Zeit palliativ denken – „Der du die Zeit in Händen hältst“ (EG 64)
Es geht um die Beschaffenheit (V. 14 poios) der menschlichen Zeit: Die Zeit der Entscheidungen, des Jetzt (V.13 nun) und des Gleich. Die vergehende Zeit zwischen Gegenwart und Zukunft (semeron e aurion). Die überschaubaren Zeiträume bzw. der Zeitraum eines Jahres (V. 14 eniautos). Die Zeit des Unterwegsseins und des Tuns (V. 13.15 poieo). Die Zeit des Handelns und des Gewinnmachens (vgl. Konradt, 150f).
Kritisch werden diese Zeitphänomene beurteilt: wie vergehender Dampf ist die Zeitlichkeit dieses Lebens (V. 14 atmis). Eine christliche Existenz soll dagegen (V. 15 anti) andenken. Unsere Lebenszeit ist von Gottes Willen abhängig. Sub conditione Jacobaea (s.c.j.) sollen die Christinnen oder Christen demütig und hoffnungsvoll leben. Das heißt also die Zeit von einer Konditionierung, von ihrer Begrenztheit, von der Endlichkeit der Lebenszeit her zu denken. Eben palliativ auf die eigene Lebenszeit zu schauen. Und so der Ratschlag in den Versen 16f: „Statt die Zeit mit Selbstruhm zu verschwenden, sollten gute Projekte in Angriff genommen werden.“ (Heckel, 63)
Am Zeitbeginn des bürgerlichen Jahres mahnt also der Jakobusbrief (vgl. 1,17f). Das kirchliche Jahr denkt auch anders: Von der Zeit des Advents Gottes her. Und im Leben Jesu ist der 8. Tag der Tag seiner Beschneidung, also Volkszeit!
Zeit palliativ leben – „Hilf, Herr Jesu, lass gelingen“ (EG 61)
Mit der Beschaffenheit der Zeit, geht es um unsere Lebensführung (V. 14f zoe; zao; vgl. 1,19ff; 2,14ff). Cecil Saunders, die Begründerin der Hospizbewegung und einflussreiche Impulsgeberin für palliative Pflege und Medizin hat einmal gesagt: „Es geht nicht darum, dem Leben mehr Tage zu geben, sondern den Tagen mehr Leben.“ Das bedeutet gerade nicht, das Leben gewinnmaximierend auszukaufen, dahin oder dorthin zu entfliehen oder möglichst viel zu konsumieren und zu tun. Es geht um das achtsame Hören auf das eigene Leben, um das Offensein für eine nicht planbare Zukunft, um die Akzeptanz der Erschütterung der Selbstsicherheit, um die Machtlosigkeit in der Gestaltung des Lebens angesichts dessen tödlicher Vergänglichkeit (V. 14 atmis).
Über ihre Arbeit im Hospiz schrieb Saunders: „Die wichtigste Grundlage für St. Christopher’s ist die Hoffnung. Die Hoffnung […] wie wir die Patientinnen und Patienten besser verstehen und sie so aus ihrer Einsamkeit befreien können, und auch, wie wir schweigen, wie wir zuhören und einfach da sein können. Wenn wir das lernen, werden wir auch merken, dass die wirkliche Arbeit nicht durch uns allein geleistet wird.“ (14; vgl. 5,13ff)
Zeit palliativ empfangen – „Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt“
Beim Wiegenlied „Guten Abend, Gute Nacht“ sind Kinder manchmal schon eingeschlafen, und die Eltern ziehen die Zudecke ein wenig höher oder richten sie. Sie kleiden das Kind mit dem Pallium der Nacht. Die Decke steht für mich für das Pallium Gottes, SEINEN Schutz, Segen, Bewahrung und Begleitung durch die Nacht, SEINE behütete Zeitlichkeit. Wer mag, kann hier an den Schutzmantel Mariens erinnert werden.
Viele Figuren des Künstlers Ernst Barlach tragen einen Mantel, ein pallium. Er gibt ihren Körpern nicht nur einen Schutz vor den Einflüssen der Welt, er verleiht auch eine einzigartige Würde. Und wer mag, kann hier an das pallium des Papstes, an sein Amtszeichen, erinnert werden. Diese Bemantelung des Lebens schützt sie und macht sie schön. Das habe ich bei einem Besuch im Barlachmuseums und seinem Atelier in Güstrow so erlebt. Mit dem (Schutz)mantel bekommen die Figuren auch eine besondere Zeitlichkeit: Es ist nicht der Chronos der an ihnen nagt, sondern der Kairos der Liebe Gottes, der bleibt.
Vielleicht hilft es uns, die Zeit als Gotteszeit zum Jahresbeginn als einen Schutzmantel Gottes zu verstehen, als Empfangende, deshalb Zufriedene und Glückliche, als nicht durch Vorsätze und Planungen Gestresste, sondern als auf Gottes Willen und Liebe Hoffende und Vertrauende angesichts der Offenheit des Jahres.
Vielleicht lässt sich sogar eine Brücke zum Fest der Beschneidung und Namensgebung Jesu schlagen. Für Jesu beginnt die Zeitlichkeit der Zughörigkeit zum Volk Gottes. Und die Zeitlichkeit seines Volkes ist nicht einfach vom Chronos geprägt, sondern vom Kairos messianischen Denkens (5,7ff), von der Heilszeit. Und diese beginnt mit einer körperlichen Verletzung, der Beschneidung – eine fast palliative Situation: Der Eingriff in den Körper und das Pallium des Volkes Gottes!
Einfacher ist es bestimmt, sich über den persönlichen Zeitmantel Gottes Gedanken zu machen. Über persönliche Modewünsche, Materialien und Farben, Accessoires und Schmuck usw. – alles aber s.c.j. In der Palliativstation im Klinikum Nürnberg-Nord steht eine „Pallia-Diva“: Es ist eine von Franziska Zelmer gestaltete Figur einer Krankenschwester der „Palli“, die einen Mantel zum Anziehen hinhält. Und wir hoffen, dass Gott will, dass er uns den Morgenmantel reicht, all Morgen frisch und neu (EG 440). So wie er damals gnädig und sorgend den ersten Menschen „Röcke von Fellen“ (1. Mose 3,21) machte.
Literatur
Heckel, Theo K., Die Briefe des Jakobus, Petrus, Johannes und Judas, NTD 10, Göttingen 2019
Konradt, Matthias, Christliche Existenz nach dem Jakobusbrief. Eine Studie zu seiner soteriologischen und ethischen Konzeption, SNTU 22, Göttingen 1997
Saunders, Cicely, Der Horizont ist nur die Grenze unserer Sicht. Eine persönliche Sammlung ermutigender Texte für Palliativ Care und Hospizarbeit, hrsg. v. Holder-Franz, Martina, Zürich 2015.
Johannes Wachowski