Kein Platz für Angst
I
„Gott ist Liebe“ – ein echter Spitzensatz der Bibel. Für manche die Zusammenfassung des christlichen Glaubens schlechthin. Die Perikope: Sätze für’s Herz. Vom gegenseitigen Liebesverhältnis zwischen Gott und „uns“. Von der Liebe, die die Angst vertreibt. Von der Liebe zum Nächsten, in der Gottes Liebe zu ihrem Ziel kommt.
Man muss sich das erst einmal trauen, die eigene Theologie so kurz und apodiktisch zu fassen und Gott in einem Dreiwortsatz zu „definieren“! Auch wenn sich Gott nicht in einem Satz fassen lässt, ordnet dieser Satz für mich das in jedem Gottesdienst bekannte und beschworene Credo an „Gott den Allmächtigen“ verstehbar ein. Gottes Macht, ja Allmacht, ist die Macht der Liebe. Und die ist – wie unsere Alltagserfahrung oft lehrt – auf der einen Seite beschränkt, verletzlich, ohnmächtig, auf der anderen Seite stärker als vieles scheinbar Übermächtige. „Wo die Liebe regiert, hat die Angst keinen Platz“, so vollmundig der 1. Joh. (NGÜ). Und auch wenn es viele Beispiele gibt, wo gerade pathologische Liebe in die Angst führt, so gilt doch viel überwiegender, dass liebevolle Beziehungen Menschen aus ihren Ängsten herausführen können.
II
Als Pfarrer in einer Großstadtdiakonie betone ich: Das gilt auch für die „Nächstenliebe“ in Strukturen. In der Arbeit mit Wohnungs- und Obdachlosen, in der Flüchtlingsbegleitung, in der Eingliederungshilfe, in der Kinder- und Jugendhilfe. Menschen, die mit dem Herzen dabei sind, entdecken mit ihren Klient*innen Wege aus der Angst und zum Leben.
Zurecht feiert die moderne Diakonie in diesem Jahr ihr 175. Jubiläum unter dem Motto #ausliebe. Johann Hinrich Wicherns Rede beim Deutschen Evangelischen Kirchentag 1848 gipfelte in dem zentralen Satz: „Die Liebe gehört mir wie der Glaube!“ Jahre zuvor hatte er das Elend der Massen erlebt. 1832 schreibt er in sein Tagebuch: „Die Mutter ist nur bekleidet mit einem Baumwoll-Leibchen und einem Baumwoll-Rock, zum Teil zerlumpt. Vier Kinder treffe ich an, ein großer Bengel, August, 23 Jahre, ein groß gewachsenes Mädchen, Marie, 13 Jahre, ein Knabe, Heinrich, acht Jahre, und der kleine Hans mit seinen fünf Jahren. Alles zerlumpte, blasse Gestalten, klappernd vor Hunger und Frost. Ich habe in traurige, ausdruckslose Augen gesehen, ohne Hoffnung auf morgen. Der kranke Vater liegt mit Lungenentzündung im Bett. Feuer haben sie nicht mehr gehabt seit langer Zeit. Zu essen haben sie ein Stück Brotrinde, das sie sich teilen. Was für ein Elend.“
Wichern ist das Leid nicht gleichgültig. Er gründet das Rauhe Haus „zur Rettung verwahrloster und schwer erziehbarer Kinder“. Was in dieser Zeit hier und an vielen anderen Orten entsteht, ist das Fundament unserer heutigen Diakonie. Heute überwiegend sozialstaatlich regelfinanziert steht sie zum einen für rechtlich verlässliche Leistungen, zum anderen für eine Tradition der Barmherzigkeit. Mitarbeitende setzen sich für gelebte Nächstenliebe ein, sei es auf dem Hintergrund eigener Glaubensüberzeugung oder einfach aus Menschlichkeit. Überall da scheint Gottes Liebe hindurch. Übrigens gilt die Verheißung „in dem bleibt Gott und Gott in ihm“ äquivalent für die, die sich von der Liebe bestimmen lassen (V. 16), und für die, die Jesus Christus als Gottes Sohn bekennen (V. 15). Der 1. Joh. sieht keine funktionale Verzweckung des einen für das andere.
„Wo die Liebe regiert, hat die Angst keinen Platz“. Auch das Umgekehrte gilt: Wo die Angst regiert und Liebe durch Hass ersetzt wird, sind und werden Menschen blind für Gottes Wirklichkeit, gehen Zuversicht, Lebensmut und Solidarität verloren.
III
Papst Benedikt hat in seiner Enzyklika „Deus caritas est“ 2005 unterstrichen, dass die agape „zweifellos etwas Wesentliches von der Neuheit des Christentums gerade im Verstehen der Liebe“ sei. Es gehe nicht „nur“ um ein Gefühl, das wir irgendwie herbeirufen sollen, sondern um Nächstenliebe, die sich ja gerade dadurch auszeichnet, dass man auch Mitmenschen, die ich zunächst gar nicht mag oder nicht einmal kenne, von Gott her liebe. Solches sei „nur möglich aus der inneren Begegnung mit Gott heraus“ und einem Blick der Liebe, der im Gegenüber das göttliche Bild erkennt. „Nur meine Bereitschaft, auf den Nächsten zuzugehen, ihm Liebe zu erweisen, macht mich auch fühlsam Gott gegenüber. Nur der Dienst am Nächsten öffnet mir die Augen dafür, was Gott für mich tut und wie er mich liebt.“ So findet Gottes- und Nächstenliebe zu ihrem Ziel und zum „vollen Durchbruch“ (V. 18 NGÜ).
Markus Eisele
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 5/2023