Gary Dorrien (Jahrgang 1952) ist ein amerikanischer Repräsentant des liberalen Christentums. »Liberales Christentum oder keines« gibt er anlässlich eines Vortrags im Juli 2018 in München als Devise aus. Die evangelische Fakultät der Universität München hatte zu ­einer Tagung mit dem Titel »Liberale Theologie heute« eingeladen. Dorrien referierte zur libe­ralen Theologie in den USA, ist jedoch auch ein hervorragender Kenner der deutschen Theologie. Er hat zahlreiche Bücher zur modernen Theologie verfasst, darunter eine ­Trilogie über die liberale Theologie in den USA. Kurt Bangert stellt den amerikanischen Theologen und seine Sicht auf die deutsche liberale Theologie vor.

 

Der negative Klang der »liberalen Theologie«

Der Begriff »liberale Theologie« bezieht sich in Deutschland vor allem auf moderne protestantische Theologen des 19. und frühen 20. H., die bis heute als bahnbrechende Denker gelten, aber hierzulande aus zwei Gründen in Verruf gerieten: (1) Zum einen sprachen sich einige namhafte liberale deutsche Theologen kurz vor dem Ersten Weltkrieg für den von Kaiser Wilhelm II. beabsichtigten Krieg aus und zeigten auch eine Nähe zum Nationalismus und zum kulturellen Imperialismus. (2) Zum andern wurden diese liberalen Theologen von den dialektischen Theologen um Karl Barth der Verwässerung des Evangeliums bezichtigt. Angeblich hatten sie sich zu kritisch gegenüber der Bibel geäußert, dachten zu spekulativ über die Gottesfrage nach und betrieben zudem eine anthropozentrisch-existentialistische Theologie. Diese Vorwürfe Barths und seiner Verbündeten waren so gravierend, dass danach kaum noch ein deutscher Theologe wagte, sich als »liberal« zu outen – bis heute.

Von dieser zweifachen Belastung der deutsch-liberalen Theologie zeigte sich die amerikanische Szene unberührt. Einerseits waren die USA im 20. Jh. noch tief im Fundamentalismus (Evangelikalismus) verwurzelt und von der liberalen Theologie nur zögerlich berührt. Andererseits litt die amerikanische liberale Theologie, wo sie sich denn doch zu entwickeln getraute, nicht unter den negativen deutschen Vorzeichen. Sie konnte deshalb relativ unbekümmert ihre Liberalität verfolgen, ohne von den »Dialektikern« in die Schranken gewiesen zu werden. Außerdem hatte die liberale Theologie in Nordamerika einen eher politisch-sozialen Anstrich, während sie in Deutschland mehr von hermeneutischen Fragestellungen und der Entmythologisierungsdebatte geprägt war.

Zu den herausragenden Vertretern der amerikanischen Liberalität gehören u.a. Walter Rauschenbusch und sein Social Gospel, William James mit seinem philosophischen Pragmatismus und Reinhold Niebuhr mit seinem christlichen Realismus. In dieser liberalen Tradition amerikanischer Theologen steht auch Gary Dorrien, Professor für Religion an der Columbia University in New York und zugleich Reinhold-Niebuhr-Professor am Union Theological Seminary, an dem einst auch Paul Tillich unterrichtete. Als exzellenter Rhetoriker ist Dorrien auch ein produktiver Autor, der rund 16 umfangreiche Monographien verfasste.

Sein dreibändiges, 2000 Seiten umfassende Werk The Making of American Liberal Theology (2001-2006) zeichnet die Entwicklung der modernen Theologie in den USA von 1805 bis 2005 nach. Darin bringt Dorrien theologische Analysen und historisch-biographische Entwicklungen zusammen, um die Ursprünge und den Fortgang moderner Theologie auf dem nordamerikanischen Kontinent erstmals ausführlich zu beschreiben. Obwohl weite Teile des amerikanischen Christentums bis heute noch vom evangelikalen Fundamentalismus geprägt sind, zeigt die Darstellung Dorriens doch, dass es schon im 19. Jh. Bestrebungen in den USA gab, einen Mittelweg zwischen einer biblizistischen Orthodoxie und einem atheistischen Rationalismus zu beschreiten. Dieser dritte Weg war für die Darwinsche Evolutionslehre ebenso offen wie für die ersten Ansätze einer historischen Kritik. Dorriens Trilogie beweist, dass die amerikanische liberale Theologie keine Randerscheinung ist, sondern eine Bewegung, die von der deutschen Theologie hierzulande bisher zu wenig gewürdigt wurde.

Dorriens jüngstes Werk, betitelt Kantian Reason and Hegelian Spirit: The Idealistic Logic of Modern Theology,1 ist ihm nach eigener Auskunft das liebste seiner Bücher, weil es die Argumente jener (vor allem europäischer) Denker nachzuzeichnen versucht, denen wir unser modernes religiöses Weltbild verdanken. Er zeigt darin auf, dass die moderne Theologie ohne die Pionierleistungen von Kant, Fichte, Schelling, Hegel und Schleiermacher gar nicht möglich gewesen wäre, und dokumentiert auch, wie sehr diese Denker sich gegenseitig befruchtet haben. Selbst die dialektische Theologie eines Karl Barth wäre kaum möglich gewesen ohne die Vorleistungen obiger Denker. Das Schöne an diesem Buch ist, dass nicht nur die Denkweisen der behandelten Philosophen und Theologen dargestellt werden, sondern auch deren biographischer Werdegang sowie deren Rezeption durch ihre Nachfolger und Kritiker. So wird ein philosophisch-theologisches Beziehungsgeflecht gezeichnet, ohne dessen Kenntnis man die moderne Theologie nicht umfassend verstehen kann.

 

Die Anfänge der liberalen Theologie

Nach Dorrien ist die liberale Theologie als ein dreischichtiges Phänomen zu begreifen: (1) Liberale Wahrheitsfindung kommt zu uns durch das Wechselspiel von Vernunft und Erfahrung; (2) sie stellt eine Mittelposition zwischen Orthodoxie und Unglauben dar, zwischen Theismus und Atheismus; (3) sie verzichtet auf externe Autoritäten und geht somit von der Autonomie der subjektiven Vernunft aus.

Eine wichtige Antriebsquelle der liberalen Theologie war der Wunsch, das Christentum mit der Naturwissenschaft, speziell mit der Evolutionstheorie zu versöhnen. Allerdings sind einige der späteren liberalen Theologen über dieses Ziel hinausgeschossen und haben auch noch eine evolutionäre Ideologie, einen Fortschrittsglauben entwickelt, dazu auch noch einen Kulturoptimismus und sogar ein baldiges irdisches »Gottesreich« anvisiert, das für einige von ihnen sogar einen deutschen Charakter haben würde. Damit sind zugleich jene Verirrungen angesprochen, unter denen der Begriff »liberale Theologie« bis heute leidet. Solche Irrgänge bedeuten jedoch nicht, dass die enormen philosophischen Leistungen Kants, Schleiermachers und Hegels und die theologischen Erkenntnisse eines Harnack, Ritschl, Troeltsch oder Herrmann nichtig gewesen wären. Die Liberalität jener Denker hatte Auswirkungen nicht nur für die Philosophie und Theologie ihrer Zeit, sondern auch für das gesellschaftliche und politische Leben bis heute.

Von zentraler Bedeutung für die liberale Theologie war zweifellos auch die Bibelkritik von Ferdinand Christian Baur, David Friedrich Strauß und anderen Theologen. Die historisch-kritische Wissenschaft verzichtete nach Möglichkeit auf jegliche dogmatische Denkvoraussetzung. Weitere liberale Impulse kamen von den Ritschlianern mit ihrem historischen Bewusstsein und ihrem religionsgeschichtlichen Ansatz.

 

Idealismus

Ein sich durch das ganze Werk hindurchziehendes Motiv ist die Auseinandersetzung mit dem Idealismus, der in seinen unterschiedlichen Schattierungen dargestellt wird. Über allem schwebt der Idealismus Kants und Hegels. Der Idealismus geht davon aus, dass das Universum im Wesentlichen geistiger Natur ist. Es ist weder leblos noch unbewusst, wie es einem erscheinen mag. Es ist seinem Wesen nach vielmehr geistig, spirituell, bewusst und intelligent. Doch gibt es unzählige Bedeutungsvarianten des Idealismus. Man spricht vom subjektiven, objektiven (absoluten oder aktuellen) sowie auch von einem pluralistischen Idealismus. Gemäß dem Idealismus geht die »Idee« allen materiellen Erscheinungsformen voraus. Gemeinsam ist dem subjektiven und dem objektiven Idealismus, dass die Wirklichkeit von der Idee, also von der Ratio bzw. der Vernunft, abhängig ist.

Auf dem Spielfeld der Kantschen Philosophie haben sich die philosophischen Denker über den subjektiven und objektiven Idealismus immer wieder gestritten. Der subjektive Idealismus neigt dazu, sich in puren Subjektivismus aufzulösen (wir können nichts wissen jenseits unserer eigenen subjektiven Erfahrung). Hier sucht der objektive Idealismus korrigierend einzugreifen, hält er doch die Erfassung einer objektiven Wirklichkeit durch das denkende Bewusstsein für möglich. Und Gary Dorrien versucht, den Leser durch das verschlungene Labyrinth der idealistischen Philosophien hindurch zu lavieren und nimmt hier und da auch persönlich Stellung.

 

Immanuel Kant

Nach einer Einführung führt Dorrien in die Gedankenwelt Kants ein, schildert seinen biographischen Werdegang, weist auf Personen hin, durch die Kant beeinflusst wurde (David Hume habe ihn von seinem dogmatischen Tiefschlaf aufgeweckt), und schildert auch die zunächst verhaltene und später enthusiastische Rezeption der Schriften Kants.

Kant (1724-1804) betonte nicht nur die Vernunft als wichtiges Kriterium unserer Erkenntnis, er versuchte auch, unserer Prämisse eines metaphysischen Gottes eine neue Grundlage zu geben. Metaphysik ist nach Kant die Wissenschaft von den Grenzen unserer Vernunft, kann doch die Vernunft nichts über das wissen, was jenseits von Raum und Zeit ist. Mit seinen Angriffen auf die rationalistische Theologie machte Kant den Gottesbeweisen den endgültigen Garaus. Lediglich als Grund aller Existenz und als moralische Denknotwendigkeit mag Gott noch postuliert werden.

 

Friedrich Schleiermacher

Schleiermacher (1768-1834) relativierte die Vernunftorientiertheit Kants und brachte als Romantiker das Gefühl in den Vordergrund – war er doch selbst oft von seinen Gefühlen hin- und hergerissen. Zuweilen fühlte er sich einsam und depressiv. Auch hatte er ein Faible für das Mystische. Zwar behielt er eine gewisse Frömmigkeit bei, die er sich bei der Herrnhuter Brüdergemeine erworben hatte, aber doch auf einer höheren Ebene. Er stellte die Gottheit Jesu infrage und auch seinen Erlösertod – sehr zum Verdruss seines Vaters. Und er lehnte den moralischen Gottesbeweis Kants ab. Für Schleiermacher musste Religion eine Herzensangelegenheit sein. Religion war für ihn nicht Metaphysik oder Moral, sondern Anschauung und Gefühl. Die eigentliche Religion war für ihn die Begegnung mit dem Unendlichen, dem Universum. Spirituelle Gefühle waren wichtiger als Vernunft, Moral oder Wahrnehmung. Religion ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche. Und Gott war für ihn nicht alles in der Religion. Gott dürfe nicht zu einem Objekt unserer Realität reduziert werden.2

 

Hegel und Schelling

Dorrien befasst sich auch mit dem Idealismus von Schelling und Hegel. Georg Friedrich Wilhelm Hegel (1770-1831) stellt für Dorrien die Spitze des Idealismus dar, und er nennt ihn in einem Atemzug mit Platon, Aristoteles, Spinoza und Kant. Es sei in erster Linie Hegel gewesen, der die Philosophie der beiden Jahrhunderte nach ihm maßgeblich beeinflusste. Hegel studierte Theologie in Tübingen, und noch als 25jähriger schrieb er ein Buch über das Leben Jesu, das er erst viel später veröffentlichte. Darin tritt uns ein moderner, entmystifizierter Jesus gegenüber, ein Apostel der Vernunft und Tugendhaftigkeit. Später, in Frankfurt, schrieb Hegel über den Geist des Christentums und sein Schicksal. Im Christentum gehe es um die göttliche Liebe, um das Prinzip einer letzten Einheit und um die Überwindung der Entfremdung von Gott und den Mitmenschen.

Ein enger Freund Hegels war Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775-1854), der schneller zu Ansehen und Prominenz aufstieg als Hegel selbst. Mit seinem Buch Ideen zu einer Philosophie der Natur (1797) wurde Schelling schon früh bekannt. Bewusstsein entstehe aus der Natur, und Natur entstehe aus dem Bewusstsein. In seinen Büchern Von der Weltseele (1798) und vom System des transzendentalen Idealismus (1800) entwickelte Schelling eine bedeutende Naturphilosophie und eine wichtige Wissenschaftslehre. Als Schelling Jena wegen einer Beziehungsaffäre verließ, schien die Zeit für Hegel gekommen, der sein eigenes »System« ankündigte. 1807 veröffentlichte Hegel seine Phänomenologie des Geistes, die bis heute mysteriös und schwer verständlich bleibt. Das Buch behandelt Geist, Bewusstsein, Selbst-Bewusstsein, Vernunft und die Religion und liefert zahlreiche erkenntnistheoretische Überlegungen. Man wird nicht fehlgehen, das Werk als eine epistemologische Theorie, als Geschichtsphilosophie und als eine Einführung ins Hegelsche System zu betrachten. Es ist gewissermaßen eine Bewegung vom (kosmischen) Bewusstsein zum Selbst-Bewusstsein. Das absolute Sein individualisiert sich im Menschen. Das einzelne Selbst wird identisch mit dem universalen Selbst und zugleich mit jedem Selbst. In Christus habe sich das universale Selbst offenbart; und der Heilige Geist ist das universale Selbst-Bewusstsein der menschlichen Gemeinschaft.

 

David Friedrich Strauß

Der Schwabe David Friedrich Strauß (1808-1874) war ein liberaler Theologe ganz anderer Art. Von seinem Lehrer Ferdinand Christian Baur (1792-1860) hatte er dessen radikalen Historismus übernommen. Baur hatte ihn auch gelehrt, dass die Philosophie für die Theologie unentbehrlich sei. 1835 veröffentlichte Strauß sein umstrittenes zweibändiges Werk Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Niemand vor ihm hatte die Evangelien mit solch kritischer Wissenschaft durchkämmt und dabei einen so radikalen Prozess der Entmythologisierung versucht. Es ging Strauß um die Frage, auf welchem historischen Boden das Christentum noch stehen konnte. Er kritisierte nicht nur die orthodoxen Traditionalisten, welche die Bibel wörtlich nahmen, sondern auch die Rationalisten, die für biblische »Wunder« naturalistische Erklärungen zu geben versuchten. (Baur hatte beispielsweise die Engelserscheinungen bei Jesu Geburt als meteoritische Himmelsphänomene erklären wollen.) Solche »Erklärungen« würden dem mythischen Charakter der biblischen Texte nicht gerecht, so Strauß. Anders als die Orthodoxen und die Rationalisten wollte Strauß den Mythos nicht leugnen, sondern ernst nehmen. Und das hieß für ihn vor allem, dass er die den Mythen zugrunde liegenden ewigen Wahrheiten zu ergründen suchte. Die übernatürliche Geburt Jesu, seine Wunder, seine Auferstehung und seine Himmelfahrt – all diese Mythen wollen uns ewige Wahrheiten vermitteln ungeachtet der Zweifel, die man berechtigterweise an ihren historischen Tatsachen haben konnte.

 

Søren Kierkegaard

Für den Dänen Søren Kierkegaard (1813-1855) war die radikale Entmythifizierung von Strauß zu trivial. In seiner Abschließenden Unwissenschaftlichen Nachschrift zu den Philosophischen Brocken setzte sich Kierkegaard mit der historischen Kritik auseinander. Er monierte, dass eine historische Kritik an der Bibel nicht zielführend sei, wenn man nicht zugleich die göttliche Inspiration zur Voraussetzung nimmt. Der christliche Glaube könne nicht das Ergebnis einer wissenschaftlichen Untersuchung sein. Denn die Vorbedingungen des Glaubens seien Leidenschaft und persönliches Interesse. Die Frage der wissenschaftlichen Objektivität und Gewissheit trage nicht zum Glauben bei. Die wissenschaftliche Forschung könne nur mit Wahrscheinlichkeiten aufwarten; auch könne sie keinesfalls den christlichen Glauben zerpflücken. Dieser Glaube sei subjektiv, innerlich, leidenschaftlich, auf das Unendliche gerichtet; und keine Forschungsergebnisse, wie sicher oder unsicher sie auch sein mögen, könnten diesen Glauben erschüttern.

Kierkegaard war eine zerrissene Persönlichkeit und ein unkonventioneller Denker. In seinen Philosophischen Brocken (1844), die er unter dem Pseudonym »Johannes Climacus« schrieb, suchte er das moderne Christentum vom philosophischen Idealismus zu befreien. Sokrates war für ihn die große Alternative zu Christus. Im Idealismus des Sokrates sei jedes Individuum die Mitte der Welt, und Selbsterkenntnis sei gleich Gotteserkenntnis. Im Moment der Erkenntnis wird die Ewigkeit zu einem Augenblick. Der Glaube ist ein Nicht-Sehen, denn Gott ist nicht direkt erkennbar. Der Glaube ist die Erkenntnis des Ewigen in der Zeit, und das Objekt des Glaubens ist ein paradoxer Moment. Es gilt, diesen Augenblick des Glaubens zu erkennen.

 

Albrecht Ritschl

Albrecht Ritschl (1822-1889) war in Tübingen mit der historischen Kritik vertraut gemacht worden, fand aber, dass die meisten Theologen die historische Perspektive eher vermieden. Statt sich mit metaphysischen und dogmatischen Fragen zu beschäftigen, sollten die Theologen ein historisches Bewusstsein entwickeln, so Ritschl, und zu der eigentlichen Reich-Gottes-Botschaft, wie Jesus selbst sie gepredigt hatte, zurückkehren. Die Schule Ritschls nahm das Heft der Theologie fest in die Hand, sodass sich nahezu alle wichtigen theologischen Denker zwischen 1880 und 1920 als Ritschlianer verstanden. Es gehe, meinte Ritschl, nicht einfach nur darum herauszufinden, was Jesus ursprünglich gesagt oder gelehrt habe, sondern darum, die kollektive christliche Erfahrung offenzulegen, die von Jesus inspiriert worden sei. Die Suche nach dem »historischen Jesus« sei dann fehlgeleitet, wenn sie zum Ziel habe, das Christentum nur auf das zu gründen, was man als historisch-verifizierbar herausfinden würde. Jesus müsse vielmehr als Verkörperung der höchsten christlichen und humanitären Ideale verstanden werden. Und die Kirche müsse wieder lernen, was wir im Vaterunser beten, nämlich: »Dein Reich komme.« Insofern enthalte das Christentum zwei zentrale Schwerpunkte, die sich wie die Brennpunkte einer Ellipse zueinander verhalten: die persönliche Erlösung und das Reich Gottes. Das sei der Doppelcharakter des Christentums: Christologie und Ethik.

 

Adolf von Harnack

Der größte Ritschlianer war zweifellos Adolf von Harnack (1851-1930). Er war überzeugt, dass Ritschl der Theologie die richtige Richtung gewiesen hatte, indem er die historischen und sozial-ethischen Dimensionen des Christentums betonte. Für Harnack hatte Schleiermacher den Anfang gemacht, aber Ritschl eine notwendige Kurskorrektur vorgenommen. Harnack suchte einen Mittelweg zwischen der konservativen kirchlichen Haltung und dem um sich greifenden Säkularismus. Eine bloße Exegese könne die Theologie nicht voranbringen, und eine starre Dogmatik ebenso wenig. Nur rigorose historische Untersuchungen könnten erkennen lassen, was am Christentum ursprünglich, echt und erhaltenswert sei. Und so befasste sich Harnack mit den Ursprüngen der christlichen Lehren, Regeln, Riten und Praktiken. Er untersuchte die verschiedenen christlichen Gruppen und Richtungen und suchte aufzuzeigen, inwieweit das Christentum noch das bewahrt habe, worauf es den Gründern ankam. Harnack glaubte zu erkennen, dass die reine Lehre Jesu in vielfältiger Weise durch hellenistisches Gedankengut korrumpiert worden war. Gleichwohl blieb Jesus von Nazareth für ihn der Dreh- und Angelpunkt der Geschichte.

Als ihn seine Berliner Studenten 1899 um eine Vorlesungsreihe über »das Wesen des Christentums« baten, hielt er 16 Vorlesungen, die unter dem gleichnamigen Titel veröffentlicht und zu einem Klassiker wurden. Darin erläuterte Harnack, dass das Christentum eine Antwort sei auf die grundlegenden Fragen des Menschen nach dem Sinn des Lebens, dem Leiden und dem Tod. Und die christliche Antwort komme in der Gestalt Jesu und des Evangeliums. Um die Wahrheit des Evangeliums aber genauer zu bestimmen, sei man auf die Erforschung der historischen Zusammenhänge angewiesen. Es gehe nicht darum, die Geschichte durch Dogmatik zu deuten, sondern darum, das Dogma im Licht der Geschichte zu sehen. Und die historische Kritik sei nicht dazu da, den christlichen Glauben zu zerstören, sondern ihn zu stärken, und zwar dadurch, dass man zu den Ursprüngen zurückkehre. Wie kaum ein anderer steht Harnack für das, was man gemeinhin »liberale Theologie« genannt hat. War Friedrich Schleiermacher der Begründer der liberalen Theologie, so gilt Harnack gleichsam als ihr Vollender. Mehr als andere definierte er, was liberale Theologie zu sein hatte.

 

Wilhelm Herrmann

Johann Wilhelm Herrmann (1846-1922) erwies sich als Brückenbauer der liberalen Theologie. Mit Schleiermacher und Hegel gut vertraut, verband er deren Liberalismus jedoch mit einer christlichen Apologetik. Obwohl Herrmann ein Mitbegründer der Ritschlianischen Schule war, hatte er mit Ritschl auch seine Probleme und übte auf ihn sogar korrigierenden Einfluss aus. Die Titel seiner ersten Bücher lauteten Die Metaphysik in der Theologie (1876) und Die Religion im Verhältnis zum Welterkennen und zur Sittlichkeit (1879). Darin argumentierte er, dass nicht nur Katholizismus und Protestantismus, sondern auch die liberale Schule ihre jeweilige Theologie zu sehr von metaphysischen Argumenten abhängig gemacht hätten. Eine Berufung auf die Metaphysik sei nicht der Weg zur wahren Religion, sondern eine Ablenkung davon. Wie Ritschl glaubte Herrmann, dass der christliche Glaube vor allem im Christusgeschehen verankert sei. Doch war Herrmann weniger an der Erforschung des »historischen Jesus« interessiert als daran, dass die von Jesus ausgehende versöhnende Kraft im Leben der christlichen Gemeinde wirksam werde. Es gehe nicht um ein historisches Ereignis der Vergangenheit, sondern um den umwandelnden Glauben im Leben der Christen. Deshalb müsse die Subjektivität Schleiermachers wieder aufgegriffen werden. Zwar gelte es anzuerkennen, dass das Christentum eine historische Religion sei, für die das Christusgeschehen von zentraler Bedeutung bleibe, aber es wäre falsch, das Christentum als den Glauben an historische Fakten misszuverstehen. Niemand sei je durch historische Tatsachen erlöst worden. Der Christ ist darum eingeladen, sich mit dem Geist Christi zu verbinden und so die Erfahrung von Vergebung und Erlösung zu machen.

 

Ernst Troeltsch

Ernst Troeltsch (1865-1923) gilt als Begründer der religionsgeschichtlichen Schule. Beim diesem Ansatz ging es nicht nur darum, das christliche Umfeld historisch und philologisch zu untersuchen, sondern das Christentum auch aus Sicht der nicht-christlichen Religionen wahrzunehmen. Für die Religionsgeschichtler (zu denen neben Troeltsch auch Hermann Gunkel und William Wrede gehörten) waren die Ritschlianer noch zu sehr gefangen in ihrem christlichen Historismus und in der christlichen Dogmengeschichte. Für Troeltsch hingegen hatte die vergleichende Religionsgeschichte den christlichen Glauben mehr erschüttert als sonst eine moderne historische Entwicklung. Troeltsch hielt nicht die Dogmen, sondern Kultus, Ritus und Mythos für die elementaren Formen religiöser Traditionen. Für ihn waren die meisten Religionen synkretistische Vermischungen aus vielerlei Quellen und Traditionen. Sogar die christlichen Schriften seien durchsetzt von mythischen Erzählungen und Lehren. Und Jesus selbst sei ein gescheiterter Apokalyptiker gewesen. Die Grundlage aller Religionen sei aber stets dieselbe: die unmittelbare Begegnung mit dem Göttlichen. In Heidelberg, wo er sich mit Max Weber anfreundete, wurde Troeltsch nicht nur zum bedeutendsten Theologen der religionsgeschichtlichen Schule, sondern auch zum Vorreiter einer christlichen Soziallehre.3

 

Karl Barth

Die wichtigste Entwicklung in der Theologie des 20. Jh. war die nach dem Ersten Weltkrieg aufkommende Bewegung der »dialektischen Theologie«, die von Karl Barth (1886-1968) angeführt wurde. Seit rund 200 Jahren hatten sich die Naturwissenschaften und die historisch-kritische Forschung auf die Theologie ausgewirkt. Doch nun kam eine Gegenbewegung auf, welche die Theologie in eine regelrechte Krise stürzte, weshalb diese Bewegung im Englischen auch gerne als crisis theology bezeichnet wird. Barth zeichnete sich aus durch seine theologische Autorität, seine Wortgewalt, seine konsequente Berufung auf das Schriftzeugnis und seine anti-liberale Haltung. Er warf den Liberalen eine zu große Anpassung an den Zeitgeist, eine anthropozentrisch-existenzialistische Ausrichtung sowie eine Abkehr von der speziellen (biblischen) Offenbarung vor. Die Dialektiker erklärten die liberale Theologie für leblos und schickten sich an, eine kraftvollere, christozentrische Botschaft zu verkündigen.

Dabei ließ Barth die liberale Theologie nie ganz los. Das »Dialektische« an seiner Theologie war, dass sie zugleich liberal und neo-konservativ war. Er sprach sich zwar für die historische Kritik aus, legte aber großen Wert auf die zentralen Themen der biblischen Offenbarung, vor allem auf Christus und sein Evangelium. Die liberale Theologie war ihm in ihrem Fortschrittsglauben (»Reich Gottes auf Erden«) zu optimistisch; dieser Kulturoptimismus war für ihn gescheitert. Die dialektische Theologie wollte die durch den Ersten Weltkrieg zertrümmerten Hoffnungen und Illusionen ernst nehmen. Man müsse sich ganz neu auf das in der Schrift bezeugte Wort Gottes berufen. Und diese Besinnung auf die Bibel begann Barth mit seinem Studium des Römerbriefs. Die paulinische Botschaft war für Barth eine Botschaft des Heils und der Gnade, die in der Lage war, den Lauf der Geschichte zu transformieren und zu transzendieren. Das Evangelium sei die Verkündigung einer neuen Schöpfung. In einem neuen Zeitalter würde Christus über die Sünde triumphieren, die Gnade über den Unglauben, und Gottes Gerechtigkeit würde obsiegen. Für Barth hatte die liberale Theologie den Glauben an den eigentlichen Gegenstand der Schrift, nämlich den Geist Christi, aus den Augen verloren.

Christliche Theologie muss, so Barth, bei der Verborgenheit Gottes ansetzen. Gott ist unergründlich, denn er ist nicht Teil der menschlichen Welt, und kein Mythos oder Dogma kann uns den mysteriösen Gott erkennbar machen. Gott kann nur erkannt werden, wenn er sich seinen Geschöpfen offenbart. In Christus sei Gott »Fleisch« geworden; in ihm erkennen wir das menschliche »Antlitz« Gottes. Doch dieser sich in Christus offenbarende Gott kann nicht durch Vernunft, sondern nur im Glauben erkannt werden.

Obwohl Barth eine starke Bewegung in Gang setzte, blieb er doch erstaunlich isoliert und umstritten, während Theologen wie Bultmann und Tillich bis heute immer noch aktuell bleiben. Bultmann warf Barth vor, er sei so sehr von seiner Wort-Gottes-Theologie überzeugt, dass er zu wenig auf den biblischen Text höre. Nach Gary Dorrien hat Barth die Dialektik seiner Theologie zu wenig hervorgehoben. Er sei nicht dialektisch genug gewesen und habe das Ja und das Nein dieser Dialektik nur unzureichend zusammengeführt. Theologie muss mehr sein als die kirchliche Erklärung einer selbstreferentiellen Offenbarung, so Dorrien. »Theologie muss realer und relationaler als das sein; sie muss frei atmen können in einer Welt, in der alles relativ, weil relational ist.«4

 

Paul Tillich und Dietrich Bonhoeffer

Der wohl einzige Theologe, der im letzten Jahrhundert Barth das Wasser reichen konnte, war – neben Rudolf Bultmann – Paul Tillich, der im gleichen Jahr wie Barth geboren wurde (1886-1965). Tillich erkannte den prophetischen Geist Barths, von dem sich viele Menschen angesprochen fühlten. Barth hatte die Führung übernommen, um der Kirche und den Gläubigen in der Krise der Nachkriegszeit wieder Orientierung und Hoffnung zu geben. Aber Barths Theologie war in Tillichs Augen nur eine überhöhte Form eines antiquierten Supranaturalismus. Barth bot den Menschen den paulinischen Gott an, während für Tillich Gott »die Tiefe des Seins« war, dasjenige, was den Menschen unbedingt angeht. Für Barth war dieses Unbedingte nur ein eisiges Monstrum, das nach Schleiermacher und Hegel roch, nicht jedoch im Einklang mit Martin Luther stand. Tillich warf Barth vor, bei der Betonung der Offenbarung die modernen Herausforderungen nicht ernst zu nehmen. Tillich träumte von einer religiösen Sozialbewegung, die nicht Teil einer politischen Partei sein würde. Doch im Jahr 1932 ahnte er, welche Katastrophe auf Deutschland zukommen würde. In seinem Buch Die sozialistische Entscheidung warnte er vor der Rückkehr in die Barbarei und vor einem neuen Krieg. Nach Hitlers Machtübernahme wurde er zur persona non grata erklärt, verlor seinen Professorenstuhl und nahm zögerlich einen Ruf ans Union Theological Seminary in New York an. Wirklich wohlgefühlt hat er sich in den USA nie. Doch wurde er gerade hier zum weltbekannten Theologen. Obwohl auch Tillich die liberale Theologie kritisierte, vermochte er sich nicht von ihr zu distanzieren. Einerseits hielt er die liberalen Errungenschaften hoch, andererseits teilte er mit Barth den neo-reformatorischen Gedanken, nach dem kein menschliches Werk und keine anthropologische Errungenschaft allein heilende Wirkung habe. Mit seinen Ideen hat Tillich eine bleibende Wirkung hinterlassen. Er beeinflusste nicht nur ganze Theologengenerationen, sondern auch Philosophen, die sich mit religiösen und theologischen Fragen auseinandersetzten. An Tillich kam praktisch niemand mehr vorbei. Dank Tillich machte Religion wieder einen Sinn.

Auch Dietrich Bonhoeffer (1906-1945) war um eine Weiterentwicklung nicht nur der liberalen, sondern auch der Barth’schen Theologie bemüht. Als junger Mann verschlang er die Texte Barths, wurde selbst Barthianer und war von Barths Persönlichkeit beeindruckt, als er ihn 1931 persönlich traf. Beide kämpften gegen die Deutschen Christen und setzten sich für die Bekennende Kirche ein. Gleichwohl hat Bonhoeffer Karl Barth auch kritisiert, insbesondere in Bezug auf dessen »Offenbarungspositivismus«. Während Barth überzeugt war, dass etwa die Trinitätslehre oder die Jungfrauengeburt unverzichtbar seien, weil der Verzicht darauf das Christentum aushöhlen würde, konnte Bonhoeffer diesen Offenbarungspositivismus (quasi als »Friss, Vogel, oder stirb«) nicht hinnehmen. Die Jungfrauengeburt etwa sei doch nur ein Nebenthema der Bibel. Bonhoeffer verstand Offenbarung in erster Linie als Person (Jesus Christus), in der die große Distanz zwischen Gott und der Welt überbrückt werde. Und so konnte Bonhoeffer solch zukunftsweisende Fragen stellen wie diese: »Wie kann Christus der Herr auch der Religionslosen werden?« oder: »Wie sprechen wir weltlich von Gott, wie sind wir religionslos-weltlich Christen?«5

 

Schluss

Gary Dorrien, der liberale Amerikaner und vorzüglicher Kenner der modernen Theologiegeschichte, versteht es, die theologischen Zusammenhänge und Entwicklungen anschaulich, umfassend und verständlich zu explizieren. Als Interpret der modernen Theologie sucht er Seinesgleichen. Als Theologe und Philosoph schreibt er analytisch, ungekünstelt, anschaulich und mit Kenntnisreichtum. Er ist ein wahrer Champion der liberalen Theologie, den es auch diesseits des Atlantiks zu würdigen gilt.

 

Anmerkungen:

1 Gary Dorrien, Kantian Reason and Hegelian Spirit: The Idealistic Logic of Modern Theology, Wiley Blackwell: Oxford 2012/2015 (deutsch: Kants Vernunft und Hegels Geist: Die idealistische Logik der modernen Theologie).

2 Vgl. meinen Artikel »Vater der liberalen Theologie und Reformator der Reformation. Zum 250. Geburtstag Friedrich Daniel Ernst Schleiermachers«, in: DPfBl 11/2018, 628-632.

3 Eine ausführliche Darstellung zu Ernst Troeltsch findet sich in: Kurt Bangert und Wolfgang Pfüller: 150 Jahre Ernst Troeltsch, Forum Freies Christentum, Heft 54 (Mai 2015).

4 Dorrien, Kantian Reason and Hegelian Spirit, a.a.O., 567.

5 Dietrich Bonhoeffer, Dietrich Bonhoeffer Auswahl, Bd. 5: Briefe aus der Haft, Gütersloher Verlagshaus: Gütersloh 2006, 127.

 

Über die Autorin / den Autor:

Kurt Bangert, Theologe und Schriftleiter von »Freies Christentum«, dem Organ des Bundes für Freies Christentum, Autor des Buches »Die Wirklichkeit Gottes. Wie wir im 21. Jahrhundert an Gott glauben können«.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 12/2019

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