Im Schatten von Weihnachten
Der zweite Weihnachtsfeiertag steht ganz im Schatten von Heiligabend, noch mehr als der erste Feiertag. Höhepunkt des Weihnachtsfestes ist zweifellos der 24. Dezember (was eigentlich nur den Vorabend des Ganzen bildet). Der zweite Feiertag dient dann vielleicht noch einigen Verwandtschaftsbesuchen oder einfach nur dem Aufräumen.
Wer den Gottesdienst am 2. Christtag besucht, wird etwas Besonderes erwarten oder seiner tiefen Verbundenheit mit der christlichen Tradition Ausdruck geben. Ich persönlich finde es angemessen, wenn der Gottesdienst an diesem Tag eine besondere Note hat. Warum nicht mit den Hochverbundenen Abendmahl feiern, wenn dies nicht schon am 1. Christtag geschehen ist, oder zu einem Kirchenkaffee einladen oder einen speziellen musikalischen Leckerbissen kredenzen? In manchen Gemeinden dient der Gottesdienst am zweiten Feiertag dem gemeinsamen Weihnachtsliedersingen, mancherorts sogar als Wunschkonzert.
Weihnachten aufräumen
Will man in einem Predigtgottesdienst auf die Feiertagsperikope eingehen, dann bietet es sich an, vorbereitend dazu ein wenig mit Weihnachten aufzuräumen. Der Apostel Paulus hebt in diesem kurzen Abschnitt auf die Armut Christi ab. Bürgerliche Weihnachtsfeiertagsromantik verbindet mit dem Stichwort der Armut Christi gerne den Stall, in der bildlichen Darstellung dann meist etwas heruntergekommen und baufällig, das Kind in der Futterkrippe von Ochs und Esel, die karge Herberge, die winterliche Kälte und die bettelarmen Hirten. Insgesamt ein Armutsidealbild, das am lk. Weihnachtsevangelium wenig Anhalt findet. Von vielem, das die fromme Phantasie des 19. Jh. (und anderer Epochen) sich erdacht hat, steht im Text nichts. Lediglich die Krippe wird erwähnt, aber ob das göttliche Kind je auf Heu und auf Stroh gelegen hat …? Eher dürfte Josef, der Zimmermann, in seinem technischen Geschick aus den zur Verfügung stehenden Materialien ein kleines Kindbett gezimmert haben, das dann zum Zeichen wird, denn vor allem diese Funktion hat die Erwähnung der Krippe als Besonderheit bei Lk.: messianisches Erkennungszeichen für die Hirten zu sein (vgl. V. 12 + 16).
Diakonische Ökonomie und Heilsökonomie
Könnte es also sein, dass mit der „Armut Christi“ gar nicht die materielle Armut gemeint ist? Zunächst einmal legt Paulus das Gegenteil nahe. Die Erwähnung des „reichen“ Christus, der um der Menschen willen „arm“ wurde, geschieht immerhin im Kontext einer Werbebotschaft für eine Spendensammlung zugunsten der Gemeinde in Jerusalem. Wir lassen die Spekulationen darüber, weswegen diese Sammlung nötig war, einmal außen vor. Bedürftigen zu helfen und sie finanziell zu unterstützen, ist – so oder so – ein zentrales Thema an Weihnachten mit seinen traditionellen Sammlungen für „Brot für die Welt“ oder andere Hilfswerke. Verfügbare Eigenmittel mit anderen zu teilen, um deren Bedürftigkeit abzuhelfen, ist von Anfang an das Kerngeschäft christlicher Nächstenliebe und Diakonie.
Paulus wirbt um eine Großzügigkeit in monetären Dingen und verweist auf das Beispiel Christi. Dass er dabei jedoch an eine finanzielle Armut Christi gedacht habe, ist eher unwahrscheinlich, denn ebenso wenig dürfte die Rede vom „Reichtum“ Christi (V. 9) im monetären Sinne zu verstehen sein; und gänzlich schräg wird diese Assoziation am Ende von V. 9: „auf dass ihr durch seine Armut reich würdet.“ Ums Geld geht es dabei zuletzt.
Was aber dann? Der Schlüssel der Heilsökonomie Gottes liegt wohl im Begriff der Gnade, und „Gnade“ heißt hier „Geschenk“, „Zugewandtheit“, Freigiebigkeit“, „Teilhabe“. Christus ist bei Gott und in seiner Gemeinschaft mit Gott der Fülle des Heils teilhaftig – und eben dies behält er nicht für sich, sondern teilt es aus unter denen, in deren Mitte er lebt. Ja, weitergehend vom Gedanken der Inkarnation her: in Christus wird Gott in seinem unerschöpflichen Reichtum Teil der Menschenwelt und bringt diesen Gnadenglanz in deren Alltag.
Das kann nun viele Gesichter haben, und die paulinische Konkretion in Richtung auf eine diakonische Freigiebigkeit ist keineswegs verkehrt, aber eben auch nicht die einzige Fokussierung. Alles andere wäre eine Engführung. In Christus begegnet uns genauso ein Gott, der für uns Menschen Zeit hat, der sein Herz für uns öffnet, der zuhört und heilt, der sich erbarmt, Mitleid übt, tröstet, Wunden verbindet und Brüche schient, soziale Isolation auflöst, Tischgemeinschaft pflegt, Lebenswege orientiert und der Vergänglichkeit des Lebens einen Sinn und Wert abtrotzt. Für diese unentwegte Gabenvielfalt steht das Bild vom „reichen“ Christus, der sich um unseretwillen „arm“ macht, will sagen: nichts für sich behält als sein Privileg und Verdienst, sondern teilt und schenkt und freigibt.
Chronist der Schlichtheit
Für mich verbindet sich darum mit dem Stichwort der „Armut“ Christi die „Schlichtheit“, und um alle Missverständnisse in Richtung einer „Ärmlichkeit“ hinter sich zu lassen: die Schlichtheit in ihrer einfachen Anmut und Schönheit. Dafür suche ich an diesem Feiertag ein sinnreiches Bild und finde es in einem Gemälde des oberschwäbischen Malers Jakob Bräckle (1897-1987).
Bräckle wurde in Winterreute, einem Dorf in der Nähe von Biberach/Riß geboren, hat in Stuttgart an der Kunstgewerbeschule und an der Kunstakademie studiert, gehörte von 1924 der „Stuttgarter Sezession“ und später dem „Deutschen Künstlerbund“ an. Abgesehen von einigen wenigen Reisen – die weiteste führte ihn nach Norwegen – lebte und arbeitete er in Oberschwaben.
Sein Schaffen kreist im Wesentlichen um zwei Themen: die Landschaftsmalerei seiner Heimat und die Darstellung landwirtschaftlichen Lebens und Arbeitens. Man kann ihn, über die Jahre aller politischen und militärischen Umbrüche hinweg, als Chronist eines einfachen und schlichten Landlebens in der Naturverbundenheit bäuerlichen Daseins bezeichnen. Sein malerischer Gestus ist anfangs eher realistisch, später nimmt er Anregungen aus der naiven Phase eines Marc Chagall, die Expressivität van Goghs oder den Symbolismus des frühen Edvard Munch auf. Die deutlichste Akzentverschiebung ereignet sich jedoch in 1950er Jahren, als er mit der Kunst Kasimir Malewitschs in Kontakt kommt: fortan stilisiert er seine Motive mehr und mehr in die Abstraktion.
Ein einfacher Schuppen als Herberge
Eines seiner Spätwerke ist das 1980 entstandene Gemälde „Roter Schuppen im Schnee“1: fünf Farbflächen, sehr reduziert auf rechteckige bzw. trapezartige, zum Teil sich überschneidende Formen, dazu vier Farbwerte: zwei weiß-bläuliche, zwei rötlich-braune. Ein Hauch von einem Bild! Und doch: auch ohne den Titel drängt sich dem Auge das Objekt eines einfachen Holzschuppens mit schneebedecktem Dach sofort auf.
Ohne dass Bräckle dies beabsichtigt hätte – für mich könnte es die Herberge der Geburt Christi sein. Eine Art Krippenszene von hinten, dazu noch nur angeschnitten, halb aus dem Blickwinkel geraten. Gerade dieser Anschnitt und die rückwärtig scheinende Ansicht setzen Leerstellen frei, über die das Bild zu füllen ist. Ich trage (m)eine Weihnachtsszene in dieses Ambiente ein. Es wird für mich zum Ausdruck einfacher, aber anmutiger und schöner Schlichtheit. Die Unaufgeregtheit der Szenerie, die stille Beschaulichkeit, die Unbeweglichkeit des Objekts – all dies bietet sich mir als Meditations- oder Andachtsbild geradezu an. Hier herrscht Schlichtheit vor, und doch scheint die Weltzeit für einen Augenblick innezuhalten, stillzustehen. Eine unbedeutende Lokalität, eine absolute Marginalie der Weltgeschichte, und doch ein Magnet meiner Sinne. So könnte sie für mich aussehen: die Hütte Gottes bei den Menschen (Offb. 21,3); der Ort, an den Jesus seine Jünger mit den Worten „Kommt und seht“ einlud, als sie ihn fragten: „Meister, wo ist deine Herberge?“ (Joh. 1,38f); die Gegenwart göttlichen Gnadenreichtums im Gewand eines ebenso einfachen wie elementaren menschlichen Lebens.
Peter Haigis
Anmerkung
1https://www.galerie-bayer-bietigheim.de/fileadmin/user_upload/Br%C3%A4ckle-Roter-Schuppen-im-S.jpg.