. Sein fortdauerndes Leiden straft ihn Lügen, doch sein Stolz ist zu groß.
In dieser verzweifelten Situation fallen die Diener Naamans ein. Sie halten ihm vor, dass er wohl alles täte und zu allem bereit wäre, wenn es nur spektakulär genug aussähe, aber zu diesem einfachen Schritt, sich im Wasser des Jordan zu waschen, könne er sich unsinnigerweise nicht bewegen. Und Naaman lässt sich überzeugen. Ein weiteres Mal sind es die kleinen Leute, die die heilsame Lösung wissen, die „underdogs“: das israelitische Mädchen, der Diener Gehasi, die Knappen Naamans – Ausländer und sozial Schwache.
Verwandlung der Szene: Es ist Abend geworden. Naaman erscheint ein zweites Mal vor dem Hause Elisas. Er kommt vom Jordan herauf. Seine Rüstung hat er nicht angelegt, damit alle sehen: er ist rein, er ist geheilt. Nun erst tritt Elisa selbst aus dem Haus. Naaman fällt dem Gottesmann dankbar zu Füßen und bietet ihm Geschenke an, doch Elisa lehnt ab. Den Dank für seine Heilung möge Naaman Gott, dem Herrn Israels abstatten, nicht ihm, einem Menschen. Naaman erbittet Land, Erde, so viel, wie zwei Maultiere tragen können, um auch zuhause den wahren Gott anbeten zu können. Und Elisa antwortet mit einem leisen, musikalisch unscheinbaren „Zieh hin in Frieden“, das in einer hohen Tonlage verklingt.
Vorhang.
Peter Haigis