Verblendetes Verstehen

Verblendung

Es war eine verblendete Zeremonie, von der Bürgerrechtlerinnen wie Vera Lengsfeld berichten, wenn man im Stasi-Gefängnis Berlin-Hohenschönhausen in Untersuchungshaft kam. Man gab am Eingang seinen Namen ab, wurde eine Nummer, und der Versuch begann, eine Identität und einen Menschen zu brechen. Geblendet von Scheinwerferlicht, um nicht richtig zu sehen, wo man war, führte der Weg von der Ankunft in die Garage. Es folgte, nach einer entwürdigenden Untersuchung, die Einzelzelle. Vom hellen Licht eben noch geblendet tauchte man plötzlich in die Dunkelheit der Zelle ein. Die einzige Lichtquelle in dem Raum war elektrisch und ohne Lichtschalter. Diesen gab es nur außen. Über Licht und Dunkelheit entschieden Wärter.

Mit ganzem Herzen: Seele, Kraft, Gemüt

Auf den ersten Blick scheint die Perikope eine dualistisch, bewertende Finsternis-Licht-Metaphorik zu verfolgen. Die Verben allein malen es aus: verdeckt, verloren, verblendet stehen leuchtendem Licht, blendendem Evangelium, scheinenden Herzen, erkennender Herrlichkeit gegenüber. Ebenbild, Erleuchtung, Erkenntnis im Angesicht Jesu strahlt dermaßen, dass die Finsternis eins zu sein scheint mit dem Nicht-Sehen (V. 4) und der homiletischen Nabelschau (V. 5). Dass dieses beides ein passives, gottgewirktes Geschehen sei, verstärkt und problematisiert die Dualismusdeutung. Sie ermutigt zugleich, die darüberhinausgehende Vielfalt des biblischen Hell-Dunkel, Licht-Finsternis zu betonen, um Schwarz-Weiß-Fallen zu entkommen. Aber in der Transformationslogik des Paulus bleibt seine Lichtmetaphorik seit seinem (nicht)sehenden Damaskuserlebnis (Apg. 9) verständlich und als Metapher (zu) eindeutig. Der auferstandene Christus ist die eine Quelle des Lichts und der Neuschöpfung. Sein eher pessimistisches Menschenbild sieht die Verwandlung allein. Eine Translation, also ein Über-Setzen eines Inhalts in eine neue Sprache oder neue Form, wie es Mt. sehen kann, sieht Paulus nicht. Nur eine Transformation von Gott her ist denkbar und meint eine ganzheitliche Neuwerdung. Insofern versammelt die kurze Perikope fast alle markanten Begriffe des paulinischen Menschenbildes: das herzliche Personenzentrum des Menschen als Ort der Liebe (Röm. 5,5) und des Glaubens (Röm. 10,9). Die von außen erleuchtete (2. Kor. 4,6) vernünftige, gewissenhafte Erkenntnis verändert im Ebenbild den Menschen zu einer handelnden (Röm. 12) Person und zum Leib Christi (1. Kor. 12,12). Im Herzen entscheidet es sich. Das ist der Raum für Paulus, den der Geist erfüllt. Die Mitte, als alter oder ganz neuer Mensch – je im Angesicht Christi. Und immer im Lichte der Hörer und die Hörer immer im Angesicht Christi; um die seelsorglich-homiletische Lesart Ernst Langes mit der paulinischen zu vernetzen: die Hörer*innen am 6. Januar nach angespannten Weihnachtstagen, zwischen Corona, inmitten einer Kriegslage, im Klimathema, nach einer Katar-WM, im Wärme-Winter: Räume öffnen und sich vor Ort verbünden.

Verwandlung

So ohnmächtig ein dualistisches, deterministisches Bild den Menschen machen kann, so offen ist es für die Verwandlung. Für Paulus ist es weitaus mehr als eine persönlich-individuelle Transformation. Er denkt an Schöpfung, an ein Christusgeschehen und einen kosmischen Wandel. Die Welt verändert sich, dank der Einbettung der Person in ein transpersonales Geschehen. Und in eine herzliche Verwandlung, die letztlich sogar der Verblendung ein Verständnis anbietet. Das mag unrealistisch sein. Das mag menschlichen Möglichkeiten ganz und gar entzogen bleiben. Das mag eine ganzheitliche Metapher sein, die in ihrer erlösenden Tiefe auch die Differenz von Täter und Opfer nicht mehr denken muss.

Die Frage wird auch bleiben, ob der Himmel oder die Erde der Ort ist, dieses denken und vor allem leben zu können. Vielleicht aber ergibt sich im Verständnis für die Verblendung auch das Geständnis als Bitte zur Vergebung? Für die Epiphanias-Predigt könnte es im Satz zusammengefasst sein, dass wir nicht uns selbst predigen. Wir reden so viel mehr als wir versprechen können. Wir nehmen die Flügel der Morgenröte zum äußerten Ende des Meeres, und dabei können wir weder fliegen noch waren wir schon da.

 

Liturgie und Lieder

https://www.zeitzeugen-portal.de/zeitraeume/jahrzehnte/1950/mielke-und-die-stasi/1NZBLZ6j9fY

Ps. 139

EG 72 „O Jesu Christe, wahres Licht“

EG 557 „Ein Licht geht uns auf in der Dunkelheit“

We are marching in the light of God“ (EGplus 83)

 

Lars Hillebold

 

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 11/2022

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