Dass das Miteinander der Menschen am Ort Gegenstand der Reflexion einer Kirchengemeinde ist, scheint selbstverständlich. Weil damit aber auch die Werte oder Haltungen in den Blick rücken, die das Handeln im Sozialraum bzw. das Handeln einer Kirchengemeinde prägen, entstehen Herausforderungen, zum Teil sogar Konfliktfelder. Wie sich Kirchengemeinden in solchen Situationen positionieren, ist Gegenstand einer Studie von Claudia Schulz, die sie hier vorstellt.
1. Gesellschaftspolitische Fragen: vertraute und immer neue Stolpersteine
Die Pfarrerin macht einen Geburtstagsbesuch bei einer älteren Frau. Die Jubilarin berichtet von ihrer Operation im Krankenhaus, spricht dabei abfällig über einen Arzt mit ausländischen Wurzeln und benutzt dabei das „N-Wort“. Für die Pfarrerin ist das schon nach kurzer Zeit im Beruf eine vertraute Situation: Menschen äußern herausfordernde Ansichten oder positionieren sich so, dass es zum Widerspruch herausfordert. Jedes Mal neu ist die Entscheidung zu treffen, welche Reaktion hier wichtig oder angemessen wäre, und wie der Bezug zum eigentlichen Anliegen, der religiösen Kommunikation, hergestellt werden kann.1
Zu diesen Erfahrungen im kirchlichen Beruf kommt hinzu, dass die meisten der herausfordernden Themen weit über die individuelle Ebene hinaus ihre Relevanz entfalten: in der Frage, ob die Gemeinde sich zu rassistischen Vorfällen in der örtlichen Schule verhalten soll, was sie tun sollte, wenn sich im Stadtteil eine Gruppe zum Widerstand gegen Unterkünfte für Geflüchtete formiert, die, auch unter Beteiligung von Gemeindemitgliedern, auf dem Marktplatz Unterschriften sammelt. Als Antwort auf die Frage, was es denn die Gemeinde angehe, was in der Schule passiert oder auf dem Markt, wäre eine präzise Funktionsbestimmung der Gemeinde nützlich. Diese Antwort fällt den Verantwortlichen in einer Gemeinde oft schwer, ebenso wie die Aufgabe, das spezifisch Kirchliche oder Theologische in all diesen Themen auszumachen und von hier aus zu bestimmen, was nun die Aufgabe der Kirche sei. Wenn Landeskirchen schließlich Handreichungen zur Verfügung stellen, etwa zu der Frage, ob AfD-Mitglieder sich um ein Amt im Kirchengemeinderat bewerben dürfen,2 mag dies in einer akuten Situation hilfreich sein. Die große Frage nach der Aufgabe der Kirchengemeinde im Gefüge gesellschaftspolitischer Entwicklungen bleibt offen – und sie muss vor Ort angesichts der konkreten Herausforderungen beantwortet werden.
Sozialräumlich betrachtet sind solche Herausforderungen in der Regel zunächst Themen der öffentlichen Diskussion, die erst im zweiten Schritt einen Bezug zur Kirchengemeinde bekommen: Eine Auseinandersetzung mit dem Islam wird sichtbar im Streit um eine Moschee am Ort, die vergrößert werden soll, und sie wirkt sich indirekt aus in der Debatte um eine Unterkunft für Geflüchtete. Soziale Fragen werden mit den steigenden Mietpreisen am Ort sichtbar und verdeutlichen sich in der Debatte um die Kosten für die Gemeindefreizeit. Streitfragen der infrastrukturellen Veränderung, wenn die Postfiliale schließt, wenn durch Ansiedlung eines Betriebs der Lärm oder die Belastung durch Autoverkehr steigen oder wenn die Bushaltestellen im Dorf nicht seniorenfreundlich geplant werden.
Klärung des Politischen
Je unmittelbarer der Bezug zu theologischen Fragen gegeben ist, etwa in der Frage nach Lebensformen und sozialen Anliegen, desto leichter fällt es, gesellschaftspolitische Themen als Themen des christlichen Glaubens anzuerkennen. Je klarer ein Bezug zum Leben einer Kirchengemeinde gegeben ist, etwa in der Diskussion über den Umgang mit Gebäuden oder die Gestaltung einer nachhaltigen Lebensweise, desto leichter fällt der Bezug zum Leben der Kirchengemeinde. Hilfreich ist hier die Klärung des Politischen: Was sind „politischen Themen“? Grundsätzlich geht es dabei um Sachverhalte, die das Miteinander der relevanten sozialen Gruppe vor Ort prägen, also den Stadtteil, das Dorf, die Region, das Land. Dabei spielen Werte und Haltungen eine Rolle, die die öffentliche Diskussion bestimmen, die Rahmenbedingungen und Regeln prägen und Entscheidungen herbeiführen – sowie die Prozesse oder Handlungen, in denen dies geschieht.3 Inwieweit kann – soll – muss sich eine Gemeinde in diesem Sinn mit „der Politik“ befassen?
Dass das Miteinander der Menschen am Ort Gegenstand der (auch: theologischen) Reflexion einer Kirchengemeinde ist, scheint selbstverständlich. Weil damit aber auch die Werte oder Haltungen in den Blick rücken, die das Handeln im Sozialraum prägen, liegt die Herausforderung erstens in der Frage, wie eine christliche Haltung zu diesen Werten zu gewinnen ist, zweitens in der Frage nach der ideologischen Reichweite des christlichen Glaubens bzw. danach, auf welche Bereiche des gesellschaftlichen Lebens der sich beziehen soll, und drittens in der Frage nach der sozialräumlichen Reichweite der Gemeinde, also der Frage nach der Zuständigkeit der Gemeinde für Menschen und Räume in der Parochie auch jenseits der eigenen Aktivitäten. Diese Fragen zu diskutieren und zu beantworten, ist für Kirchengemeinden eine große Herausforderung. Es ist verständlich, dass viele dieser Fragen ungeklärt bleiben – und entsprechend im Fall einer konkreten, herausfordernden Situation wie auf dem Marktplatz, wo Mitglieder der Kirchengemeinde Unterschriften gegen die Unterkunft für Geflüchtete sammeln, zu Ratlosigkeit führen.
2. Gemeinden mit Erfahrung in politischen Fragen: Stecknadel im Heuhaufen
Das Forschungsprojekt „Kirchenmitgliedschaft und politische Kultur“ der EKD hatte das Ziel, die politische Kultur, also die Kultur von Diskussion oder Auseinandersetzung um die Klärung zentraler gesellschaftlicher Fragen, unter Kirchenmitgliedern und in Kirchengemeinden zu erkunden:4 Welche Haltungen finden sich unter Kirchenmitgliedern und wie bestimmen und gestalten Kirchengemeinden dieses Dialogfeld? Einerseits wurde dies in einer repräsentativen Erhebung untersucht, die sich an die Leipziger Autoritarismus-Studie anschloss und Haltungen zu politischen Fragen erkundete.5 Andererseits ließ sich anhand von vier beispielhaften, stark unterschiedlichen Kirchengemeinden erkennen, welche Herausforderungen und welche neuen Möglichkeiten für Gemeinden entstehen, wenn gesellschaftspolitische Fragen zur Sprache kommen.6 Das Ziel war es hier, zu zeigen, wo die Hürden liegen, welche theologischen Anschlussstellen sich für Gemeinden finden und wie schließlich eine Kommunikation über gesellschaftspolitische Themen für die Gemeinden gelingen kann. Im Mittelpunkt standen beispielhafte Themen wie politische Strömungen, Flucht, Migration oder Islam, lokale Infrastrukturentwicklungen, Umwelt und Nachhaltigkeit, soziale Fragen oder Homosexualität.
Schon allein die Suche nach Gemeinden, die sich mit der Frage befassen, was ihre Aufgabe gegenüber gesellschaftspolitischen Herausforderungen sein könnte, bot eine wichtige Erkenntnis: Gemeinden, die sich bewusst politischen Fragen stellen, sind selten. Der Weg zu einer Gestaltung von Diskussions- oder Verständigungsprozessen, die eine Auseinandersetzung ohne tiefe Verwerfungen ermöglichen, erscheint anspruchsvoll. So haben wir mit dem Forschungsteam systematisch in der evangelisch-landeskirchlichen Landschaft in Deutschland nach Gemeinden gesucht, die sich mit gesellschaftspolitischen Fragen befassen, und haben dabei städtische wie ländliche Räume in fast allen Landeskirchen der alten und neuen Bundesländer betrachtet. Anhand von Medienrecherchen und Auskünften aus Kirchenleitungen, kirchlichen Fachstellen und auf Ebene der Kirchenkreise haben wir Regionen erkundet und anhand aktueller Konfliktfelder nach Gemeinden gesucht.
Es überrascht, dass bei landeskirchlichen Leitungsorganen kaum Kenntnis über Gemeinden in solchen Kommunikationsprozessen vorhanden ist, häufiger in Fachstellen wie der Organisations- und Gemeindeberatung oder Bildungseinrichtungen. In der Frage nach konkreten Schritten in einer gelingenden Gestaltung einer politischen Kultur in der Gemeinde scheint das nötige Wissen noch größtenteils verborgen zu sein. Weder hat die praktisch-theologische oder kirchensoziologische Forschung sich bisher mit der gemeindlichen Binnenkommunikation befasst, noch ist in kirchlichen Fachstellen die politische Kommunikation in der Gemeinde über kleine Kreise aktiver oder interessierter Menschen hinweg zum Gegenstand der Arbeit geworden, abgesehen von Fachstellen, die explizit zum Thema Extremismus, Rassismus oder Populismus eingerichtet wurden. Angesichts der Sprengkraft vieler dieser Themen, etwa der Frage nach extremer politischer Gesinnung in den eigenen Reihen oder der sozialen Gerechtigkeit in der Gemeinde, scheint dies durchaus verständlich.
3. Politische Fragen abwehren oder auslagern: wo die gemeindliche Diskussion ausbleibt
Als erstes Ergebnis bietet die Studie damit eine Übersicht über Gemeinden in ihren unterschiedlichen Formen der (Nicht-)Befassung mit politisch-kulturellen Herausforderungen. Drei dieser Formen zeigen kaum oder gar keine strukturierte Auseinandersetzung innerhalb der gemeindlichen Kommunikation. Drei weitere zeigen unterschiedliche Wege, Herausforderungen anzunehmen, kommunikative Plattformen zu entwickeln und Engagementbereiche zu gestalten. Letztere sind in der empirischen Studie intensiv untersucht worden.
„Gemeinden in Abwehr“
Die ersten beiden Formen spiegeln die anspruchsvolle Anfangsphase einer Kultur der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung in der Gemeinde: Gleich einer spontanen Reaktion, die viele Kirchenmitglieder angesichts politischer Fragen haben mögen, zeigten sich einige der von uns vorab in Augenschein genommenen Gemeinden als „Gemeinden in Abwehr“: Es gibt eine handfeste politisch-kulturelle Herausforderung, sei es durch eine Auseinandersetzung um die Arbeit mit Geflüchteten, sei es in stärker theologischer Herausforderung, etwa im Umgang mit anderen Religionen oder der Frage nach der Vereinbarkeit der Mitgliedschaft in einer rechtsextremen Partei mit dem Engagement in der Gemeinde. Sodann versuchen die Verantwortlichen, Unstimmigkeiten über die soziale oder politische Frage zunächst so weit wie möglich im engen kommunikativen Raum der Verantwortlichen zu belassen, etwa das Thema ausschließlich im Kirchengemeinderat oder anderweitig in kleinster Besetzung zu bearbeiten. Die Befassung mit diesem Thema zu veröffentlichen oder die Debatte breit zu führen, scheint bedrohlich, destruktiv oder auch schlicht schädlich für die Gemeinde. In solchen „Gemeinden in Abwehr“ wird viel Energie darauf verwendet, eine Befassung zu verhindern oder deren Reichweite zu beschränken.
In einer Gemeinde ist ein Mitglied des Kirchengemeinderats gegenüber der Zuwanderung und den aktuellen Fluchtbewegungen nach Deutschland sehr kritisch eingestellt. In der Tageszeitung der nahen Kreisstadt veröffentlicht er Leserbriefe, in denen er rassistische Äußerungen macht und zum Widerspruch gegen Unterkünfte für Geflüchtete aufruft. Er diffamiert die Pröpstin des Nachbarkirchenkreises, die sich öffentlich für Akzeptanz und interreligiösen Dialog einsetzt, und tritt politisch in Aktion. Die Gemeinde muss sich damit auseinandersetzen, ob und wie weit sie dies tolerieren kann. Zugleich ist ein Teil der Gemeinde charismatisch-evangelikal orientiert, lehnt jeden Dialog mit Muslimen ab und erklärt die theologische Ablehnung des Islam sachlich für richtig, so dass der Kirchengemeinderat erhebliche Spannungen bewältigen muss. Als unser Forschungsteam mit dem zuständigen Propst Kontakt aufnimmt, um die Gemeinde ggf. in die Untersuchung einzubeziehen, erklärt dieser, das Problem sei schon gelöst, der Mann sei aus dem Kirchengemeinderat ausgeschieden und der Streit sei beigelegt. Damit müsse man sich nicht mehr befassen. Dass die Gemeinde diese komplexe Lage tatsächlich innerhalb weniger Monate bewältigt haben soll, ist kaum zu glauben. Deutlich ist jedoch die Abwehr der politisch-kulturellen sowie theologischen Auseinandersetzung und die hohe Bedeutung von Frieden und Einheit – und zwar sowohl auf der Ebene der Gemeinde als auch auf der Ebene des Kirchenkreises.
„Gemeinden in Deckung“
Eine weitere Form, nun mit einem ausgeprägten Bewusstsein für die Problemlagen und die Notwendigkeit, nach innen und außen Klärung zu schaffen, ist die „Gemeinde in Deckung“. Diese war vor allem dort zu finden, wo die politische Situation vor Ort von Gemeindemitgliedern als tatsächlich bedrohlich interpretiert wird, etwa im Umfeld völkisch-nationaler Gruppen mit rechtsextremer Haltung im ländlichen Raum. Hier sind Gemeinden vielfach eingeschüchtert und beschränken sich auf eine Stellungnahme durch einzelne Gemeindeverantwortliche, etwa mit der Platzierung eines Schildes mit der Aufschrift „Unser Kreuz hat keine Haken“ vor dem Gemeindehaus. Eine umfassende Auseinandersetzung im Sinn einer gemeindeweiten Kommunikation über politische Richtungen und deren Kompatibilität mit dem Evangelium unterbleibt und wird auch bewusst vermieden.
Ein Beispiel für die bewusste Vermeidung ist der Fall einer Gruppe völkischer Siedler, die für den von ihnen geplanten Kindergarten einen Träger sucht und die örtliche Kirchengemeinde um Zusammenarbeit bittet. Hier gibt es innerhalb der Gemeinde unterschiedliche Haltungen zu diesem Anliegen. Der Beschluss, wegen finanzieller Unsicherheiten keine eigene KiTa entwickeln zu wollen, wird im Kirchengemeinderat ohne eine echte Debatte gefasst, und eine Auseinandersetzung um die Frage, wie die Gemeinde insgesamt mit dem Siedlungsprojekt umgehen kann, unterbleibt. Lediglich die Pfarrerin schließt sich einem überregionalen Netzwerk gegen Rechtsextremismus an.
„Gemeinde mit politischem Einzelkämpfertum“
Die dritte Form tritt häufiger in Erscheinung: die „Gemeinde mit politischem Einzelkämpfertum“. Hier exponiert sich eine Einzelperson – meistens ein Pfarrer oder eine Pfarrerin – öffentlich in gesellschaftspolitischen Fragen. „Die Kirche“ oder „die Gemeinde“ wird zwar auf diesem Weg in der Öffentlichkeit indirekt sichtbar, eine gemeindliche Befassung mit politisch-kulturellen Fragen bleibt aber aus. So stellt sich ein Pfarrer im ländlichen Raum medienwirksam gegen eine Supermarktkette, die mit günstigem Fleisch wirbt, und macht auf die Situation der Beschäftigten in der Landwirtschaft aufmerksam. Ein anderer kritisiert offen die Massentierhaltung und den Umgang mit prekär beschäftigten Arbeitskräften. Ein dritter Pfarrer nimmt in prominenter Funktion an Protesten gegen den Braunkohleabbau teil. Offenbar agieren Einzelpersonen hier nach ihrer eigenen politischen Agenda. Dies ist vor allem dort überraschend, wo mit einer Diversität der Meinungen in der Gemeinde zu rechnen ist, weil deren Mitglieder unterschiedliche Haltungen in den Konfliktfeldern haben dürften, wenn sie in den so attackierten Supermärkten, Tierzuchtbetrieben oder im Kohleabbau beschäftigt sind. Gemeinden sehen sich offenbar durch das Handeln einer Pfarrperson nicht dazu verpflichtet, die entsprechende Verständigung auch nach innen vorzunehmen, die dafür nötige Kommunikation zu ermöglichen oder eine Positionierung der Gemeinde zu suchen.
4. Politische Fragen integrieren: wie eine Kommunikation über politische Fragen gelingt
Die intensive Analyse von beispielhaften, sehr unterschiedlichen Fallgemeinden7 im Rahmen der EKD-Studie konnte zeigen, welche Einflussgrößen sich darauf auswirken, dass Gemeinden sich erfolgreich und nachhaltig wirksam auf den Weg zu einer Befassung mit gesellschaftspolitischen Fragen machen.8 An dieser Stelle soll zugleich ein kurzer Überblick darüber genügen, in welchen Formen Kirchengemeinden diese Befassung gestalten können und welche Schwierigkeiten zu überwinden sind.9
„Gemeinden in unfreiwilliger Auseinandersetzung“
Eine dieser Formen der Annäherung an politisch-kulturelle Themen umfasst manche Gemeinden, die zunächst eine Befassung vermeiden wollten, dann aber durch einen konkreten Anlass vor Ort zu „Gemeinden in unfreiwilliger Auseinandersetzung“ werden. So erlebte eine von uns untersuchte Gemeinde bei einer Veranstaltung mit Geflüchteten einen gewaltvollen Vorfall, der mediale Aufmerksamkeit erregte. Die Folge waren ausländerfeindliche Aufmärsche regionaler und überregionaler rechter Gruppierungen in der Kleinstadt. Obwohl sie sich politisch neutral halten wollte, sah sich die Kirchengemeinde dazu gezwungen, öffentlich Position zu beziehen und – was bis heute die eigentliche Herausforderung darstellt – die verschiedenen Haltungen innerhalb der Gemeinde auszubalancieren und theologischen wie gesellschaftspolitischen Argumenten Raum zu bieten. Dass die Gemeinde bisher keine Erfahrung hatte mit dem Entwickeln und Einüben einer dialogischen Kultur in Bezug auf politische Themen, wurde ihr zu einem großen Hindernis. In der Nacharbeit ist wiederum dieser konkrete, das Gemeinwesen betreffende politische Dissens ein Ansporn, sich solchen Themen bewusst zu stellen und Räume und Ressourcen dafür vorzusehen.
„Gemeinde mit Orientierungsfigur“
Aus dem Engagement einer Einzelperson (in einer „Gemeinde mit politischem Einzelkämpfertum“) entsteht an manchen Orten eine „Gemeinde mit Orientierungsfigur“. Hier ist u.U. zwar eine öffentlich erkennbare Person zunächst ohne Rückbindung an die Kirchengemeinde und ihre Gremien aktiv geworden. Sie speist die gesellschaftspolitischen Impulse dann aber in die Gemeinde und ihre Kommunikationsflächen ein, verschafft internen Debatten Raum, ermutigt oder sammelt andere zum gemeinsamen Engagement und entwickelt auf diese Weise über die Jahre eine Kultur der Auseinandersetzung. Eine so geschaffene Fläche ist in der Folgezeit offen für weitere Themen und bietet Anschlussstellen für andere Aktive in Kirche und Kommune, in lokalen Gruppen oder Verbänden. Eine auf diese Weise langfristig entwickelte politische Kultur trägt nach einiger Zeit von selbst, auch beim Ausscheiden der Gründungsfigur, wenn andere Menschen in die Fußstapfen treten und diesen Themenbereich verantworten.
„Gemeinde in routinierter Auseinandersetzung“
Die Form einer „Gemeinde in routinierter Auseinandersetzung“ repräsentiert schließlich Gemeinden, denen es gelungen ist, eine Kultur der Befassung auch mit neu auftretenden gesellschaftspolitischen Fragen zu etablieren – meist am Ende eines längeren Prozesses. Viele solcher Gemeinden gehen bewusst offen mit politisch-kulturellen Fragen um und scheuen die Öffentlichkeit nicht. Besonders augenfällig ist das in Gemeinden mit einer jahrzehntelangen Tradition der Auseinandersetzung im großstädtischen Kontext, rund um lokale Konflikte wie in der Hamburger Hafenstraße, im Ausbau von Autobahnen oder Start- und Landebahnen für den Flugverkehr oder in sozialen Fragen. Allerdings blicken diese Gemeinden auf Zeiten zurück, in denen sie sich zwischen Szenen von Sozialaktivistinnen und -aktivisten und deren politischen Anliegen, offen homosexuell lebenden Pfarrpersonen und Herausforderungen des multireligiösen Umfelds in einem oft bürgerlichen Wohnumfeld bewegen mussten. Abgesehen von solchen in der Öffentlichkeit bekannten Gemeinden finden sich zahlreiche weitere, die ihre Befassung eher in Etappen, mit punktueller Öffentlichkeitsarbeit oder anlassorientiert organisieren. Dabei stellt zwar jede neue Frage wieder eine eigene Herausforderung dar, jedoch sind die kommunikativen Flächen, auf denen diese bewältigt werden kann, trotz mehrfacher personeller Wechsel etabliert.
5. Zusammenschau: Ebenen der Herausforderung – Ebenen der Chancen
Auf den ersten Blick ist zu erkennen, dass gesellschaftspolitische Themen für eine Gemeinde höchst unterschiedliche Herausforderungen bereithalten – je nach lokaler Situation, personeller Konstellation und den Interessen der Aktiven vor Ort. Von hier aus entfalten sie eine jeweils eigene Dynamik. Grundsätzlich lässt sich sagen, dass eine Gemeinde gar nicht anders kann, als sich hier oder dort mit gesellschaftspolitischen Themen zu befassen. Wo solch ein Thema den Rahmen einer individuellen Begegnung sprengt, wo also nicht nur eine Pfarrperson im Seelsorgegespräch mit einem politischen Thema konfrontiert ist, sondern dieses Thema die Gemeinde insgesamt betrifft, ist diese davon berührt. Zunächst ist relevant, auf welcher Ebene die Gemeinde diesem Thema begegnet:
Die Thematik kann vorwiegend nach innen gerichtet wahrgenommen sein, etwa dort, wo sich eine Gemeinde mit Homosexualität befasst und die Diskussion sich auf gemeindeinterne Prozesse beschränkt – ausgelöst etwa durch das Coming-out einer Mitarbeiterin oder das rechtsnational-politische Engagement eines Gemeindemitglieds. Sie kann umgekehrt vorwiegend von außen auf die Gemeinde zukommen, etwa dort, wo Themen, die im Sozialraum Bedeutung erhalten, sich in der Gemeinde ebenfalls entfalten, wie es bei Infrastrukturentwicklungen oder sozialen Fragen geschieht.10 Während im ersten Fall schnell deutlich ist, dass sich die Gemeinde mit diesem Thema befassen muss, ist im zweiten Fall zunächst zu klären, inwiefern die Gemeinde berührt ist und mit welchem Ziel eine Auseinandersetzung geschieht – in theologischen Fragen oder der Funktion der Gemeinde nach innen oder außen. Die Aufgabe, theologische und gesellschaftspolitische Fragen zusammenzudenken, erweist sich als eine eigene Herausforderung.
Das Prinzip, die Kommunikation des Evangeliums gegenüber „der Politik“ in den Vordergrund zu rücken, ist in den Gemeinden unterschiedlich stark ausgeprägt. Grundsätzlich aber ist die Notwendigkeit angesichts sozialpolitischer Herausforderungen und aktueller Entwicklungen in der politischen Landschaft, die thematische Schnittstelle der christlichen Gemeinde zur politischen oder sozialen Frage zu bestimmen – als angewandte kirchentheoretische Reflexion –, und von hier aus sind die nötigen (auch: theologischen) Reflexions- und Kommunikationsprozesse zu gestalten.
Anmerkungen
1 An dieser Stelle danke ich den Studierenden der Evang. Theologie an der Universität Bonn für die Einblicke in ihre Praxiserfahrungen in Gemeinden und zahllose Anregungen.
2 So geschehen u.a. 2019 zur Wahl des Kirchengemeinderats der Evang. Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz: https://www.ekbo.de/fileadmin/ekbo/mandant/ekbo.de/3._THEMEN/Kirche_und_Politik/Mutig_streiten/EKBO-Handreichung_GKR-Wahl_2019._Kriterien_f%C3%BCr_Ausschluss_wg_menschenfeindlichen_Verhaltens.pdf.
3 Vgl. Werner Patzelt: Einführung in die Politikwissenschaft, Passau 52003, 23.
4 Die Ergebnisse sind publiziert unter: Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) (Hg.): Zwischen Nächstenliebe und Abgrenzung. Eine interdisziplinäre Studie zu Kirche und politischer Kultur, Leipzig 2022.
5 Die Datenerhebung fand Anfang 2020 statt. Für die Ergebnisse vgl. Oliver Decker/Elmar Brähler (Hg.), Autoritäre Dynamiken. Alte Ressentiments – neue Radikalität. Leipziger Autoritarismusstudie 2020, Gießen 2020; Gert Pickel u.a.: Kirchenmitgliedschaft, Religiosität, Vorurteile und politische Kultur in der quantitativen Analyse, in: EKD (Hg.): a.a.O., 24-98.
6 Vgl. Claudia Schulz/Manuela Barriga Morachimo/Maria Rehm: Kirchengemeinden in Aushandlungsprozessen um politisch-kulturelle Themen, in: EKD (Hg.): a.a.O., 169-239.
7 Schulz/Barriga Morachimo/Rehm, Kirchengemeinden in Aushandlungsprozessen, 174-176.
8 Für eine ausführliche Analyse der Einflussgrößen vgl. a.a.O., 180-192.
9 In einem weiteren Sinn hat bereits eine frühere Studie über eine zivilgesellschaftliche Rolle der Kirchengemeinde wichtige Ergebnisse geliefert: David Ohlendorf/Hilke Rebenstorf: Überraschend offen. Kirchengemeinden in der Zivilgesellschaft, Leipzig 2019.
10 Frühere Studien hatten gezeigt, wie sich politische Haltungen unter Kirchenmitgliedern darstellen, vgl. etwa Olaf Lobermeier/Jana Klemm/Rainer Strobl: Abschlussbericht Kirchenmitgliedschaft und politische Kultur. Ausprägungen von Elementen Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit unter Mitgliedern der evangelischen Kirche, Hannover 2016.
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 5/2022