Ist unsere Kirche längst dem Mammon verfallen? Katharina Dang diagnostiziert kritisch die Macht des Geldes in der Kirche. Nach einer kritischen Auseinandersetzung mit einem Roman von Ayn Rand, den sie als „ideologischen Wegbereiter des Neoliberalismus“ bezeichnet, zeigt sie auf, wie sehr die evangelische Kirche den Verführungen monetärer Sicherheit folgt und damit ihren Auftrag verrät.
Ayn Rand ist als Autorin bei uns weitgehend unbekannt. In den USA wurde ihr Hauptwerk 1991 gleich nach der Bibel am zweithäufigsten genannt, als ein Buch, das das Leben seiner Leser verändert hat.1 1957 dort unter dem Titel „Atlas Shrugged“ herausgegeben, erschien es 1958 in deutscher Übersetzung mit dem Titel „Atlas wirft die Welt ab“ bzw. 1997 als „Wer ist John Galt?“ sowie 2012 in neuer Übersetzung als „Der Streik“. In den USA kam es als Trilogie 2012-2014 in die Kinos. Dies passiert sicher nicht zufällig, ist der Roman doch ein ideologischer Wegbereiter des Neoliberalismus. In mir aber hat es Erinnerungen aus der DDR-Zeit wachgerufen, aber auch an so manches, was ich in unserer Kirche zurzeit erlebe.
Ein antikommunistischer Bestseller
Ayn Rand, als Alissa Sinowjewna Rosenbaum 1905 in Sankt Petersburg geboren, erlebte als 12jährige die Februar- und die Oktober-Revolutionen mit. Ihr Vater, ein jüdischer Apotheker, wurde enteignet. Dass sie in ihrem Hauptwerk kommunistische Ideen attackiert, wundert mich nicht, dafür umso mehr, dass sie im Buch durchspielt, wie eine dem Kommunismus ähnliche Gesellschaftsordnung in den USA nach und nach verwirklicht wird, nachdem alle anderen Länder schon solche „Volksstaaten“ geworden wären.
Für jemanden wie mich, die in der DDR die sozialistische Weltanschauung kennengelernt hat, ist dieses Werk aber nur scheinbar eine Auseinandersetzung mit der marxschen Frage, wie eine Gesellschaft gestaltet werden kann, in der die Arbeiter einen gerechten Teil an den Früchten ihrer Arbeit erhalten. Tatsächlich beschreibt die Autorin einen Kampf innerhalb der Elite, der Reichen, ja zwischen Geschwistern.
Zwei Parteien stehen sich gegenüber: Die Guten sind sehr kluge, kreative Gebildete, die unentwegt arbeiten, täglich bis in die Nacht hinein und sich nichts gönnen. Ihren Besitz an Bergwerken, Fabriken, Stahlwerken, Eisenbahngesellschaften haben sie mit eigenen Kräften gegen viele Widerstände errichtet. Sie sind vorbildlich auch gegenüber ihren Arbeitern und werden von diesen hochgeschätzt. Ihre Gegner sind ebenfalls Industrielle, die sich allerdings weniger um die Produktion ihrer Betriebe bzw. z.B. ein reibungsloses Funktionieren des Eisenbahnverkehrs kümmern als um ihre Beziehungen zur Regierung. Sie bemühen sich bestimmte Gesetze durchzubekommen, die sie vor den Besseren im eigenen Lager schützen sollen, also den Konkurrenten auf dem Markt. Darum lieben sie Empfänge, auf denen sie die entsprechenden Leute treffen, die Kontakte zur Presse und zur Wissenschaft pflegen. So versuchen sie ihr fachliches Unvermögen wettzumachen.
Wohltätigkeitsideologie?
Im Kampf gegen Intellektuelle, die den sozialistischen Idealen aufgeschlossenen sind, ist Ayn Rand jedes Mittel recht. So attackiert sie nicht das in der Sowjetischen Verfassung von 1936 verankerte Prinzip „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung“, sondern das von Marx als Zukunftsziel einer kommunistischen Gesellschaft formulierte Prinzip: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“2. Anders als Marx versteht sie unter Bedürfnissen nicht das wirklich Lebensnotwendige, sondern die sich ins Endlose vermehrenden Sehnsüchte, das zu haben, was ein anderer hat bzw. irgendwie denkbar und wünschbar ist. Dies ad absurdum zu führen, hat die Autorin natürlich leichtes Spiel und so ist dies eines ihrer Lieblingsthemen, um die „Mystiker“, vor allem auch die Christen und – ohne ihn zu nennen – Jesus zu attackieren.
Da die „Bösen“ im Roman diese von der Autorin konstruierte Wohltätigkeitsideologie vertreten, aber tatsächlich geschäftliche Konkurrenten bis hin zu eigenen Familienmitgliedern sind, entlarvt sie mit ihrer Schilderung die Hohlheit einer Ideologie, die angeblich dem Gemeinwohl diene, in Wirklichkeit aber dessen Zerstörung verschleiert.
Mit diesem Stilmittel der Schwarz-Weiß-Malerei lenkt die Autorin den Blick auf die heutige Gesellschaft. Bestimmte Fragen zu stellen, grenzt sofort aus. Anderes stellt einen augenblicklich auf die Seite der Guten, z.B. Geld zu spenden für Arme. Je größer das Elend ist, umso mehr könnte dabei zusammen kommen. Einfach nur in Not zu sein, reicht nicht, um die Hilfe von Sozialarbeitern und die Fürsorge des Staates in Anspruch nehmen zu können. Man muss in eine bestimmte Kategorie passen. Im Roman nimmt sich nach den erlebten Abweisungen die Frau eines der Superreichen das Leben. Sie stammt zwar aus sehr armen Verhältnissen. Dass sie vor ihrem Mann flüchtet und augenblicklich Hilfe braucht, ist im System nicht vorgesehen.
Nicht nur bestimmte Fragen zu stellen, stellt ins Abseits, sondern bei einer solch herrschenden Meinung auch der gesellschaftliche Stand. Die Armen und Notleidenden sind per se „gut“, wogegen die Reichen, die also viel haben, als geizig und habgierig diffamiert werden. Sie haben zu geben und wenn sie dies nicht von selbst tun, dann werden sie enteignet. Da sie aber nicht nur reich, sondern auch die Führungskräfte in der Wirtschaft sind, bricht die Wirtschaft ohne sie zusammen. Deshalb erwarten die „Bösen“ im Roman von ihnen, dass sie trotz ihrer öffentlichen Diffamierung weiter ihre Arbeit tun, auch wenn ihr Werk ihnen nicht mehr gehört und sie über dessen Gewinn nur noch sehr begrenzt verfügen können, sie mit immer mehr Auflagen geknebelt und in ihrer unternehmerischen Freiheit eingeschränkt werden.
Der Roman zeigt aber auch, dass nicht der gesellschaftliche Stand das Entscheidende ist, sondern das Mäntelchen, das ich mir mit dem Gebrauch der vom Mainstream legitimierten Ausdrucksweise, Wort- und Themenwahl beim Reden und Schreiben umhänge. Die Zensur funktioniert im eigenen Kopf, der erspürt, was genehm und für die persönlichen Ziele hilfreich ist und was man lieber lässt und verschweigt. Fragen, ob es sich wirklich noch so verhält, ob das Geld, die Hilfslieferung wirklich einem guten Zweck dienen oder womöglich sogar Teil einer eigenen Kriegsstrategie3 sind, gegen wen auch immer, dürfen besser nicht laut gestellt werden.
Aber auch wenn dies geschieht und jemand den Mut hat, ehrlich zu reden und das Mäntelchen der angeblichen Humanität zur Seite zu schieben, wird dies nach dem ersten Schreck in die allgemeine Propaganda eingebaut und dient dem Beweis, dass doch Freiheit in der Meinungsäußerung herrsche. – Dies wird im Roman ausführlich anhand von zwei Radioansprachen der Helden geschildert.
Allgemein Menschliches?
Vermutlich waren Erfahrungen während der Weltwirtschaftskrise der Hintergrund von Ayn Rands Schilderungen des Niedergangs der US-amerikanischen Gesellschaft. So beschrieb sie möglicherweise allgemein menschliches Verhalten angesichts des Niedergangs einer bis dahin blühenden Wirtschaft bzw. Institution. Ich jedenfalls konnte mich beim Lesen aufgrund eigener Erfahrungen in die Hauptpersonen sehr gut hineindenken, auch wenn ich keine Transkontinentale Eisenbahngesellschaft und kein Stahlwerk geleitet habe, sondern nur bis Ende 2018 für eine evangelische Kirchengemeinde in Berlin mitverantwortlich war.
Wir leben in einer Zeit, in der vom Bedeutungsverlust der Kirchen in Deutschland vielfach die Rede ist. Nun wird auch noch von kirchlichen Medien und leitenden Geistlichen eine Halbierung der Mitgliederzahl unserer evangelischen Kirchen in Deutschland für das Jahr 2060 angesagt, also mehr als 40 (!) Jahre im Voraus und davon als von einer Tatsache geredet, die angesichts des demografischen Wandels nicht hinterfragt werden muss. Da entsteht leicht eine Stimmung, in der man sich wie im Sommer 1989 in der DDR darüber unterhält: „Wer macht am Ende das Licht aus?“
„Gehe ich lieber auch und suche mir etwas anderes, jetzt wo noch etwas anderes zu finden ist, bevor dann alle anderen auch kommen, oder bleibe ich und stabilisiere damit ein an sich schon zusammenfallendes System, verzögere also dessen Ende?“, fragt sich wie Dagny im Roman möglicherweise schon mancher auch heute.
Andere, denen nicht die Sache, um die es in der eigenen Arbeit geht, so am Herzen liegt wie mir, schauen den Verfall womöglich mit anderen Augen an: Hier geht sowieso alles demnächst zugrunde. Was kann ich mir aus dieser Konkursmasse problemlos rausholen und für eigene Zwecke nutzen, egal ob ich es jetzt dringend brauche oder nicht. Sicher ist sicher, ehe sich andere den Zugang dazu verschaffen. – Im Roman wird dies ausführlich beschrieben.
Dem Mammon vertrauen
Statt sich den demographischen Wandel genauer anzusehen, schließlich haben wir mit 83 Mio. eine Höchstzahl von Einwohnern in Deutschland, wird von einer Halbierung nicht nur unserer Kirchenmitgliederzahl, sondern auch unserer Finanzmittel ausgegangen. Man folgert, dass wir jetzt schon sparen und unsere Strukturen dem anpassen müssten, damit wir unseren Kindern auch noch etwas von dem, was unsere Vorfahren an Gütern zusammengetragen haben, überlassen könnten. – Das ist natürlich ein Mäntelchen, das nur mühsam mit dem Argument der Generationengerechtigkeit verdeckt, was darunter steckt: Das Vertrauen auf den Mammon, das Geld.
Obwohl der Dollar und sein Zeichen von Ayn Rand kultisch verehrt wurde und so auch das letzte Wort ihres Romans ist, wusste sie sehr genau, wo der wahre Reichtum des Landes war: nicht auf den Banken, schon gar nicht als Papiergeld, sondern in den fähigen Köpfen und engagierten Herzen der Menschen, die etwas im Leben bewegen wollen und Freude an der Arbeit haben, sowie in den von ihnen geschaffenen handfesten Werken und Erfindungen.
Die Landessynode der EKBO hielt es nicht für wichtig, einem Wunsch des Arbeitskreises Kirche und Ökonomie, eingebracht als Antrag durch die Kirchengemeinde Marzahn/Nord, zu entsprechen und sich theologisch mit dem Zinsverbot der Bibel zu beschäftigen. Das war noch vor der Finanzkrise 2008/09. Nun aber gelten seit etlichen Jahren die Pensionen der Pfarrer*innen als das Hauptproblem der Zukunft. Nach dem Ende der DDR hatten viele erwartet, dass ähnlich wie in anderen ehemaligen sozialistischen Staaten auch viele DDR-Bürger wieder zur Kirche zurückkehren würden. Aber das Gegenteil war der Fall. Es gab eine große Austrittswelle aufgrund der Einführung des Abzugs der Kirchensteuer vom Lohn und so eine Finanzkrise in der EKBO.
In der zweiten Hälfte der 1990er Jahren sollten deshalb möglichst viele Pfarrer in den Vorruhestand gehen, mit 58 oder wenigstens 60 Jahren, um den Haushalt der Landeskirche zu entlasten. 1999 wurden wir Ost-Pfarrer*innen aus der staatlichen Rentenversicherung, in die wir zu DDR-Zeiten eingekauft worden waren, wieder herausgenommen. Da das Argument, dass dann die Pensionskassen vielleicht Probleme bekommen könnten, nicht ernst genommen wurde, bekamen sie mit der Niedrigzinspolitik der EZB seit 2008 nun doch Sorgen, erst recht aber durch die Nullzinspolitik seit März 2016. Mit Zinserträgen sollten die Pensionen bezahlt werden, nicht mit dem Kapital, das den Grundstock dafür bilden sollte, was schon bei Niedrigzinsen immer gewaltigeren Ausfall bedeuten musste und bei Nullzinsen oder gar Negativzinsen gar keinen Sinn mehr ergibt.
Negativzinsen aber, und gerade solche auf große Kapitalanlagen, sind nicht nur aus meiner Sicht an sich eine gute Sache. Geld sollte immer wieder unter die Leute kommen, um die Wirtschaft anzukurbeln, nicht aber als Sicherheit für künftige Zeiten irgendwo gebunkert werden. Wenn das Letztere scheinbar funktioniert, dann immer nur als Glücksfall. Denn Geld ist ein Tauschmittel für Waren, Waren sind aber nicht unbegrenzt haltbar und Boden als sicherstes Gut steht nicht unbegrenzt zur Verfügung und muss auch genutzt werden, um Rendite zu ermöglichen.
Statt Jesu Wort ernst zu nehmen: „Niemand kann zwei Herren dienen … Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon“ (Mt. 6,24), wird in unserer Kirche dem Geld vertraut und versucht, es anzuhäufen.
Man will zu den „Guten“ gehören
Die Stellen der Katechet*innen wurden bei uns mit als erste gekürzt. Die Messgröße in unserem Kirchenkreis waren nicht die in der Gemeinde vorhandenen Kinder, sondern die regelmäßig pro Woche kommenden Kinder. Wenn wir so unsere Pfarrstellen damals auch schon berechnet hätten, wie sähe dann jetzt unsere Kirche aus? Zum Glück musste ich darüber in meinem Dienst nie Nachweis führen, um meine Arbeit gegenüber vorgesetzten Dienststellen zu legitimieren. Aber die Katechet*innen! Soviel zur Generationengerechtigkeit. Damit unsere Kinder in 40 Jahren auch noch Kirchengemeinden erleben können, wird nicht erst jetzt, sondern wurde schon seit zig Jahren an ihnen gespart.
Ganz klar ist uns aber, dass wir als Kirche auf der Seite der „Guten“ in der Gesellschaft stehen, in der seit etlichen Jahren eine zunehmende Zahl von „Bösen“ registriert wird. Nicht Sachfragen stehen im Mittelpunkt vieler medialer Diskussionen, sondern Lippenbekenntnisse, das Beste für unser Land und die gesamte Welt zu bezwecken.
Dazu gehört auch, sich finanziell daran zu beteiligen, egal wie wenig es ist, Hauptsache man wird als Spender genannt und kann sich Unterstützer der entsprechenden Initiative oder Hilfsaktion nennen. Dass man mit Geld allein kaum eines der großen Probleme heute lösen kann, steht auf einem andern Blatt. Hauptsache, man fühlt sich selber gut, weil man zu den Guten in der Welt gehört. Aber zu diesen Guttaten wird das uns insgesamt zur Verfügung stehende Geld nicht ins Verhältnis gesetzt. Wie viel geben wir für uns selber aus? Wer erhält wie viel?
Schon seit Jahren fällt es schwer, Menschen vom Fach für die Aufsichts- und Entscheidungsgremien sowohl bei der Diakonie wie in den Kirchengemeinden und für Synoden zu gewinnen, die auch in der Lage sind, die verhandelten Vorgänge zu beurteilen. Erst recht schwierig ist es, solche zu finden, die nicht nur Fachkompetenz mitbringen, sondern auch noch die Zeit, sonntags den Gottesdienst zu besuchen und sich auch sonst noch ehrenamtlich in der Gemeinde zu engagieren und ernsthaft nach der Lehre Jesu zu fragen.
So lange festangestellte, gut ausgebildete und engagierte Mitarbeiter da sind, kann ein Fehlen solcher externer Fachkräfte zur Not zeitweise verkraftet werden, ist aber nicht gut. Dann wird aus einer Gemeinde, in der sich alle mit ihren Gaben und Talenten einbringen, ein Dienstleistungsbetrieb von dafür Ausgebildeten und Bezahlten für Konsumenten der geistlichen Angebote.
Das Eigentum unserer Gemeinden anderen überlassen?
Es gerät in Vergessenheit, wem was eigentlich als Eigentum gehört. 101 Jahre nach dem Ende des Landesherrlichen Kirchenregiments ist es doch wohl schon lange überfällig, danach zu fragen. Vom Körperschaftsrecht her ist jede Gemeinde selbständig eine Körperschaft öffentlichen Rechts. Was darüber steht, war bis zur Erklärung, „Kirche“ zu sein, nur Verwaltungsebene für gemeinsam besser zu regelnde Fragen: in der EKBO die Kirchenkreise bis 2012. Die EKD hat 2015 ebenfalls eine Grundordnungsänderung in diesem Sinne beschlossen: Im Art. 1, Abs. 1 wurde der Satz „Sie ist als Gemeinschaft ihrer Gliedkirchen Kirche“4 eingefügt. Inzwischen hat die letzte Landeskirche dem zugestimmt. Seit 10. Oktober 2019 versteht sie sich also als Kirche.5
Historisch ist das Eigentum jeder Gemeinde anders, weil auf vielfältige Weise entstanden: gestiftet und erhalten durch die Patrone der Kirchengebäude, gebaut von den Zünften oder den Magistraten der Städte, durch Erbschaften, Vermächtnisse, Stiftungen, Spenden … und seit Bismarcks Zeiten auch durch Kirchensteuern finanziert. Wem gehört das Land auf dem die Kirchen errichtet wurden? Wem gehörte das Ackerland, das verpachtet oder von der Pfarrfamilie selbst genutzt wurde, um sich zu ernähren? Wenn es nun keine Pfarrer*innen mehr geben wird, ist es noch gerechtfertigt, dieses Land zu behalten und dessen Erträge für ganz andere Personen zu verwenden, von denen die Menschen vor Ort keinerlei Nutzen haben?
Hängt wirklich von unseren materiellen und finanziellen Gütern als Gemeinden und Kirche unser Wirken zu Nutzen der Gesellschaft ab? Oder ist es nicht vielleicht umgekehrt? Nehmen gerade diese finanziellen und materiellen Güter unsere Zeit und Kräfte so in Anspruch, dass wir für unsere eigentliche Aufgabe, nahe bei den Menschen zu sein und ihnen die frohe Botschaft Jesu zu bringen, kaum Gelegenheit haben?
Zum „Glück“ gibt es immer noch Touristen und Kulturinteressierte, die sich unsere Kirchen als Relikte einer großen Vergangenheit anschauen, und den Denkmalschutz, der deren Erhaltung fördert, sowie kreative haupt- und ehrenamtliche Mitarbeiter, die unsere großen alten Kirchen in dieser Hinsicht zu nutzen wissen. Doch als Versammlungsorte einer lebendigen Ortsgemeinde sind sie in der Regel viel zu groß, zu teuer und zu kalt. Hängt vom Erhalt dieser vielen historischen Kirchen unser Christsein ab? Viele Gläubige versammeln sich bekanntlich schon seit Jahrzehnten in anderen Gebäuden, in Sälen, Läden oder selbst errichteten neuen Gemeindezentren.
Durch Fusionen werden die Eigentumsverhältnisse für die Gemeindeglieder vor Ort noch unübersichtlicher, als sie es aus der Historie schon sind. Die Erklärung, „Kirche“ zu sein, hat sowohl aus den Kirchenkreisen wie aus der EKD letztendlich Eigentümer gemacht. Ein Konzern6 wird gebildet, über den nur noch mittels der Aufnahme des gesamten Besitzstandes in entsprechenden Dateien ein Überblick verschafft werden muss. Wenn das vollendet ist, kann betriebswirtschaftlich effektiv eingegriffen werden, Unrentables abgestoßen und Zukunftsträchtiges gefördert werden? Wer entscheidet dann darüber? Welche Spezialisten nach welchen Kriterien?
Dahinter steht die Illusion, man könne erfolgreiche Modelle kirchlicher Arbeit einfach auch auf andere Orte übertragen, ohne die Menschen vor Ort und ihre Eigenarten zu berücksichtigen.
Jesus hat uns anderes gelehrt
Jesus hat uns eine andere Arbeitsweise vorgegeben: das Wort Gottes auszustreuen wie Samen auf das Land. Sicher Dreiviertel von dem Ausgestreuten wird bei ihm gar nichts oder verkümmert nach dem Aufgehen gleich wieder, aber ein Viertel bringt hundertfältig Frucht und gleicht so alles aus. Von einem Wachstumsprozess wird nicht nur hier in der Heiligen Schrift geredet, von etwas Lebendigem, das gehegt und gepflegt werden muss, das Nahrung benötigt, Regen und Sonnenschein, ehe die Ergebnisse bei der Ernte sichtbar werden, nicht von Geld, dessen optimale Anlage den erwünschten Erfolg bringe. Im Gleichnis Jesu von den anvertrauten Talenten geht es ja bekanntlich um unsere Talente/Gaben als Gläubige.
Nutzen wir die Gaben unserer Gläubigen, lassen wir sie in unserer Kirche zum Zuge kommen? Unsere jungen Leute, Vikarinnen und jungen Pastoren werden noch vor aller praktischen Arbeit auf die Burnout-Gefahr in diesem Beruf aufmerksam gemacht. Präventionsstrategien werden ihnen nahegelegt. Nicht die Streichung so vieler Mitarbeiter und Pfarrstellen, nicht die Zusammenlegung der Gemeinden und Kirchenkreise zu immer größeren Verwaltungseinheiten erscheinen als das Problem, sondern die Gemeinden, die zu viel von ihren Pastor*innen erwarten. Dabei ist es der schönste aller Berufe, weil so vielfältig. Alle Emotionen kommen vor, nicht nur Leid und Trauer, sondern auch Freude und Dankbarkeit. Immer neue Aufgaben sind zu lösen und Probleme kommen auf den Tisch und fordern unser Denkvermögen, regen Nachfragen an und ermöglichen inneres Wachstum. So bleibt die Neugierde auf die Welt erhalten, auf Gottes Wirken unter uns, auf Geheimnisse, die es zu entschlüsseln gilt.
Richten wir unsere Augen auf die Gemeindeglieder vor Ort! Gemeinde ist, wo sie sich versammelt und nicht unbedingt, wo die Kirchengebäude stehen. Versammelt sie sich zu Hause, und die Wohnstube reicht aus? Hat sie die Kraft, ihr Kirchengebäude aus eigener Kraft zu erhalten und zu nutzen, vielleicht auch mit Hilfe anderer christlicher Gemeinschaften und Mieter? Überfrachten wir sie nicht mit dem, was sie noch alles eigentlich tun und sein sollten, z.B. digital im Netz, wo doch jeder jeden kennt und per Handy erreicht werden kann?
Die vielen gesetzlichen Reglungen, die wir in unseren Kirchen haben und seit den Zeiten der Verwaltung durch die kaiserlich-königlichen preußischen Ministerien auch noch entsprechend nennen, sind nur effektiv in einem Großkonzern, von dem der Staat und die Kommunen mit Recht verlangen können, dass man sich dort an alle auch für die übrigen Konzerne geltenden Bestimmungen für Gesundheits- und Unfallschutz, Hygiene, Arbeitsrecht, Versammlungsrecht, Brandschutz usw. hält und selbst dafür Sorge trägt, dass dies auch ordnungsgemäß eingehalten wird.
Um dies alles zu verstehen und anzuwenden aber benötigt man Fachkräfte, externe oder firmeneigene. Wie kleine Vereine sind viele Gemeinden damit überfordert, brauchen aber das meiste davon auch nicht zu wissen, weil es sie in ihrer Arbeit nicht betrifft.
Tun wir das, was Jesus uns aufgetragen hat
Gehen wir zu allen Völkern – hier bei uns treffen wir sie inzwischen an, gleich in der Wohnung nebenan. Wir müssen nicht mal mehr andere Sprachen lernen, die anderen lernen unsere. Unsere Organisationsstruktur als Landeskirchen ehemaliger deutscher Fürstentümer wird vor Ort mehr und mehr abgelöst werden von einer ökumenischen Zusammenarbeit gerade auch mit fremdsprachigen Gemeinden und Kirchen, mit all jenen, die als Christen in unserem Ort anzutreffen sind.
Stellen wir die Kinder in unsere Mitte und in den Mittelpunkt unseres Tuns und holen sie dort ab, wo sie sind – im Internet, in ihren phantastischen Welten auf der Flucht vor dem Leistungsdruck dieser Welt hier. Nehmen wir uns Zeit für sie, mit ihnen zu reden, zu spielen, zu lachen, die Welt zu entdecken, und verschonen wir sie damit, jetzt schon unsere uralten Strukturen und Verfahrensweisen verstehen zu müssen.
Reden wir darüber, was Jesus uns aufgetragen hat, und versuchen wir dies unter den gegenwärtigen Bedingungen zu leben, als Einzelne und als Gemeinschaft. Angesichts der Ideologien der heutigen Zeit und auch eines als selbstverständlich akzeptierten ignoranten Atheismus einer Ayn Rand ist nichts aus meiner Sicht wichtiger als Jesu Worte ins Gespräch zu bringen. Denn nicht nur in rechten Kreisen gibt es Ansätze zu faschistischem Denken, auch in den hochgeehrten Kreisen der Wissenschaft, wenn dem Menschen an sich kein Wert zuerkannt wird, sondern er im Gegenteil als Kostenfaktor zu berücksichtigen ist, wenn er mehr und mehr als überflüssig angesehen wird, da Künstliche Intelligenz und Roboter demnächst an seine Stelle treten würden, wenn Kinder nur zur Überbevölkerung beitragen, wo doch andererseits Leistungsträger der Gesellschaft wie Raymond Kurzweil7 alles daran setzen, nicht sterben zu müssen und unsterblich werden wollen …
Lassen wir das Geld Geld sein, ein Mittel, das den Tausch von Waren erleichtert, aber erwarten wir von ihm keine Sicherheit im Blick auf die Zukunft, kein Heil und keine Heilung unserer Probleme! Sorgen wir uns darum, dass so viele in unserem Land, vor allem hier im Osten, nach den Erfahrungen mit der Wiedereinführung der Kirchensteuer als Lohnabzug durch den Arbeitgeber und nun bei Zinserträgen durch die Banken „Kirche“ als diejenigen assoziieren, die nur hinterm Gelde her sind. Es wird lange Zeit und viel Mühe kosten, diesen Stempel wieder loszuwerden. Umso wichtiger ist eine klare und für alle sichtbare Abkehr vom Vertrauen auf Geld, in grauer Vorzeit ererbte Rechte und Besitz nötig. Dass wir Pfarrer dabei unsere Pensionen ganz oder in der gegenwärtigen Höhe einbüßen werden, macht mir keine Angst. Der Herr, unser Gott wird uns nicht verhungern lassen und wenn wir nur so viel haben, wie die Ärmsten unter uns, die Rentner mit Grundsicherung bzw. Hartz-IV-Empfänger, dann sind wir auch emotional wieder näher bei denen, die Jesus uns besonders ans Herz legt. Wir würden dann auch über den Bedeutungsverlust bei den Mächtigen und Tonangebenden in der Gesellschaft nicht mehr so traurig sein, wie bisher. 
Anmerkungen
1 https://web.archive.org/web/20050405203828/http://www.loc.gov/loc/cfbook/booklists.html – Zugriff am 18.9.2019.
2 Karl Marx: Kritik des Gothaer Programms, MEW 19, 21, so laut: https://de.wikipedia.org/wiki/Sozialistisches_Leistungsprinzip – Zugriff am 27.9.2019.
3 Vgl. Ulrich Duchrow, Gert Eisenbürger und Jochen Hippler (Hrsg.): Totaler Krieg gegen die Armen. Geheime Strategiepapiere der amerikanischen Militärs. 2. Aufl. Christian Kaiser-Verlag, München 1991. Die amerikanische Kriegsstrategie low intensity conflict, https://de.wikipedia.org/wiki/Konflikt_niedriger_Intensit%C3%A4t – Zugriff am 27.9.2019.
4 https://www.ekd.de/synode2015_bremen/beschluesse/s15_08_viii_3_beschluss_kg_aenderung_grundordnung.html – Zugriff am 27.9.2019.
5 Amtsblatt der EKD 11/19, 270, s. https://kirchenrecht-ekd.de/kabl/44649.pdf#page=2.
6 S. Thesen der Gemeindebünde der EKD zum Sonntag Judica, dem 2. April 2017, veröffentlicht u.a. auf der Webseite de rEv. Kirchengemeinde Marzahn/Nord, jetzt unter „Berichte und Fotos 2017“ unter: http://archiv.zusammenleben-berlin.de/berichtfoto?showall=&start=2, sowie das „Wormser Wort: Nein zum bisherigen Umbauprozess der Kirche durch die EKD“, http://aufbruch-gemeinde.de/wordpress/?p=948 – Zugriff am 27.9.2019.
7 https://de.wikipedia.org/wiki/Raymond_Kurzweil; https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/bilder-und-zeiten-1/im-gespraech-ray-kurzweil-werden-wir-ewig-leben-mister-kurzweil-1514269.html.
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 8/2020