Eine doppelte Herausforderung
Eine vermutlich volle Kirche, viele Menschen, die sonst eher nicht in die Gottesdienste kommen – und als Predigttext nichts vordergründig „Weihnachtliches“, sondern Paulus, der eher für trockene Theologie bekannt ist. Das kann die Chance sein für all die, denen Glitzer, Kommerz und Süßlichkeit auf die Nerven gehen.
Die zweite Herausforderung wird die sein, dass das „und Friede auf Erden“ in eine Zeit fällt, in der mehr von Krieg die Rede ist als noch vor zwei Jahren. Noch dazu Krieg im „Heiligen Land“. Aber auch zur Zeit der Geburt Jesu wurde der Friede der Weihnachtsgeschichte in die „pax romana“ in einem besetzten Land hineingesprochen. Auch im Jahr 2023 muss also gepredigt werden, was ist.
Beobachtungen zum Text
V. 4+5: Weihnachten in Kurzform, inkl. soteriologischer Deutung. Kein Engel, kein Stall, kein Glanz. Es ist sozusagen die Arbeitsversion von Weihnachten, die Rückseite von Lk. 2 – die Antwort auf die Frage „Wozu das Ganze?“ Und das, gut paulinisch, in einem Satz.
Als die Fülle der Zeit gekommen war: eine Zeitenwende der anderen Art. Nicht hin zum Krieg, sondern hin zur Freiheit. Gott sandte seinen Sohn mitten hinein in alle menschlichen Zusammenhänge, damit die Mit-Menschen dieses Sohnes sich freimachen können von „Erziehern“ (3,25), „Verwaltern“ (4,2), „Mächten, die diese Welt beherrschen“ (4,3), Göttern (4,8) und dem „Gesetz“ (4,5). All dem steht die Bindung an den Sohn und damit an den einen wahren Gott (4,9) als Alternative gegenüber. Im Welt- und Menschenbild des Paulus ist dies die einzige echte Alternative. Der Mensch ist an etwas gebunden, die Frage ist nur: was? „Nichts“ gibt es nicht.
Man kann die Begriffe modernisieren: Sachzwänge, Abhängigkeiten, ideologische oder religiöse Verblendung, internationale Verstrickungen, geopolitische Notwendigkeiten, Machtstreben, Bedürfnisse aller Art, Privilegien, Beschädigungen und vieles(!) mehr, das man gut begründen kann. Wer mit offenem Herzen die Nachrichten verfolgt, steht bald vor der Frage: Woher sollen wir die Kraft nehmen, es mit dieser Welt aufzunehmen? Was ist anders – oder könnte anders sein, nachdem der Sohn von einer Frau geboren wurde?
V. 6 weist in Richtung einer Antwort: den Töchtern und Söhnen Gottes wohnt sein Geist inne, der eine innige („Abba“) und feste Bindung an Gott bewirkt. Nicht mehr gebunden an alles andere, sondern Tochter, Sohn – und Erbe Gottes (V. 7).
„Erbe“ – das schmeckt nach Zukunft, und ich deute das als Bild dafür, dass die Zugehörigkeit zu Gott Kraft entfalten wird in dem, was vor uns liegt.
Was soll jetzt anders sein?
„… und doch ist da draußen keine neue Welt!“ – das schleudert in einem Film ein tief frustrierter Petrus Maria Magdalena entgegen, als die mit der Auferstehungsbotschaft zu den Jüngern kommt. Ein Satz, den wohl jeder nachvollziehen kann, und den man mancher Predigt entgegenschleudern möchte. Was soll da jetzt, bitteschön, anders sein??
Ich möchte das eine Persönlichkeit fragen, die in besonderer Weise mit der scheinbaren Aussichtslosigkeit gekämpft hat: Martin Luther King.
In einer seiner Predigten1 habe ich einen Satz gefunden, der zu unserer „Rückseite von Weihnachten“ passt: „Der Glaube öffnet Gott die Tür zur Arbeit für den Menschen“. Auch für King war da draußen nicht plötzlich eine neue Welt ohne Gewalt, ohne Hass, ohne Diskriminierung. Er wurde ermordet für seine Hoffnung auf eine Welt, vor der Weiße Angst hatten. Und doch verwehrt er seinen Zeitgenossen das einfache Warten darauf, dass Gott es da draußen anders macht. Er lehrt seine Zuhörer, dass es der Glaube an den Veränderung wollenden Gott ist, der Menschen befähigt, für die andere Welt da draußen einzutreten. Mit Gabriel Marcel ist King der Ansicht, dass der Glaube die Fähigkeit des Menschen ist, Gottes Willen anzunehmen. Damit ist ein Weg offen, der die Welt „da draußen“ nicht mehr fatalistisch so sein lässt. „Das Heil der Menschheit wird nur kommen, wenn der Mensch die Gaben Gottes willig annimmt.“ Denn: „Kein Problem wird gelöst, wenn wir träge darauf warten, dass Gott allein sich darum kümmert.“
Dazu wurde der Sohn Gottes von einer Frau geboren und in die Notwendigkeiten seiner Zeit gestellt: damit Töchter und Söhne Gottes mit seinem Geist im heißen Herzen diese Welt da draußen nicht sich selbst überlassen, sondern sich befähigen lassen im Glauben zur Arbeit für den Menschen.
Dörte Kraft
Anmerkung
1 Martin Luther King jr., Kraft zum Lieben. Betrachtungen und Reden des Friedensnobelpreisträgers, 1974, 197. (Antwort auf eine verwirrende Frage, Predigt über Mt 17:19).