Der Kasus: Altjahresabend 2023

Wer am Altjahresabend in den Gottesdienst geht, sucht gezielt eine Zeit des Innehaltens und Bilanzierens. Es ist sorgfältig zu bedenken, wie die Predigt im Gesamtkontext des Gottesdienstes einen Raum bieten kann, in dem Menschen sich den Ambivalenzen des Daseins stellen, Belastendes im Angesicht Gottes anschauen und mit gestärktem Vertrauen sowie Hoffnung auf Gott in das neue Jahr gehen – angesichts nicht zu unterschätzender Herausforderungen.

Die Predigt kann in diesem Jahr meines Erachtens nicht von der äußerst angespannten weltpolitischen Lage absehen. Die Fragilität des Friedens ist mit Händen zu greifen. Die Dimension der Gewalt und Brutalität in dem jüngsten Nahost-Konflikt beunruhigt zutiefst. Wie werden die Zeichen am Altjahresabend stehen?

Exegetische Erträge

In unserer Perikope werden grundlegende Erfahrungen und Widerfahrnisse geschildert und reflektiert, bemerkenswerterweise ohne sie gleich zu bewerten. In der Tradition der kritischen Weisheit und unter dem Einfluss altorientalischer und hellenistischer Traditionen zeigt sich eine philosophische Reflexion, in deren Zuge ganz unterschiedliche Themen anklingen: Lebensgestaltung zwischen Geburt und Tod, Lebenssinn, Glück, Schicksal, Zeit und Zufall, Zeit und Ewigkeit, Frieden als Zielzustand, Gott, dessen Tun dem Menschen in großen Teilen verborgen ist.

Martin Luthers Übersetzung ist mit anderen Übersetzungen, z.B. Buber/Rosenzweig, Zürcher, Otto Kaiser ins Gespräch zu bringen. Gerade V. 10 ist in der Übersetzung Martin Luthers, anders als im hebräischen Text, negativ konnotiert.

Predigtspuren

In der Spur der biblischen Perikope würde ich die Herangehensweise Kohelets aufgreifen, das Dasein, so wie es für den einzelnen Menschen aber auch im Kollektiv der Menschheit erfahrbar ist, zu bedenken und in einen größeren Kontext (Transzendenz, Gott) zu stellen. Dabei besteht das Ziel nicht darin, für alles eine befriedigende oder schlüssige Erklärung, sondern einen Umgang mit den Ambivalenzen des Lebens zu finden.

So können die Hörer*innen den Blick auf das Gewesene lenken und dies im Angesicht Gottes bedenken. Dabei dürfen und sollen krumme Wege krumm und Fragen bestehen bleiben. Es geht vermutlich nicht nur mir schwer über die Lippen, dass es eine Zeit zum Töten gibt. Diese Erfahrung kann ich nicht mit einer göttlichen Absicht in Einklang bringen und ich muss es auch nicht.

Die Einsicht in die menschliche Begrenztheit kann durchaus einem inneren Frieden den Weg bereiten. Kohelet buchstabiert durch, was es heißt und wie es sich anfühlt, in ein größeres Ganzes eingebettet zu sein, ohne alle Verbindungen durchschauen zu können. Die heutzutage vielbeschworene Autonomie des Individuums erzeugt nicht nur großen Druck, sondern auch Einsamkeit und erweist sich bei genauem Hinsehen trotz der vielen modernen Errungenschaften als Chimäre. Es gibt gerade im Annehmen der menschlichen Begrenztheit und Angewiesenheit eine Ahnung von Gottes Ewigkeit, die Hoffnung freizusetzen vermag. Solche Hoffnung haben wir alle für das neue Jahr bitter nötig. Sie gründet nicht in uns Menschen, sondern in Gott, der alles, was geschieht, umfängt.

Sehr passend finde ich das Gedicht „So viel Schönes“ von Hermann Hesse, das den Blick auf die vielen großartigen Geschenke, die in kleinen, oft übersehenen Begebenheiten stecken, lenkt und nicht nur der Reflexion, sondern auch der Sehnsucht nach Heimat bzw. Schalom Raum gibt. So machen sich vielleicht manche auf den Weg, Gott (neu) zu entdecken.

Anregungen zur Liturgie

Schriftlesung: Mt. 13,24-30 oder Röm. 8,31b-39

Psalm: Ps. 31

Liedvorschläge

„Schenk uns Zeit“ („Wo wir dich loben, wachsen neue Lieder“, Nr. 75)

„Du bist der Atem der Ewigkeit“ (ebd., Nr. 23)

„Verleih uns Frieden gnädiglich“ (ebd., Nr. 202)

EG 64 „Der du die Zeit in Händen hast“

Literatur

Die Schrift. Verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig, Bd. 4, Stuttgart 1962

Alexander Deeg/Andreas Schüle, Die neuen alttestamentlichen Perikopentexte. Exegetisch und homiletisch-liturgische Zugänge, Leipzig 52021, 130-136

Otto Kaiser, Kohelet. Das Buch des Predigers Salomo. Übersetzt und eingeleitet, Stuttgart 2007

Annette Schellenberg, Kohelet, Zürcher Bibelkommentare AT 17, Zürich 2013

Ludger Schwienhorst-Schönberger, Kohelet, HThK AT, Freiburg i.Br. 2004

Hermann Hesse, Es gibt so Schönes: https://www.deutschelyrik.de/es-gibt-so-schoenes.html (abgerufen am 11.10.2023)

Anja Wessel