Gesungene Dogmatik
Urworte kirchlicher Dogmenbildung
Als Ruheständler habe ich die Gelegenheit eine Predigtmeditation zu schreiben gern ergriffen. Ich hatte meine Mühe mit dem Text. Die liturgische Kommission wollte es uns Pfarrerinnen und Pfarrern und den Gemeinden nicht zu einfach machen. Der Predigttext, der am 22. Sonntag nach Trinitatis weit hinten im Kirchenjahr „schlummerte“, wurde zum Karfreitagstext erhoben: ein Hymnus, eine Fülle von Urworten kirchlicher Dogmenbildung. Das friedenstiftende „Kreuz und Blut“, das an Karfreitag denken lässt, ist in einem Halbsatz an den Hymnus angehängt. Dieser Halbsatz V. 20 ist exegetische höchst umstritten. Christus, der am Kreuz Frieden gestiftet hat, wird in einen kosmologischen Kontext gestellt.
Für ältere Predigthörer*innen mag der Hymnus einen fremd-vertrauten Klang haben: Bildworte, die einen warmen Hauch von erhabener Poesie haben. Den jungen Konfirmanden*innen – TikTok gewohnt – wird er wohl nur fremd, aber typisch für diesen „Murmelschuppen“ Kirche vorkommen.
Theologische Mosaiksteinchen
Trotz der Überlastung mit den vielfältigen ermüdenden und demotivierenden Aufgaben im Pfarramt möchte ich die enorm fleißige und höchstinteressante Doktortorarbeit von Dr. Christian Settler empfehlen. Er hat in einer Dissertation zum Kolosserhymnus zusammengetragen, was in unterschiedlichen exegetischen und theologischen Schulen zur Charakterisierung des Hymnus herausgearbeitet wurde. Es sei ein „gnostischer Erlösungsmythos“ (Käsemann), eine jüdische Weisheitsspekulationen (David Friedrich Strauß). Sprache des Dankpsalms. Ein Text aus der Bildwelt des jüdischen großen Versöhnungstages. Mit dem „Blut des Kreuzes“ würde auf das Blut des geopferten Bockes angespielt, der mit den Sünden des Volkes beladen wird. All diese Deutungen sind wie theologische Mosaiksteinchen. Sie ergeben das Bild des Pantokrators und segnenden Christus in den Kuppeln orthodoxer Kirchen.
Permanenter Karfreitag der Gewalt
Am Karfreitag denken wir an den gewaltsamen Foltertod Jesu. Wir sind bedrückt und erschüttert von den vielen Kreuzen auf ukrainischen und russischen Kriegsgräbern, mit Blumenkränzen betrauert. Wir denken an die Tausenden von Toten der Naturkatastrophe in der Türkei und in Syrien. Unsere Welt ist ein permanenter Karfreitag der Gewalt, der Kriege, der vielfältigen Krisen bis hin zur Klimakrise. Das Kreuz leitet an, „den Schmerz der anderen begreifen“ (Ch. Wiedemann). Es ruft eine Erinnerungskultur für die Opfer der Unmenschlichkeit und ein solidarisches Gedenken hervor. Ich habe noch ein Foto vor Augen aus dem Jugoslawienkrieg 1999 aus einer zerstörten Kirche. Das Foto zeigt ein Kruzifix, dessen Körper von Dutzenden Kugeln durchlöchert wurde. Es soll auch das Kreuz als Symbol der Lebenshingabe in der Entfeindungsliebe zerstört werden.
„Leben mit und Leben für“
Klaas Huizing hat in seinem jüngst erschienenen Buch „Lebenslehre“ versucht, unsere gegenwärtige „Beziehungskrise“ mit Gott zu betrachten und als „Beziehung-Berater“ dogmatische Aussagen zu Erfahrungen des Heiligen zu verflüssigen und in weisheitliche Poesie zu verwandeln. Es geht ihm darum, mehr Leben ins Leben zu bringen. So überschreibt er das Kapitel Christologie mit „Leben mit und Leben für“. Es geht ihm wohl wie Karl Barth: „Sie sagen Religion, Religion, Religion. Dabei geht es im Evangelium um Leben, Leben. Leben.“
Paulus und seine Schüler kennen verschiedenen Deutungen des Kreuzes. Das Kreuz als Ärgernis, Torheit und Sühneopfer, im Philipperhymnus als Lebenshingabe bis zum Tode. Viele Gemeindeglieder tun sich mit dem Sühnetod Jesu schwer. Settler arbeitet heraus, dass es in der historischen Bildrede aus der Opferwelt um „Versöhnung“ geht. Gott begegnet nicht mehr als Allmacht, sondern als Liebe; Überwindung von Feindschaft gehört zum Wesen Gottes. Der Mensch, sein Ebenbild und späte Geburt der Schöpfung, soll wie Christus für Versöhnung eintreten, für die Versöhnung von Russen und Ukrainern, für Überwindung von Hass und Nationalismen, Überwindung von Gewalt zwischen Palästinensern und Israelis, in Erinnerung an die Nakba und die völkerrechtswidrige Besatzung. Für den Krieg und die Tragödie in der Ukraine bräuchten wir eine friedensstiftende Wahrheits- und Gerechtigkeitskommission. Die Kirchen sollten eine solche einberufen.
Harald Wagner
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 3/2023