Geschlechtsidentität, biologisches Geschlecht (engl. „sex“) und soziales Geschlecht (engl. „gender“) sind gesellschaftlich, wissenschaftlich wie kirchlich immer wieder in der Diskussion. Einen Einblick in den eigenen Meinungswerdegang zum Thema „Geschlecht“ gewährte in der Märzausgabe des Deutschen Pfarrerinnen- und Pfarrerblatts Jantine Nierop, Praktische Theologin aus Heidelberg. Sie befürchtet, dass durch die Anerkennung geschlechtlicher Vielfalt über die Kategorien „Mann“ und „Frau“ hinaus empirische Untersuchungen und frauenfördernde Maßnahmen unmöglich werden würden und vertritt dabei eine exklusivistische Auffassung von Frau-Sein.1 Ihr Beitrag ist im Stil einer Bekehrungsgeschichte verfasst. Personen, mit denen sie früher einer Meinung war, werden dabei als unwissenschaftlich dargestellt. Bei genauerer Betrachtung fällt jedoch auf, dass der Bekehrungsbericht in Form und Inhalt vielmehr paradigmatisch für eine politische Meinungsmache ist: Nun versucht sie, Personen, mit denen sie früher einer Meinung war, als unwissenschaftlich bloßzustellen. Was sich als berechtigter Frust über versagte Aufstiegschancen einer aufstrebenden Akademikerin liest, ist in nicht unerheblichem Maß in Narrative gegossen, die auch der (extremen) Rechten als Türöffner in kirchliche Diskurse dienen.2 Aus diesem Anlass lässt sich einmal mehr vor den Vereinfachungen, die im Feindbild „Gender“ stecken, warnen und über die Herausforderungen von Geschlechterthemen für die kirchliche Praxis nachdenken.
Antifeminismus als kirchlicher Türöffner für die extreme Rechte
Der Begriff „Gender“ wurde bereits mit seinem Aufkommen im deutschen Sprachraum Anfang der 2000er zur Projektionsfläche eines politischen Feindbildes. Gerade die Unvertrautheit des englischen Fachworts bot die Möglichkeit, diesen mit Bedrohungsszenarien zu füllen und so einen „Pappkameraden“ zu errichten, der bis heute vor allem der extremen Rechten als Anknüpfungspunkt an christliche Ressentiments dient.3 Genderspezifischer Antifeminismus mutet dabei harmloser an als klassische rechte Kampfthemen wie Migrationsfeindlichkeit oder Antisemitismus und eröffnet so einen oft unbemerkten Wirkungsbereich im bürgerlich-kirchlichen Milieu.4 Der Ideologievorwurf gegenüber den Gender-Studies, die Inszenierung einer „Cancel Culture“5 im Wissenschaftsbetrieb sowie Karikaturen eines als übermächtig imaginierten Queerfeminismus sind nur einige wenige Elemente des breiten Repertoires zur Verschiebung der Grenzen des Sagbaren. Auch die eigenartige Verquickung von Schöpfungsordnung und unterkomplexem Biologismus6 darf uns gerade im Raum der Kirche nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich nicht um oberflächliche Meinungsverschiedenheiten handelt. In dem Ringen um die Deutungshoheit, was Geschlecht ist und was nicht, wird darüber verhandelt, welcher Gottesdienst gefeiert und letztlich auch, welches Leben gelebt werden darf und welches nicht.7 Nicht zuletzt aus dem Grund, dass sich einzelne Menschen im kirchlichen und theologischen Kontext mit einem vermeintlich wissenschaftlichen Gestus über andere erheben, ist der Blick hier zu schärfen.
Geschlechtliche Vielfalt in kirchlichen Handlungsfeldern
Die Mehrzahl der Menschen definiert sich als Mann oder Frau, aber nicht alle gehören in diese beiden Kategorien. Wie bereits ein Blick in die gemeindliche Praxis zeigt: Geschlechtliche Vielfalt ist nichts, was von außen an die Kirchen herangetragen werden muss. Diverse Geschlechtlichkeit ist bereits Bestandteil gemeindlichen Lebens und die damit einhergehenden Herausforderungen haben schon immer und werden auch in Zukunft pfarrberufliche Praxis begleiten.
Die Konfirmandin, die auf einen anderen Namen getauft wurde als den, den sie jetzt trägt. Die Theologie studierende Person, die als Pronomen „they/them“ verwendet und bald nicht-binäre Pfarrperson einer ländlichen Gemeinde sein wird. Die Patentante, die im Seelsorgegespräch davon berichtet, dass sie ihr Patenkind gerade schwer unterstützen kann, es aber gern täte, weil die Eltern sein Männlichsein nicht akzeptieren wollen. Wer die Prägekraft und Tragweite dieser Erfahrungen ernst nimmt, weiß, wie wenig sie mit Beliebigkeit zu tun haben. Menschen in ihren existenziellen Prozessen zu begleiten gehört mit zu den größten Anforderungen an den Pfarrberuf. Selbstverständlich sind auch diese Menschen Gemeindeglieder. Manche von ihnen engagieren sich ganz explizit für den Abbau von Diskriminierung in der Kirche, von anderen ist die persönliche Geschichte unbenannt und unbekannt. Aber Gemeindealltag ist schon jetzt weniger binär als es manch praktisch-theologische Literatur denken lässt.
Demgegenüber wird an jüngeren Publikationen wie „Queersensible Seelsorge“ von Kerstin Söderblom8 oder der lang ersehnten Einrichtung einer Beauftragung für Queere Seelsorge und Beratung wie in der Hannoverschen Landeskirche9 ersichtlich, dass in der kirchlichen Arbeit Queersensibilität gefragt ist. Die evangelische Kirche würde sich unter Wert verkaufen, wenn sie nicht gerade ihre Kompetenz im Umgang mit ambivalenten Lebenswirklichkeiten als Stärke begreifen und den strukturellen Herausforderungen aufgeschlossen begegnet und aktiv Veränderung mitgestalten würde.
Geschlechtliche Lebenswirklichkeiten als strukturelle Herausforderung
Demgegenüber erweist sich der Verweis auf die Gebärfähigkeit als Ausschlusskriterium des Frau-Seins in der Praxis als Bärendienst. Gerade wem die Gleichstellung der Frau ein Anliegen ist, sollte sich vor Kurzschlüssen hüten, die sich lediglich auf potenzielle Schwangerschaft beziehen. Bei Schwangerschaft handelt es sich um ein Kriterium, das die Mehrheit der Frauen zum Großteil ihres Lebens gar nicht (mehr) betrifft und einen nicht unerheblichen Teil nie betreffen wird – aus selbst gewählten und fremd bestimmten Gründen. Die spezifische Geschlechterunterdrückung, wie sie sich in gegenwärtigen Biographien niederschlägt, ist nicht Folge körperlicher Veranlagung, sondern davon, wie wir in unserer Gesellschaft Arbeit und Leben organisieren. Nicht nur, wenn es um Entlohnungen beispielsweise. in Kindertagesstätten oder um Pflegearbeit in der Diakonie geht, haben die Kirchen Anteil daran.
Dass jede dritte Frau in Deutschland trotz lebenslanger Vollzeiterwerbstätigkeit mit Altersarmut rechnen muss oder dass ausgerechnet die gesellschaftlich notwendige Reproduktionsarbeit (z.B. Sorgearbeit, Bildungsarbeit und Hausarbeit) entwertet ist und auf dem Rücken mehrfach Diskriminierter geschieht, ist Ergebnis dieser gesellschaftlichen Organisierung. Gerade der biologistische Kurzschluss, d.h. das In-Eins-Setzen zugeschriebener Gebärfähigkeit und des Geschlechts, ist der Grund, dass doppelte Unterdrückung und Ausbeutung in der kapitalistischen Produktionsweise als naturhaft, geschichtsenthoben, vielleicht sogar gottgegeben und damit vermeintlich alternativlos charakterisiert wird.
Kirche und Theologie jenseits der Binarität der Geschlechter
Die Vorstellung von dichotomer Zweigeschlechtlichkeit entwickelte sich erst mit der Entstehung geschlechterspezifischer Arbeitsteilung in der europäischen Moderne.10 Es versteht sich von selbst, dass Vorsicht geboten ist, wenn solche modernen Geschlechterverhältnisse, wie die bürgerliche Vorstellung von Frau-Sein, in biblische Texte hineingelesen werden. Gerade in Fragen des Geschlechts ist eine Vereindeutigung des vielstimmigen biblischen Zeugnisses wenig zielführend.11
Unser protestantisches Selbstverständnis sollte uns außerdem vor den Verlockungen unterkomplexer und autoritärer Normierungen bewahren und in ein offenes Weltverhältnis versetzen. Dabei ist die Anerkennung der Vielfalt von Lebensweisen und Selbstverständnissen nicht mit einem Angriff auf bereits bestehende Rechte und Ressourcen zu verwechseln. Als Kinder Gottes und Geschwister in Jesus Christus geht uns nichts verloren, wenn alle in ihrer individuellen Besonderheit akzeptiert werden – in dem Maße, wie es uns Menschen möglich ist. In diesem Geist muss sich kirchliche Praxis schon längst tagtäglich bewähren. Das theologische Nach-Denken darf sich diesem Umstand nicht verschließen, indem es beispielsweise durch die aufgezwungene Vereindeutigung der ambivalenten Lebenswirklichkeit ausschließende Grenzen zieht. Schließlich ist der persönliche Glaubensweg in einen gemeinsamen Lernweg eingebettet, auf dem wir unser menschliches Gegenüber nicht als Begrenzung, sondern als Bereicherung unserer selbst erfahren lernen wollen.
Carlotta Israel / Charlotte Jacobs
Anmerkungen
1 Ihre Befürchtungen sind verwunderlich. In Umfragen kann und wird weiterhin danach gefragt, wie sich Menschen definieren. Selbstverständlich können auch dann noch Personen, die sich als Frauen definieren, gefördert werden, wenn es neben „Mann“ und „Frau“ auch noch andere Geschlechter gibt. Das empirische Arbeiten der Praktischen Theologin sollte also weiterhin möglich sein, ebenso wie daraus Konsequenzen zu ziehen. Zusammenhänge dazwischen, dass Personen, die sich als Frauen definieren, oft in gesellschaftlichen oder kirchlichen Hierarchien weniger Leitungsaufgaben innehaben und Überlegungen, wie dieses unausgewogene Verhältnis verändert werden könnte, bleiben möglich.
2 Es sei dahingestellt, ob sie sich als Mitglied des rechts offenen, bis offen rechten „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit“ (vgl. https://www.netzwerk-wissenschaftsfreiheit.de/ueber-uns/mitglieder/) darüber im Klaren ist, dass ihre Ausführungen diese Nähe aufweisen. Festzustellen ist zumindest, dass sie seit kurzer Zeit offen transfeindlich auftritt und neben der extrem rechten Brigit Kelle und Marie-Luise Vollbrecht, die durch ihre Transfeindlichkeit populär wurden, im vergangenen Jahr eine der ersten Unterzeichner*innen eines Aufrufs war, der u.a. mit Kindesschutz-Metaphorik gegen „Transgenderideologie“ und „Queerlobby“ hetzt (Engelken, Eva: Schluss mit der Falschberichterstattung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks (02.06.2022), abrufbar unter: https://www.evaengelken.de/aufruf-schluss-mit-der-falschberichterstattung-des-oeffentlich-rechtlichen-rundfunks/).
3 Spätestens mit dem einschlägigen Sammelband von Sabine Hark und Paula-Irene Villa, wird dieses Phänomen als „Anti-Genderismus“ (2015) bezeichnet, vgl. dies. (Hg.): Anti-Genderismus. Sexualität und Geschlecht als Schauplätze aktueller politischer Auseinandersetzungen, Bielefeld 2015; vgl. darüber hinaus Lang, Juliane/Peters, Ulrich (Hg.): Antifeminismus in Bewegung. Aktuelle Debatten um Geschlecht und sexuelle Vielfalt, Hamburg 2018. Strube, Sonja A./Perintfalvi, Rita/Hemet, Raphaela/Metze, Miriam/Sahbaz, Cicek (Hg.): Anti-Genderismus in Europa. Allianzen von Rechtspopulismus und religiösem Fundamentalismus, Bielefeld 2021.
4 In der 2022 veröffentlichten breit angelegten interdisziplinären Studie zu Kirche und politischer Kultur „Zwischen Nächstenliebe und Abgrenzung“ wurden neben anderen gruppenbezogenen Vorurteilen auch Geschlechterressentiments im Raum evangelischer Kirche untersucht. Als ein Ergebnis kann gelten: „Während religiöse Menschen und Kirchenmitglieder den meisten Vorurteilen eher skeptisch oder kaum anders als andere Bevölkerungsgruppen gegenüberstehen, sind ihre Haltungen gegenüber sexueller und geschlechtlicher Vielfalt im Durchschnitt häufig ablehnender“ (Pickel, Gert: „Kirchenmitgliedschaft, Religiosität und Vorurteile gegenüber sozialen Gruppen.“ In: EKD (Hg.): Zwischen Nächstenliebe und Abgrenzung. Eine interdisziplinäre Studie zu Kirche und politischer Kultur. Leipzig 2022, 79).
5 Mit der alt bewährten Taktik des „Es wird doch wohl noch gesagt werden dürfen“ wird von dem eigentlichen Inhalt einer Aussage abgelenkt. Stattdessen wird damit eine vermeintliche Unterdrückung der sprechenden Person insinuiert. Beliebt ist das Beschwören einer „Cancel Culture“, d.h. einer Kultur des Sprachverbots, in Verbindung mit dem Szenario einer vermeintlich bedrohten Wissenschaftsfreiheit.
6 Weder beruht ein theologisches Menschenbild gänzlich auf biologischen Einteilungen, noch wird der Biologie hier genüge getan: Nierops Rezeption der biologischen heuristischen Kategorien einer Einteilung zwischen Wesen mit großen oder kleinen Gameten trifft nur einen Aspekt gängiger medizinischer Geschlechtsaspekte. Das chromosomale, das hormonelle, das gonodale oder das morphologische Geschlecht spart sie aus. Das Glossar des Studienzentrums der EKD für Genderfragen in Kirche und Theologie sei für verschiedene Begriffsklärung in diesem thematischen Umfeld anempfohlen: https://www.gender-ekd.de/glossar.html.
7 Trans*-Personen (d.h. Menschen, die bei der Geburt das falsche Geschlecht im Personenstandsregister erhielten) sind weder im öffentlichen noch im privaten Raum vor physischer oder psychischer Gewalt geschützt. Die geschlechtsspezifische Hasskriminalität ist für die Betroffenen Alltag (vgl. Benecke, Mirjam: Angriffe auf trans Personen. Bewusstsein in der Gesellschaft schärfen (11.01.2023), abrufbar unter: https://www.tagesschau.de/inland/angriffe-transphobie-101.html). Entsprechend erschreckt es, dass beispielsweise der erste queere Universitätsgottesdienst der HU Berlin von einem rechtsradikalen YouTuber, der den Gottesdienst mit Gleichgesinnten besuchte, ohne Erlaubnis gefilmt und verunglimpft wurde. EKBO-Bischof Christian Stäblein sowie die Pröpstin Christina-Maria Bammel und Harald Geywitz, Präses der Landessynode veröffentlichten ein Statement, in dem sie ihrer Bestürzung über diesen Vorgang Ausdruck verleihen und ihn als Hetze verurteilen. Sie solidarisierten sich mit queeren Personen. „Wer sie angreift, greift uns alle an.“ (Statement von Bischof Christian Stäblein, Präses Harald Geywitz und Pröpstin Christina Maria-Bammel über die Verächtlichmachung und Hetze gegen den ersten queeren Universitätsgottesdienst (24.2.2023), abrufbar unter https://www.ekbo.de/fileadmin/ekbo/mandant/ekbo.de/1._WIR/07._Proepstin/2-Statements/Statment_Gottesdienst_queere.pdf).
8 Söderblom, Kerstin: Queersensible Seelsorge, Göttingen 2023.
9 Vgl. die Pressemeldung vom 2. Februar 2022: https://www.landeskirche-hannovers.de/evlka-de/presse-und-medien/nachrichten/2022/02/2022-02-02_3.
10 Vgl. u.a. Schötz, Susanne: Weibliche Erwerbsarbeit seit der Industrialisierung, in: Banhardt, Sarah/Gräßel-Farnbauer, Jolanda/Israel, Carlotta (Hg.): Frauenordination in der Evangelischen Kirche in Deutschland. Interdisziplinäre Perspektiven, Stuttgart 2023, 73-106, 74-80.
11 Wir kennen dies auch aus Diskussionen um Homosexualität, bei denen Exeget*innen immer wieder davor warnen, die Spannungen und Widersprüche im biblischen Kanon durch höchst selektive Schriftgläubigkeit zu glätten. Da der biblische Text immer nur als ausgelegter existiert, gilt es, dessen innertextlich angelegte „verbindliche Vielfalt“ zum Vorschein zu bringen: vgl. dazu Ebach, Jürgen, „Homosexualität und die Bibel“. In: ders., In Atem gehalten, Theologische Reden 10 (NF 4), Uelzen 2012.
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 5/2023
Die Redaktion hat sich entschlossen, die Diskussion zu diesem Beitrag zu beenden.