Ausgestreckte Hand in einem offenen Dialog
Alle Vorurteile bestätigt?
Wieder einmal – so scheint’s – einer der Texte, die es besonders schwer machen, skeptische und religiös eher distanzierte Menschen für die Kirche zu begeistern. Binnenorientierte Sprache, theologische Formeln, Interesse an Abgrenzung und ein Schlechtreden der Lust. Daraus folgt im Umkehrschluss: Alle Vorurteile wären wieder einmal bestätigt! Wer es ernst meint mit der Kirche, gibt der Welt den Abschied!
Zum Glück gibt’s starke Gegenargumente – selbst wenn man den Briefschreiber dabei nicht immer auf der eigenen Seite hat: (1) Die Johannesbriefe (die nach Form und Inhalt eher Traktat als wirkliche Briefe sind) spiegeln eine nicht nur theologisch höchst spannende Phase religiöser Differenzierung wider. In Theologie und Kirche ist vieles im Fluss. Das zeigt sich auch in der exegetischen Debatte der Verbindung zwischen den Johannesbriefen und dem Evangelium. Dass die Briefe womöglich Einfluss auf die Endredaktion des Evangeliums gehabt haben, dann also älter als dieses sind, erweist sie doch als ungemein bedeutsam. Aber über die herrschenden Differenzen wird nicht produktiv im Diskurs entschieden, sondern im eigenen Rechthaben-Wollen. Andersdenkende (in diesem Fall Christinnen und Christen) sind Irrlehrende und sie zerstören die Einheit. Pluralität ist Teufelswerk! (2) Weltbezug und Gottesliebe stehen von vornherein in einem unüberbietbaren Gegensatz. Da im weiteren Kontext der Johannesbriefe die Liebe zu den Geschwistern im Glauben als Entsprechung der Gottesliebe durchaus hoch im Kurs steht, wird so ein Keil zwischen einem – inklusiven! – Hochschätzen der Möglichkeiten von Welt und Schöpfung und der geforderten – exklusiven! – Gemeinschaftsform getrieben. Glauben darf keinen Spaß machen! (3) Die Fokussierung der Traditionsweitergabe auf männliche Tradenten überrascht nicht! Aber die Differenzierung von „Vätern, jungen Männern und Kindern“ legt eine überraschende Öffnungsvariante einer sonst eher kontext- und generationsunabhängigen missionarischen Praxis offen. Es muss daher nicht verwundern, dass manche in den drei adressierten Gruppen nicht Person und Geschlecht, sondern die Dauer der Zugehörigkeit zur Gemeinde abgebildet sehen wollen. Diversität schleicht sich durch die Hintertür auf die Bühne!
Gott als die Liebe und die Welt als gute Schöpfung
Insofern eignet sich der Text wider allerlei Bedenken sehr passgenau gerade auch für noch unentschlossene Wahrheitssuchende der Gegenwart. Gott – nach der unstrittig stärksten Formulierung des 1. Joh. vor allem anderen in der Welt erschienene „Liebe“ – ins Spiel des eigenen Lebens bringen („den erkennen, der von Anfang an ist“), mit den Grenzen der eigenen Möglichkeiten umgehen („dass euch die Sünden vergeben sind“), ethisch stimmige Haltungen einüben („den Bösen überwinden“), Selbstdemütigungen und Kränkungen überwinden („Ihr seid stark!“) – das markiert doch genau den Rahmen, innerhalb dessen die meisten Hörerinnen und Hörer ihr Leben gestalten.
Als größtes Hindernis zu einem gewinnbringenden Zugang könnte sich der negative Weltbegriff erweisen. Um den energischen Widerspruch zu einem – aus Sicht des Autors verständlichen – Absetzungsprozess von einer feindlich gestimmten Mit-Welt komme ich kaum herum. Der joh. Kosmos-Begriff, der immer von Abgrenzungsnotwendigkeiten lebt, müsste zu einem positiven Weltbegriff hin weiterentwickelt werden. Dieser darf durchaus von einer klaren ethischen Haltung geprägt sein, sollte aber die Welt als Gottes gute Schöpfung und als lebenswerten Ort der meiner Existenz verstehen.
Ich möchte mich also gerade nicht darauf beschränken, die Kontroverslinien am Beginn des 2. Jh. zu beschreiben. Vielmehr – und darin liegt gerade der Reiz! – führt eine zeitgenössische Predigt dieses Textes mitten hinein in die Debatten der Gegenwart und ihre drei „K’s“ (Krankheit, Klima, Krieg) und schließt dabei nach den „Kindern“ auch die „Enkel“, d.h. die Nach-uns-Kommenden in die Überlegungen mit ein.
Unter diesen Vorzeichen erweist sich dieser zunächst anscheinend so unzeitgemäß daherkommende Text als ausgestreckte Hand in einem offenen Dialog mit den Streitthemen der Gegenwart in Mit-Verantwortung für die Welt und im Angesicht der Wirklichkeit Gottes! Was kann einen Prediger oder eine Predigerin mehr erfreuen!
Lieder
EG 268 „Strahlen brechen viele“
EG 409 „Gott liebt diese Welt“
Traugott Schächtele
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 9/2023