Predigtimpuls 1: Türen öffnen
Dynamischer geht es kaum. Ps. 24 eröffnet die Adventszeit und das neue Kirchenjahr. Mit einem doppelten, kräftigen Cantus firmus steigt der Psalm ein in die Dynamik der Ankunft Jesu Christi. Zweimal fordert der Psalm uns auf, unsere Tore der Herzen und Türen in der Welt einander und Gott zu öffnen: „Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch, dass der König der Ehre einziehe!“ (V. 7; 9). Mitreißen wollen uns diese Worte, uns bewegen, beweglicher zu werden, Altes zu öffnen und neue Wege einzuschlagen. Wer könnte sich solch einer Aufforderung ernsthaft entziehen?
Ehrlich gesagt, ich habe Bedenken! Ich meine, dass der Predigttext den Menschen und unsere Gesellschaft als zu optimistisch einschätzt. Aktuell, in der Zeit nach der Pandemie, erlebe ich viele Gedanken und Umstände als festgefahrener denn je. Das kommende Weihnachtsfest ist das erste „nach Corona“. Die Advents- und Weihnachtszeit ist die Zeit der „schönen heilen Welt“ mit Plätzchenbacken für die Kinder, dem Einkauf vieler überflüssiger Geschenke und der Planung durchritualisierter Familienevents des Heiligabends, bei denen selbst der früher traditionelle Weihnachtsgottesdienst mittlerweile kaum mehr Platz findet. Viele sehnen sich nach einer glitzernden, watteweißen Welt. Nach Corona, mit all seinen Entbehrungen, mehr denn je.
Predigtimpuls 2: Ein ruhiges Bild
Nun, ich hadere mit dem Predigttext. Ich liebe seine Dynamik, empfinde diese aber zugleich als wirklichkeitsfremd und überfordernd (auch mich selbst). Da fällt mir beim Aufräumen, rein zufällig, eine Postkarte in die Hände. Auguste Rodin, La Cathédrale, 1908, (https://www.musee-rodin.fr/musee/collections/oeuvres/cathedrale). Ich schätze die Skulpturen von Rodin außerordentlich und insbesondere diese eine der Kathedrale. Die jeweils rechten Hände von zwei Menschen begegnen sich hier. Sie formen eine gotisch inspirierte Kathedrale. Ihr Kennzeichen ist der freie, offene Innenraum zwischen den Händen. Der Blick des Betrachters drängt danach, den offenen Raum zwischen den Händen aus immer wieder neuen Perspektiven gedanklich zu durchmessen und zu durchdringen.
Jeder Gottesdienstbesucher erhält zu Anfang eine Karte von Rodins Kathedrale. Alternativ wird die Skulptur über den Beamer präsentiert, was noch eindrücklicher ist, da die Skulptur erst im Moment des Verlesens des Bibeltextes aufscheint. Schwerpunkt des Psalms sind die Verse 7 und 9, verbunden mit obiger Frage, wie offen unsere Türen im Advent wirklich sind. Mit der Skulptur von Rodin geht die Predigtbewegung von der Dynamik zur Ruhe über. Während Ps. 24 den Einzug des Königs der Ehre bejubelt, regen Rodins offen gefaltete, rechte Hände zweier Menschen zum Nachdenken an.
Predigtimpuls 3: Füreinander offen sein
„Bitte um den Segen: HERR, segne meine Hände, dass sie behutsam seien, dass sie halten können, ohne zu Fesseln zu werden, dass sie geben können ohne Berechnung, dass ihnen innewohnt die Kraft zu trösten und zu segnen. HERR, segne meine Hände!“, St. Martin, 4. Jh. (http://www.heinzpangels.de/segensgebet_36.htm).
Die Adventszeit gilt traditionell als Buß- und Fastenzeit, also als eine Zeit der inneren Einkehr und Selbstreflexion im Angesicht Gottes. Wie können meine Hände, wie kann ich mit meinem Charakter und meinen Gaben dazu beitragen, dass diese Welt etwas sensibler, offener und menschlicher wird? Habe ich die Gabe, behutsam und liebevoll zu sein? Kann ich Menschen halten, auffangen und stützen? Bin ich offenherzig zu geben und zu teilen? Oder liegt es mir besonders, einfach da zu sein, zu fühlen, zu berühren, zu trösten? Wie kann Gott durch mich seinen Segen stark machen, so dass aus diesen zwei Händen, die sich hier füreinander öffnen, der Segensraum Gottes wird?
Drei Impulse durchkreuzen meine Predigt. Es gibt hier kein „richtig“ oder „falsch“ in der Auswahl, einfach nur ein „anders“. Jeder darf in der Predigt bei dem hängenbleiben, was ihn im Moment besonders anspricht. Ich spüre bei mir selbst, wie sich meine Seele danach sehnt, in einer offenen Kathedrale wie der Rodins zu Hause zu sein. Ich möchte Menschen begegnen, die meine Sehnsucht teilen.
Tabea Rösler