Weihnachtliches Lagerfeuer

Kirchenleitungen intonieren inzwischen sogar im Süden vielstimmig den Abgesang auf die Volkskirche. Rituale verschwinden. Das letzte samstägliche Fernseh-Lagerfeuer ist erloschen. Viele Selbstverständlichkeiten kommen an ein Ende. Weihnachten aber lebt.

Auch in diesem Jahr werden generationen- und milieuübergreifend erstaunlich viele Menschen auf die Geburtsgeschichte hören. Auch wer ansonsten für Kirche und Glauben nicht einmal mehr ein müdes Lächeln übrighat, zieht mit. Vielleicht kommen in den Zeiten von Terror und Krieg – jetzt auch noch in Israel – sogar noch mehr hinzu. Diese außergewöhnliche Gemeinde sammelt sich um die Erzählung der Geburt Jesu wie um ein wärmendes Feuer. Wohl auch in der Hoffnung, innerlich berührt und gestärkt zu werden. Wohl auch mit der Sehnsucht, dass – wenn auch nur für eine kurze Dauer – es wirklich Friede werde.

Warum ist Weihnachten sowohl in den Gottesdiensten als auch in den Familien immer noch so lebendig? Denn eigentlich sind, wie es so schön heißt, „ritualisierende Interaktionsformen“ out, stattdessen sind Authentizität und subjektives Erleben angesagt.

Lukas sei Dank

Der Evangelist Lukas hat sicherlich wesentlichen Anteil an der Vitalität von Weihnachten. Es braucht schon viel Phantasie, um sich vorzustellen, wie ein Weihnachtsritual nach Paulus (Gal. 4,4) oder Johannes (1,1ff) aussehen könnte. Auch die koranische Geburtsgeschichte, die in der Sure 19 überliefert ist, wäre kaum für eine Inszenierung geeignet. Der geschichtlich-konkrete Raum spielt ebenso wenig eine Rolle wie die heilsgeschichtliche Bedeutung der Geburt. Im Zentrum steht ausschließlich das besondere Zeichen Gottes an einer jungen Frau, die ohne Mann ein Kind empfängt.

Nur 18 Sätze braucht der Evangelist. Durch Martin Luther werden die Worte zu Musik. Wie und was da erzählt wird, ist von allerfeinster literarischer Qualität. Es gehört zum Kanon der Weltliteratur. Kein Wort zu viel, jede Zeile gefüllt mit elementaren Erfahrungen wie Macht und Ohnmacht, Gefährdung und Geborgenheit. Zeitlose Themen wie etwa Steuern, Suche nach einer Bleibe oder auch Schwangerschaft kommen zur Sprache. Und mittendrin das Herz von Weihnachten: Euch ist heute Heiland geboren. Frieden ist mit ihm angesagt.

Kurios ist dabei das Narrativ, dass der Messias ganz unten in tiefster Armut in einem Baby erscheint. Was da „elend, nackt und bloß“ in der Krippe strampelt, ist der Retter. Das ist eine Provokation. Damals wie heute. Etwas im Hinblick auf die „Messiasse“, die dieser Tage im Learjet vom Himmel herabschweben oder sich stolz mit ihrem fitnessgestählten Körper präsentieren. Tagtägliche Erfahrungen werden mit dieser Geburt auf den Kopf und dadurch in Frage gestellt. Eine neue Wirklichkeit wird geschaffen, die damit auch eine reale Möglichkeit ist. Was bedeutet: Eine andere Welt ist von nun ab möglich. Denn eine wirkliche Zeitenwende hat sich ereignet.

Lukas lässt viele inhaltliche Lücken und schafft damit Raum für eine Weitung der Erzählung, zahllose Reinszenierungen sind dadurch entstanden. Die altvertraute Geschichte bekommt so gegenwärtige Bedeutung. Nachhaltig wirkt darüber hinaus auch, dass ein erheblicher Teil der Gottesdienstbesucher*innen spielend schon Engel, Hirte, Josef oder sogar Maria war. Viele kennen den Text in- und (vielleicht sogar) auswendig. Die Teilnahme am Krippenspiel schafft somit eine lebenslange, generationenübergreifende Identifikation mit der Geschichte.

Weihnachten lebt. Darüber sollten sich auch die freuen, die eher skeptisch oder gar missmutig darauf schauen. Rituale machen aus der Welt einen verlässlichen Ort. Sie stabilisieren das Leben, indem sie Werte und Ordnungen präsentieren, die eine Gemeinschaft tragen. Dass an Weihnachten Liebe und Frieden aufgeführt werden, haben wir gerade in diesem Jahr alle bitter nötig.

„Amo: volo ut sis“

Die Schöpfung stöhnt unter der Last von uns Menschen. Friede ist ein Fremdwort geworden. Gerade in der Region, in der Jesus geboren wird, herrscht unsägliche Gewalt. Auch die Kirchen kriseln. Sie wirken bei vielen existentiellen Themen sprachlos, manchmal auch irgendwie verbraucht und müde. Vermutlich sind sie viel (zu sehr?) mit sich selbst beschäftigt, was viel Energie verschlingt. Vielleicht fasst ein Satz zusammen, was derzeit auf viele Lebensbereiche zutrifft. Es geht nicht mehr so weiter wie bisher. Das ist, das macht traurig.

Es tut von daher gut, in Zeiten vielfacher Krisen auf die lukanische Geburtsgeschichte zu hören. Vieles zeigt derzeit in Richtung Ende. Weihnachten aber verkörpert einen Anfang. Inspirierend sind dabei die Gedanken der jüdische Philosophin Hannah Arendt. Sie vollzieht einen existentiellen Paradigmenwechsel. Statt das Leben als Dasein zum Tode zu verstehen, betrachtet sie das Dasein vom Geborensein aus. Tief angerührt durch die Weihnachtsgeschichte schreibt sie: „Uns ist ein Kind geboren. Nirgends ist es knapper und schöner ausgedrückt, dass man in der Welt vertrauen haben und für sie hoffen darf als in diesem einen Satz“. Die Geburt ist ein Wunder, das den Lauf der Welt und den Gang der Geschichte immer wieder unterbricht. Die Geburt ist der Beginn eines neuen Lebens, das wiederum völlig Neues schaffen kann. Natürlich ist die Geburt ein einmaliger Vorgang, doch die „Natalität“ (die Geburtlichkeit) bleibt uns wesentlich ein Leben lang. Trotz aller schrecklichen Dinge, die geschehen sind oder noch passieren werden: Jeder Mensch hat immer die Chance, neu zu beginnen, es anders zu machen.

Mit dem neugeborenen Kind setzt Gott einen neuen Anfang. Augustinus hat diesen in die schönen Worte gefasst: „Amo: volo ut sis“. Ich liebe dich, ich will, dass du bist. Das gilt einem jeden Menschen. Nicht nur denen, die wir sympathisch finden, auch den Unsympathischen. „Ich will, dass du bist“: Das gilt auch den Gewalttätern, die nach menschlichem Urteil ihr Leben verwirkt haben. „Ich will, dass du bist“: Das gilt auch Kindern, die eben geboren sind und weiterhin Gottes wunderbare Schöpfung erleben wollen. „Ich will, dass du bist“: Das gilt auch den Flüchtlingen auf den Booten im Mittelmeer. „Ich will, dass du bist“: Das gilt auch einer Kirche, die vieles aufgeben muss, sich manchmal auch selbst aufzugeben scheint.

Nicht dem Tod, der viele Schatten mitten hinein ins Leben wirft, sollen wir glauben und vertrauen. Sondern dem neuen Anfang, der mit der Geburt Jesu Wirklichkeit wird und Licht in die Zukunft wirft. Es geht weiter, wir können auch anders. Denn ich will, dass du bist.

Quellen:

Byung-Chul Han, Vom Verschwinden der Rituale, Berlin 2019

Hannah Arendt, Vita activa. Oder vom tätigen Leben, München (Piper) 1981

Eva von Redecker, Bleibefreiheit, Frankfurt/M. 2023

Karl-Josef Kuschel, Die Bibel im Koran, Ostfildern, 2017

Dieter Kümmel