Analogien
Eine dramatische Geburtsgeschichte, die zahlreiche Analogien zur Geburtsgeschichte Jesu aufweist. Beide Knaben – Mose und Jesus – werden in eine Zeit hineingeboren, in der Israel von der jeweiligen Weltmacht, erst Ägypten, dann Rom, unterdrückt und gedemütigt wurde. Zur Zeit des Mose drohte sogar die Vernichtung, der Holocaust, des ganzen Volkes. Beide Male stellte sich die Frage nach einem Retter, der Israel aus der lebensbedrohlichen Knechtschaft zu befreien vermochte.
Wie der Predigttext die Ursprünge des Mittlers des ersten Bundes Gottes mit seinem Volk erzählt, beschreibt die Weihnachtsgeschichte die Ursprünge des Mittlers des zweiten Bundes. Beide Male wird die Geburt des Retters dabei von Wundern flankiert. Es scheint so, als ob damit das in die Welt eingehende Geheimnis Gottes umhüllt werden sollte. Zur Zeit der Geburt des Mose waren im Alten Orient eine Reihe von Erzählungen über die Herkunft mächtiger Herrscher im Umlauf, die manche Züge mit der Geburt und Errettung des Mose gemeinsam hatten. Auffällig ist beim Vergleich die Schlichtheit und der unmythologische Realismus der Geburtsgeschichte des Mose, wobei der biblische Realismus die Möglichkeit des wunderbaren Wirkens Gottes nicht ausschließt.
Das Mitleid der Pharaonentochter
Die Mutter des Mose – sie wird im Predigttext als die eigentlich Aktive beschrieben – freut sich unbändig über ihren erstgeborenen Sohn: „Sie schaute das Kind, dass es schön war“ – so wie Gott nach der Erschaffung des Lichts „schaute, dass es schön war.“ Ihre Freude als Mutter erweist sich stärker als ihre Furcht vor den Terrorandrohungen des Pharao, so dass sie ihr Kind, so lange es ging, bei sich zu Hause verbirgt und ihm schließlich zur Rettung eine kleine Arche baut. Ihr Gottvertrauen zeigt sich besonders darin, dass sie das Kind den unberechenbaren Fluten des Nil anvertraut. Ihr gleichzeitiger gläubiger Realismus wird daran erkennbar, dass sie die Tochter als Beobachterin am Ufer des Flusses postiert. Es geschieht das Wunder, dass ausgerechnet die Tochter des Pharao das Kind findet und – anders als ihr Vater – von Mitleid mit dem weinenden Knaben erfasst wird. Im Mitleid der Pharaonentochter verbirgt sich der Rettungswille Gottes. Erneut lässt sich beobachten, was bereits in der Josefsgeschichte zur Rettung Israels geschah: „Ihr gedachtet es böse … zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen“ (1. Mose 50,20).
In diesem Zusammenhang zeigt sich eine grundlegende Eigenschaft des biblischen Gottes: Gott geht nicht einfach kalt triumphierend über seine Feinde hinweg. Vielmehr überwindet er das Herz seiner Feinde, wie das Mitleid der Pharaonentochter zeigt. Und damit noch nicht genug: Gott bedient sich gerade des Vernichtungsplans der Feinde seines Volkes Israel, um den eigenen Rettungsplan durchzusetzen und macht ihn damit zunichte. Die Tochter des Todfeindes Israels wird zur Mutter des Retters. Ihr Haus, die Familie des Pharao, wird zum Zufluchts- und Ausbildungsort des Mose, des Retters Israels aus der ägyptischen Sklaverei.
Noch ein Wort zum Namen des Mose. Er bedeutet im Ägyptischen soviel wie Sohn und kommt sowohl als Eigenname als auch in Verbindung mit dem Namen von berühmten Pharaonen (wie etwa Thutmosis) vor. Für hebräische Ohren erinnert der Name an „maschah“ – „ziehen“ – und meint so viel wie „Herauszieher“: eine Anspielung auf die Aufgabe, die Mose eines Tages im Hinblick auf das Volk Israel erfüllen wird.
Beim ersten Blick als die schlichte Geburtsgeschichte eines Knaben in einer Situation höchster Bedrohung Israels erweist sie sich bei näherem Hinsehen als grandiose Rettungsgeschichte voller theologischer Bezüge. Auf aktuellem Hintergrund neu gelesen, wird besonders das Hoffnungspotenzial deutlich, das in der Geschichte steckt.
Peter Zimmerling