In Christus Gott anschauen

Zuschnitt

Die Perikope für den 1. Christtag hat einen merkwürdigen Zuschnitt. Die Ausklammerung von V. 1-2 sowie die Einklammerung von V. 4-5 erschließt sich mir nicht. Im Zentrum stehen zweifellos zwei Kernsätze der Christologie (V. 3 und 9). V. 2 ist die unmittelbare (und auch unmittelbar notwendige!) Hinführung zum Gedanken in V. 3; V. 1 und 4f beschreiben das Ringen des „Apostels Paulus“ um den angefochtenen Glauben der Gemeinden in Kolossä (und Laodicea). Sie gehören so gut zum Kontext wie V. 6-8. Ich plädiere dafür, der Predigt Kol. 2,1-10 zugrunde zu legen.

Die Verfasserfrage thematisiere ich hier nicht. Sie ist für die Predigtkonzeption unerheblich. Im Gegenteil: Gerade V. 1 und V. 5 belegen eine Situation, in der die Kopräsenz der ersten Zeugen nicht mehr gegeben ist – wie für uns heute! Also gilt, ungeachtet der Verfasserschaft dieser Zeilen, das apostolische Zeugnis im fortgeschriebenen Wort (und Geist) derer, die es empfangen haben und weitergeben.

Geist und Geist

Der Kontext und Anlass des Schreibens ist ein Ringen um den angefochtenen Glauben der Gemeinde. Angefochten ist dieser Glaube, weil er in der Auseinandersetzung und im Widerspruch mit anderen Weltdeutungskonzepten steht. Das ist heute nicht anders, lediglich die Konzepte haben sich verändert. Standen damals gnostische und hellenistisch-philosophische Gedankenkonstrukte in Konkurrenz zum paulinischen Evangelium, so sind es heute wissenschaftlich-technoide bzw. neoliberale Anschauungen, die die Welt etsi deus non daretur erklären, oder esoterische Lehren bzw. Verschwörungsmythen … Wie auch immer: „Geist“ steht gegen „Geist“: menschlicher Geist gegen göttlichen Geist, Rationalität gegen Spekulation, Vernunft gegen Willkür, Ideologie gegen Realismus.

Ich verstehe „Geist“ als ein Vermögen des Menschen, das einen umfassenden Horizont zur Lebens- und Sinnorientierung ausbildet. In diesen Prozess fließen Wahrnehmungen und Erfahrungen ebenso ein wie Bildungsinhalte, Reflexionen und soziale Konstrukte. Dabei halte ich den Geist nicht für eine tabula rasa, sondern für ein bereits „vorbeschriebenes“ Feld.

Religiöse Inhalte gehören zu diesen Bildungsprozessen – sollen sie wirklich umfassend sein – ebenso dazu wie Kunst, Musik, Literatur oder soziale Kommunikation.

Christologien

Die Predigtperikope bezieht das Symbol Christi in diesen geistigen Bildungsprozess, der hier auf Glauben und das (zumindest behutsame) Erfassen der Transzendenz Gottes hin ausgerichtet ist, mit ein. Doch welcher Christus ist gemeint bzw. welches Bild Christi?

Christus-Konzeptionen (also Christologien) lassen sich reichlich finden, auch schon im NT: Christus als Inbegriff wahren Menschseins, als Vorbild wahrer Menschlichkeit, als Erlösung aus menschlichen Abgründen, als Grenze menschlicher Selbstvergottungstendenzen, als ultimatives Sinnbild Gottes, als Weg zu Gott …

Christus als Geheimnis Gottes

Im Kol. geht es vor allem um einen Christus, der uns das Geheimnis Gottes aufschließt, m.a.W.: wir blicken durch das Fenster Christi in die Transzendenz des geheimnisvollen Gottes. Was zu diesem Fenster gehört, lässt sich an anderen Stellen im Kol. nachlesen: auf jeden Fall Kreuz und Auferstehung (1,20 und 1,18), ein den Abgründen und Verführbarkeiten menschlichen Daseins trotzender Lebenswandel (3,5ff) sowie eine grenzüberschreitende, vorurteilsfreie Menschengemeinschaft (3,11).

Medien Christi

Für Gottesdienst und Predigt rege ich eine Betrachtung an: Möglich wäre die Meditation einer Christusdarstellung, sei es ein Weihnachtsmotiv aus der Bildenden Kunst, ein Christus-Antlitz Alexej Jawlenskis oder eine Ikone; möglich wären auch eine Abendmahlsdarstellung oder eine Hostie oder Brot und Wein (in vielen Gottesdiensten wird am 1. Christtag Abendmahl gefeiert).

 

Peter Haigis

 

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 11/2022

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