Aktuelle politische Überlegungen zielen darauf ab, das bisherige Transsexuellengesetz durch ein „Gesetz sexueller Selbstbestimmung“ zu ersetzen. Jantine Nierop hält den dahinter stehenden Begriff des Selbst für problematisch. Denn die faktisch gegebene Körperlichkeit gehört zur Selbst-Identifizierung bereits in einem erheblichen Maß dazu.
Die regierende Ampelkoalition plant ein „Selbstbestimmungsgesetz“, das faktisch auf eine Neudefinierung des Geschlechtes hinausläuft. Im Koalitionsvertrag „Mehr Fortschritt wagen“ wird das Vorhaben mit folgenden Worten beschrieben: „Wir werden das Transsexuellengesetz abschaffen und durch ein Selbstbestimmungsgesetz ersetzen. Dazu gehören ein Verfahren beim Standesamt, das Änderungen des Geschlechtseintrags im Personenstand grundsätzlich per Selbstauskunft möglich macht, ein erweitertes und sanktionsbewehrtes Offenbarungsverbot und eine Stärkung der Aufklärungs- und Beratungsangebote.“1
Der Begriff Selbstbestimmung suggeriert, dass „Geschlecht“ bisher eine Fremdbestimmung gewesen ist, dem Menschen von Anderen auferlegt. Das neue Gesetz würde es dem Menschen ermöglich, endlich frei von fremden Zuschreibungen selbst sein Geschlecht zu bestimmen. Ich möchte diese Idee kritisch hinterfragen. Wie viel „Selbst“ steckt tatsächlich in der Idee einer Selbst-Identifizierung, die immer eine Identifizierung vor Anderen sein wird – und wie viel „Selbst“ ermöglicht die geschlechtliche Bestimmung anhand unverkennbarer Merkmale des eigenen Körpers? Wer bestimmt dein Geschlecht wirklich frei: dein Körper oder dein Publikum? Nicht zufällig spricht Judith Butler, Gründerin der konstruktivistischen Geschlechtertheorie, die dem geplanten Selbstbestimmungsgesetz konzeptuell zu Grunde liegt, in Bezug auf Gender explizit von performance.2
Und was heißt es eigentlich für das gegenwärtige Körperverständnis, wenn das körperliche So-oder-So-Bestimmt-Sein nicht mehr als etwas zutiefst Eigenes, als ein Teil des Selbst, ja vielleicht als das Selbst-Selbst, empfunden werden kann? Provokativ gefragt: Welcher dissoziative Kollektivzustand liegt vor, wenn die Anstrengung, erst über die Aussage vor Anderen zu einem Mann oder einer Frau zu werden, als Identitätsgewinn erfahren wird?
Sexualmedizin
Bisher stehen die Begriffe Männer und Frauen (sowie Jungen und Mädchen) für verschiedene Körper. Die körperlichen Unterschiede zwischen den Geschlechtern sind objektiv feststellbar, sowohl durch einen selbst als auch durch Andere. Gegenwärtig hört man immer wieder, dass „Geschlecht“ ein Spektrum sei mit vielen Varianten. Die Sexualmedizin unterscheidet allerdings geschlechtstypische Merkmale wie Körperlänge, Stimmhöhe oder auch den Hormonstatus, die in der Tat ein Kontinuum darstellen, von geschlechtsspezifischen Merkmalen, die bipolar-dichotom sortiert sind. Sie kennen also keine Mischformen und kommen entweder bei Männern (z.B. Spermien) oder bei Frauen (z.B. Eizellen) vor. Im aktuellen Lehrbuch „Sexualmedizin. Grundlagen und Klinik sexueller Gesundheit“ (2021) werden die geschlechtsspezifischen Unterschiede zwischen Männern und Frauen folgendermaßen beschrieben:
„Geschlechtsspezifische Unterschiede […] finden sich einzig bei denjenigen Funktionen und/oder Strukturen, die unmittelbar mit den spezifischen Funktionen der Geschlechter im Prozess der biologischen Reproduktion verbunden sind, also mit der Tatsache, dass nur biologische Frauen menstruieren, Kinder empfangen, gebären und stillen können, während biologische Männer die hierfür notwendigen Strukturen bzw. Funktionen nicht haben, dafür aber diejenigen, die es ihnen ermöglichen, Kinder zu zeugen. Geschlechtsspezifische Unterschiede sind bipolar-dichotom geteilt, d.h. im Normalfall nur als männlich oder weiblich möglich. Die Untersuchung eines einzelnen Menschen erlaubt bezüglich der Geschlechtsspezifik seine Zuordnung als entweder weiblich oder männlich. Übergänge kommen zwar vor, haben dann aber – als Intersex-Syndrome, die zu mehr oder weniger gravierenden Beeinträchtigungen der definitorisch benutzten Reproduktionsfunktion führen – den Charakter einer Störung bzw. Krankheit.“3
Manche Menschen kommen mit ihrem Körper, oder besser gesagt: mit ihrem Geschlechtskörper nicht zurecht. Sie leiden an Geschlechtsdysphorie4, eine sehr heftige Ablehnung des eigenen weiblichen oder männlichen Körpers. Manchmal ist sogar chirurgische Hilfe notwendig, um den Körper optisch an das andere Geschlecht anzugleichen. Meist folgt dann eine Personenstandsänderung. Im juristischen Sinne hat diese Person dann das Geschlecht gewechselt. Oft ist erst dann ein glückliches Leben möglich.
Bisher wurde das Phänomen Transsexualität durch das Transsexuellengesetz geregelt. Das Selbstbestimmungsgesetz soll dieses ersetzen und plant, die Begriffe Mann und Frau für alle Menschen von ihrer körperlichen Bedeutung loszulösen. Diese Begriffe sollen sich in Zukunft nicht mehr auf bestimmte Körper, sondern auf ein „Geschlechtsgefühl“ beziehen, das niemand anders als die eigene Person kennt und das folglich Anderen per Selbstauskunft freigelegt werden muss, um bekannt zu sein.
Schöpfung
Mich erinnert dies leider an die lange, unheilvolle Tradition der Körpervergessenheit in christlicher Theologie und Kirche. Eine Tradition, die es eigentlich nicht geben sollte, wenn man sieht, wie sehr im AT die körperlich-materielle Dimension der menschlichen Existenz betont wird. Menschen sind körperliche Wesen in einer auch sonst in jeder Hinsicht materiellen Welt. Der niederländische Theologe K.H. Miskotte (1894-1976), hat den „diesseitigen“ Zug des AT immer wieder hervorgehoben und diesbezüglich von einem „Überschuss“ im Gegenüber zum NT gesprochen. Gerade deswegen soll sich nach ihm die Predigt auch auf atl. Texte beziehen, nämlich um den relativen Zug zur „Vergeistigung der Botschaft“ im NT mit dem Hinweis auf die materielle Wirklichkeit der Schöpfung auszugleichen:
„Wenn wir nun nach der Funktion des Alten Testaments in der Predigt fragen und unser Augenmerk auf diejenigen Momente richten, an denen das Neue Testament vorbeigeht, dann entdecken wir noch andere Linien des Zeugnisses, […] einen Hinweis auf die Schöpfung (jawohl), ihre Tiefe und Breite, auf die ihr eigene Schönheit und Schrecklichkeit, auf die mehr selbständige Sprache und ihr geheimes Hindeuten auf die letzten Dinge. […] dann gewinnen Predigt und Unterweisung Platz für die Schöpfung, für die Freude am Licht und an der Ernte, für das Lied der Hügel und der Felder […] Dann muss in der Predigt und Unterweisung Raum entstehen für die – laut herausschallende oder im Flüsterton weitergegebene – Verkündigung, dass es gut ist, dass alles sehr gut ist […] Diese Predigt von der Tiefe und Breite der Schöpfung verhindert sehr wirksam einen Spiritualismus und Dualismus, wie man ihn mit einigem Recht aus einem (isolierten) neutestamentlichen, namentlich paulinischen Zeugnis hören könnte. Die Korrektur aus dem ‚Überschuss‘ des Alten Testaments erweist sich oft als dringend notwendige Operation, um aus der Zwangsvorstellung nun doch wieder einer Religion, einer pneumatischen Religion, herauszukommen.“5
Diese Gedanken konkretisiert Miskotte in seinen Überlegungen zum Bibelbuch „Hohelied der Liebe“ mit seinen überaus sinnlichen, ja geradezu erotischen Bildern. Hier spricht er ganz spezifisch über den „Überschuss“ des AT im Blick auf die grundlegende Fleischlichkeit der Menschen. Im freudigen Staunen über die Kanonisierung des Hoheliedes schreibt er:
„Was da geschehen ist, scheint uns vielleicht nur deswegen so gewagt, weil wir selbst noch in den hellenistischen Gegensätzen von irdischer und himmlischer Liebe, Natur und Übernatur, Fleisch und Geist befangen sind. Aber kennt die Schrift einen anderen Ausdruck für das, was geistliches Leben ist, als eben jenes Durchdringen in die Realität und jenen spontanen Drang des ‚Sinnlichen‘? Kann etwas totaliter ‚ganzheitlich‘ sein, das sich weigert, Fleisch zu werden?“6
Hierauf weist Miskotte hin: Geistliches Leben hat, biblisch verstanden, immer einen materiellen Realitätsbezug. Geist und Fleisch sind keine Gegensätze, sondern gehören untrennbar zusammen.
Ich Ich Ich
Man könnte das Gleiche auch so sagen: Gerade als Gottes Geschöpfe sind Menschen fleischliche Wesen. Biblischer Glaube umfasst immer den ganzen Menschen – auch wenn Jahrhunderte lange Körperfeindlichkeit in der Kirche leider anderes vermuten lässt.
Wohl kaum einer hat diese Ganzheitlichkeit eindrücklicher zur Sprache gebracht als der jüdische Philosoph Franz Rosenzweig, der den meisten TheologInnen vor allem wegen seiner Übersetzung der hebräischen Bibel (gemeinsam mit Martin Buber) bekannt sein mag. Sein philosophisches Hauptwerk „Der Stern der Erlösung“ (1921) hat er auf Feldpostkarten in den Schützengraben des Ersten Weltkrieges entworfen. Die Todesangst, die er dort gespürt hat, wendet er gleich am Anfang als Beleg gegen die idealistisch geprägte Philosophie seiner Zeit an. Niemals wird die Leiblichkeit des Menschen als Sitz des Ichs tiefer gespürt, als im Moment, wo einer um sein Leben bangt:
„Vom Tode, von der Furcht des Todes, hebt alles Erkennen des All an. […] Ohne Aufhören gebiert Neues der Schoß der unermüdlichen Erde, und ein jedes ist dem Tode verfallen, jedes wartet mit Furcht und Zittern auf den Tag seiner Fahrt ins Dunkel. Aber die Philosophie leugnet diese Ängste der Erde. […] Sie lässt den Leib dem Abgrund verfallen sein, aber die freie Seele flattert darüber hinweg. Dass die Angst des Todes von solcher Scheidung in Leib und Seele nichts weiß, dass sie Ich Ich Ich brüllt und von der Ableitung der Angst auf einen bloßen ‚Leib‘ nichts hören will – was schert das die Philosophie.“7
Das leibliche Gewicht der Wahrheit
Biblisch gesprochen sind Leib und Seele also untrennbar verbunden. Deswegen drängte der amerikanische Homiletiker Thomas Troeger vor etwa 30 Jahren darauf, bei der Predigtvorbereitung stets „das leibliche Gewicht der Wahrheit zu spüren“: „Feel the bodily weight of the truth“8. Denn „the Word became flesh“, „not a cloud or a thought but flesh, human being“9. Und er mahnt: „Before we can preach convincingly of the incarnation, we must be aware of the physicality of our life as creatures.“10 M.a.W.: Die Inkarnation wird haltlos, wenn wir vergessen, dass Gott eine materielle Welt geschaffen hat und in genau diese Welt seinen Sohn schickte.
„Spüre das leibliche Gewicht der Wahrheit“ – viele Menschen tun das intuitiv, wenn sie von sich reden und die Geschichte ihres Lebens mit anderen teilen. Sie spüren die intime Beziehung zum eigenen Körper, ja die Unmöglichkeit, die eigene Lebensgeschichte von ihm zu abstrahieren. Das gilt auch umgekehrt: Wer von seinem Körper spricht, erzählt sein Leben. Dies zeigt beispielsweise die britische Tänzerin Rosie Kay, wenn sie im folgenden Abschnitt mit ungewohnt plastischen Worten ihren Körper vor Augen führt:
„Der Körper einer Tänzerin, aber auch der Körper einer Frau; ein Körper, der angegriffen, gewürgt, niedergeschlagen und missbraucht wurde. Mein Körper hat tiefen Schmerz erlitten, physisch und psychisch. Mein Körper war ein Opfer, es gibt tiefe Narben – auf meiner Kopfhaut und in meiner Seele. Aber es ist auch ein Körper, der Leben geschaffen, genährt und gegeben hat. Ein Körper, der eine Schwangerschaft verkraftet, eine Notgeburt überlebt und einen Säugling gestillt hat, bis er 30 Monate alt war. Ein Körper der Schönheit, des Wunders, der Liebe und der Fürsorge. Ein Körper, der in den örtlichen Cafés saß und mich mit meinen prallen Brüsten, undichten Brustwarzen und meiner überragenden Gesundheit beschämte. Ein Körper, der mit Blicken von Passanten bedacht wurde – die Alten, die über meine Offenheit urteilten, die Jungen, die in Brüsten nichts anderes als Sexobjekte sehen konnten. Ich saß da, schämte mich, verstand aber nicht, warum, bis mir klar wurde, dass ich mich wie ein Tier fühlte. Ich war ein Tier. Das schockierte mich. Ich konnte mich nicht aus meinen lebensspendenden Eigenschaften ‚herausidentifizieren‘. Ich konnte nicht so tun, als wäre ich nicht weiblich; ich war eine Frau, eine Mutter, eine Lebensspenderin, und doch wurde ich deswegen weder respektiert noch gemocht oder gar toleriert. [...] Es ist diese Art von ‚transhumanistischer Philosophie‘, dass wir nur ein Gehirn hinter zwei wackelnden Augen sind, die die Frauen zerstört, unsere angeborene Macht im Universum, unser Verständnis, dass wir Säugetiere sind, dass wir auf einem endlichen Planeten leben, dass wir essen und scheißen und Liebe machen und Babys gebären und Orgasmen haben und dass wir Schmerz empfinden und verletzt sind, und einiges davon kommt von außen und einiges erfinden wir in uns selbst.“11
das bist du
Auf je eigene Art, aber jeweils mit Bezug auf Grenzsituationen des Lebens, erinnern Rosenzweig und Kay uns eindringlich an den Körper als ureigensten Sitz des Ichs. In ihren Texten konkretisiert sich atl. Schöpfungstheologie in neuer Sprache. Im Spiegel dieser Theologie fällt meine Reflektion des geplanten Selbstbestimmungsgesetzes kritisch aus. Durch die Einführung eines solchen Gesetzes würde etwas sehr Wertvolles aufgegeben werden. Die bisherige Bestimmung des Geschlechts über den Körper betrifft den Menschen in seinem Innersten. Da bist du, das bist du. Dagegen kann jede versuchte „Vergeistigung“ der geschlechtlichen Bestimmung letztendlich nur Fremdbestimmung sein.
Anmerkungen
1 https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Koalitionsvertrag/Koalitionsvertrag_2021-2025.pdf (95).
2 Judith Butler: „If gender is performative, then it follows that the reality of gender is itself produced as an effect of the performance.“ (Undoing Gender, New York 2004, 218)
3 Klaus M. Beier/Hartmut A.G. Bosinski/Kurt Loewit, Sexualmedizin. Grundlagen und Kritik sexueller Gesundheit, München 2021, 66. Vgl. dazu: „Geschlechtstypische Unterschiede […] sind statistisch-deskriptiver Natur und ergeben sich nur im Geschlechtergruppenvergleich. Sie können körperliche, psychische oder soziale Eigenschaften, Funktionen und Verhaltensweisen betreffen, die innerhalb der einen Geschlechtergruppe häufiger und/oder intensiver auftreten als innerhalb der anderen und/oder bei denen die Differenzen der Mittelwerte innerhalb der Geschlechtergruppe kleiner sind als zwischen den beiden Gruppen.“ (66)
4 https://www.msdmanuals.com/de-de/profi/psychische-st%C3%B6rungen/sexualit%C3%A4t-geschlechtsdysphorie-und-paraphilias/genderdysphorie-und-transsexualit%C3%A4t.
5 K.H. Miskotte, Wenn die Götter schweigen. Vom Sinn des Alten Testaments, München 1963, 192-194.
6 Miskotte, 269.
7 Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, Frankfurt 1996, 3.
8 Thomas H. Troeger, Imagining a Sermon, Nashville 1990, 53.
9 Troeger, 53.
10 Troeger, 53, 54.
11 Rosie Kay: https://unherd.com/2021/12/my-body-will-never-be-erased/.
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 6/2022