Ernst Troeltsch (1865-1923) wird als einer der herausragenden Vertreter der »liberalen Theologie« angesehen. Zum 150. Geburtstag am 17. Februar 2015 erinnert Kurt Bangert an diesen gründlichen und weitsichtigen Theologen.


Geistesgeschichtlicher Hintergrund

Obwohl Troeltsch über die Grenzen der Theologie hinaus großen Einfluss gewann, ist er über die Jahre doch weitgehend in Vergessenheit geraten, nicht zuletzt deshalb, weil er von den »dialektischen Theologen« um Karl Barth gering geschätzt wurde. Die liberale Theologie, zu denen neben Friedrich Schleiermacher (1768-1834) u.a. auch Troeltschs Zeitgenossen Albrecht Ritschl, Adolf von Harnack und sicherlich auch Albert Schweitzer zu rechnen sind, stand unter dem starken Eindruck der sich im Zuge der Aufklärung entwickelnden Naturwissenschaft und Geschichtswissenschaft. Die neuen Wissenschaften stellten für die Kirchen eine große Herausforderung dar. Vielen Gläubigen schien die Naturwissenschaften die größere Bedrohung zu sein, zumal Charles Darwin (1809-1882) die Evolutionstheorie eingeführt hatte. Doch war es das neue Geschichtsbewusstsein, das die Theologie nachhaltig veränderte. Leopold von Ranke (1795-1886) hatte als einer der Gründerväter der modernen Geschichtswissenschaften strikte Regeln zur Auffindung der »historischen Wahrheit« aufgestellt. Die beiden Tübinger Theologen Ferdinand Christian Baur (1782-1860) und David Friedrich Strauss (1808-1874) fingen an, die Bibel mit den Mitteln der »historisch-kritischen Methode« zu untersuchen. Und eine neu aufkommende »Religionswissenschaft« tat das ihre, um das traditionelle Christentum als eine übernatürliche Offenbarungsreligion in Frage zu stellen.

Troeltsch zog aus diesen Entwicklungen die für ihn notwendigen Konsequenzen – ungeachtet der Tatsache, dass das Kirchenvolk noch tief im bibeltreuen Kirchenglauben verwurzelt war. Die neue historische Bibelkritik veranlasste einige Theologen, nach dem »historischen Jesus« zu fahnden, ganz im Sinne von Rankes, für den die Geschichtswissenschaft das Ziel hatte, durch kritisches Behandeln der Quellen herauszufinden, »wie es eigentlich gewesen«. Das neue Geschichtsbewusstsein war zuweilen auch geprägt von einem gewissen evolutiven Optimismus, der dem Lauf der Geschichte eine teleologische Richtung und damit ein göttlich verordnetes Ziel unterstellte, so als ob die Geschichte von einer stetigen Höherentwicklung zum Guten und Besseren gekennzeichnet sei. Beide Erwartungen – die Suche nach dem historischen Jesus und die geschichtsphilosophische Hoffnung auf eine bessere Welt – erwiesen sich als trügerisch. Je mehr man nach dem historischen Jesus forschte, desto weniger vermochte man etwas Verbindliches über ihn auszusagen. Und der Optimismus einer teleologischen Höherentwicklung der Geschichte wurde spätestens durch die verheerenden Ereignisse des Ersten Weltkriegs zerstört. Der Optimismus war verflogen, Resignation und Depression (im psychischen wie im ökonomischen Sinne) machten sich breit.

Für die Nachkriegstheologen um Karl Barth kam es in dieser Zeit darauf an, dem zermürbten Kirchenvolk neue Hoffnung zu geben und neue Perspektiven zu eröffnen. Die Grundlage dafür sahen sie aber nicht in den tristen Ereignissen der Zeitgeschichte, sondern in einer »Theologie von oben«, die vom Offenbarungscharakter einer göttlichen Transzendenz ausging, deren Botschaft sich im biblischen Evangelium niedergeschlagen hatte und die es für die Gegenwart neu zu verkündigen galt.

Für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg mag dieser dialektische Ansatz der richtige gewesen sein. Er hatte jedoch den Nebeneffekt, dass die naturwissenschaftlichen und religionswissenschaftlichen Probleme, auf welche die liberalen Theologen zu reagieren sich bemüht hatten, nur vertagt wurden. Ja, sie drängten sich spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg wieder auf die Tagesordnung. Der Siegeszug der Naturwissenschaften hielt an, die vergleichende Religionswissenschaft relativierte den christlichen Absolutheitsanspruch, und die historisch-kritische Bibelwissenschaft tat das ihre, um das traditionelle Christentum ins Wanken zu bringen. Die liberale Theologie wurde wiederbelebt, ohne dass man sich zunächst auf deren frühe Vertreter berief. Aus heutiger Sicht ist jedoch zu festzustellen, dass die liberalen Theologen des 19. und frühen 20. Jh. von einer Einsicht und Weitsicht geprägt waren, die es heute neu zu würdigen gilt.

Hans-Georg Drescher, der über Troeltsch eine ausgezeichnete Biographie verfasst hat, kommentiert diesen Sachverhalt so: »Für die führenden Vertreter der dialektischen Theologie war Troeltsch (zusammen mit Harnack) der letzte große Repräsentant einer zu Ende gegangenen Epoche der Theologie, die durch die Philosophie des Idealismus, die Metaphysik und eine unangemessene Anpassung an die moderne Kultur geprägt war. Sie verkannten dabei, dass die Probleme, die Troeltsch aufnahm, für die Neuzeit überhaupt charakteristisch sind – und uns deshalb auch heute angehen. Die ›nachdialektische‹ Zeit sieht denn auch gerade in dieser Vielfalt und Offenheit ein beeindruckendes und positiv zu würdigendes Merkmal seiner Theologie.«1


Die frühen Jahre

Ernst Troeltsch, am 17. Februar 1865 in Haunstetten bei Augsburg geboren, war ein lernbegieriger, glänzender Schüler mit ausgezeichneten Noten, hörte bereits während seines Militärdienstes in Augsburg (der Stadt der Confessio Augustana) Vorlesungen in den Fächern Logik, Metaphysik, Philosophie, Philologie, Kunstgeschichte und Naturgeschichte. Sein theologisches Studium begann er an der Universität von Erlangen, wo er den gleichaltrigen Wilhelm Bousset (1865-1920) kennen lernte, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verbinden sollte.

Schon früh kristallisierte sich heraus, dass Troeltsch ein dialogischer Mensch war, der stets mehrere Seiten einer Sache beleuchtete und immer wieder den Austausch mit anderen suchte, um so zu einer abgesicherten und fundierten Sichtweise zu kommen. In einem Brief an Bousset schrieb er: »Ich habe zwei Seiten und ich diene zwei Herren, magst Du sie Denken und Fühlen oder Realismus und Idealismus, Immanenz und Transzendenz, Mechanismus und Supranaturalismus, Erkennen und Gemüt oder sonstwie nennen. In dem Bestreben, jedem dieser Herren die ihm geschuldeten Dienste zu tun, besteht meine ganze Arbeit.«2

1885 wechselt der 20jährige Troeltsch für kurze Zeit nach Berlin, während Bousset in Leipzig studiert. Berlin beeindruckt ihn sehr, auch das Hohenzollernsche Königshaus, »das mich mit seiner eisernen Folgerichtigkeit, seiner wahrhaft königlichen Hoheit und seinem genialen Geschichtsverständnis in immer wachsende Bewunderung versetzt«. Berlin war zudem die erste Hochburg der deutschen Aufklärung. Hier hatte der Arzt Marcus Herz die epochalen Ideen seines Lehrers Immanuel Kant hoffähig gemacht und popularisiert. Von dieser aufgeklärten Atmosphäre, die sich unter den Intellektuellen breit gemacht hatte, lässt sich auch Troeltsch anstecken.

1886 gehen Bousset und Troeltsch gemeinsam nach Göttingen, wo sie dem großen Albrecht Ritschl (1822-1889) begegnen. Von zentraler Bedeutung für Ritschls Theologie war der jesuanische Begriff des »Reiches Gottes«, das Ritschl fast ausschließlich als eine diesseitige Verwirklichung des von Jesus gepredigten sittlichen Lebens versteht. Ritschl war ein übermächtiger und einflussreicher Theologe, der auch eine Schülerschaft um sich scharte (darunter Wilhelm Herrmann und Adolf von Harnack). Für Troeltsch liegt Ritschl in Göttingen überall in der Luft.

Zurück in Erlangen macht Troeltsch sein Erstes Theologisches Examen; sein Vikariat absolviert er in München. Das Vikariat hinterlässt auf ihn einen nachhaltigen Eindruck. Es wird ihm bewusst geworden sein, wie weit die Theologie von der praktischen Gemeindefrömmigkeit entfernt ist. »Die Theologie ist für die Kirche ebenso schwer zu ertragen als zu entbehren«, schreibt er später in seinen Promotionsthesen.


Akademische Laufbahn

1891 wird er mit 26 Jahren Privatdozent in Göttingen. Troeltsch wird hier mit dem Gedankengut des Kulturphilosophen und Orientalisten Paul de Lagarde konfrontiert, dessen Einordnung religiöser Phänomene in die Geschichte ihn zu einer Absage an eine dogmatisch gefärbte Sicht des Religiösen führt. Auch das hinterlässt einen nachhaltigen Eindruck auf Troeltsch. Troeltsch und seine jüngeren Göttinger Kollegen ließen sich durch Lagarde dazu inspirieren, die geschichtliche Methode auch auf die religiöse Tradition anzuwenden. Es war die Geburtsstunde der »Religionsgeschichtlichen Schule«, mittels der die jüngeren Theologen »über den Ritschlianismus der Älteren hinauszugehen suchten, indem sie die biblischen Texte als Literatur im Kontext der religiösen Überlieferung der damaligen Zeit und Umwelt auslegten«. Man hat Troeltsch später als den »Systematiker der Religionsgeschichtlichen Schule« bezeichnet.

Von 1892 bis 1893 ist Troeltsch Extraordinarius für Systematische Theologie in Bonn. Hier erfährt er erstmals öffentlichen Widerstand, der ihm zeigt, dass es noch ein weiter Weg ist, um Kirche und Öffentlichkeit mit der Gedankenwelt der modernen Geschichtsphilosophie und Religionsgeschichte vertraut zu machen.

1894 wird er, noch nicht 30jährig, Ordinarius in Heidelberg, wo er 20 Jahre bleibt. Troeltsch glaubt, dass man für die neuen Geistesströmungen offen bleiben muss, ohne sich von ihnen vereinnahmen zu lassen. Aber ihre Wirkungen verfehlen sie auch bei Troeltsch nicht. Ohne ein Offenbarungsverständnis rundweg zu leugnen, grenzt er sich doch von einem dogmatischen Supranaturalismus ab. Einen Absolutheitsanspruch des Christentums lehnt er zwar ab, sieht im Christentum dennoch eine den anderen Hochreligionen überlegene Religion. Darauf darf aus seiner Sicht nicht verzichtet werden. In einer religionspsychologischen Untersuchung fragt er nach Herkunft und Bedeutung der Religion innerhalb des menschlichen Bewusstseins. Er spricht in diesem Zusammenhang von einer »teleologischen Fassung der Wirklichkeit«, erkennt er doch einen Fortschritt und eine Höherentwicklung der Religionen. So gesehen, kann er auch von »Offenbarung« sprechen: »Die Annahme eines Entwicklungsprinzips innerhalb des Geschichtsverlaufs ist, ins Religiöse gewendet, ein offenbarungsgeschichtlicher Gedanke. Die Religionsgeschichte erscheint als fortlaufende Kette göttlicher Offenbarungen an das Menschengeschlecht, so dass die teleologische Bewegung der Religion auf der göttlichen Selbstbewegung beruht.«3

Die christliche Theologie Europas war bis dahin ein Unternehmen, das sich vor allem mit der eigenen Religion befasste, kaum jedoch mit außerchristlichen Glaubensrichtungen. Die in Göttingen betriebene religionsgeschichtliche Forschung weitete jedoch Troeltschs Blick über die Grenzen des Christentums hinaus. Und so entsprach es auch dem Interesse Troeltschs, 1899 im Auftrag seiner Universität eine Reise an den Bosporus zu unternehmen. In Konstantinopel wird er zum ersten Mal mit einer nicht-christlichen Religion konfrontiert. »Das war nun geradezu wunderbar, das Herrlichste und Fremdartigste, was ich noch gesehen habe. Ich war zum ersten Male auf dem Gebiete einer fremden Religion und Gesittung. Man empfing davon einen sehr lebhaften Eindruck und jedenfalls ist der Islam keine so üble Religion. Die Türken sind dort die anständigsten Menschen. Aber freilich Europäer könnten mit einer solchen Religion gar nicht leben.«4


Dogmatische und historische Methode

Für Troeltsch ist die Theologie mächtig in Bewegung geraten. Er wird zum Wortführer der jungen theologischen Linken, die sich vom Ritschlianismus der Älteren, von deren stärkerer Neigung zum Kirchlichen, Dogmatischen und Konfessionellen, abzugrenzen sucht. Troeltsch unterscheidet zwischen der »dogmatischen Methode« und der »historischen Methode«. Schon in dieser Unterscheidung liegt eine Wertung. Es zeigt sich hier die Modernität und Liberalität seiner Theologie. Die historische Methode ist für ihn die moderne, zeitgemäßere. Für sie sei entscheidend, dass sie in der Lage ist, Vergangenes lebendig zu machen und neue Einsichten zu vermitteln. Der Theologe hat sich zu entscheiden zwischen einer vorbehaltlosen Anerkennung des historischen Vorgehens, verbunden mit allgemeinen Grundannahmen über die Geschichte, und dem metaphysischen Prinzip, das für seinen Gegenstand, das Wunder und die übernatürliche Autorität, eine besondere Erkenntnismethode verlangt. In der vorbehaltlosen Anerkennung der historischen Methode lauert aus Sicht der Tradition freilich eine Gefahr, die man in Kauf zu nehmen hat. Denn, so spitzt Troeltsch zu: »Wer ihr [der historischen Methode] den kleinen Finger gegeben hat, der muss ihr auch die ganze Hand geben. Daher scheint sie auch von einem echt orthodoxen Standpunkt aus eine Art Ähnlichkeit mit dem Teufel zu haben.«5

In der Auseinandersetzung mit Friedrich Niebergall erläutert Troeltsch, was er unter der »historischen Methode« versteht: (1) die historische Kritik, also eine Haltung, die in kritischer Distanz zum Traditionsstoff bleibt und dessen Ergebnisse immer nur in Wahrscheinlichkeitsurteilen zum Ausdruck kommen können; (2) das Wahrnehmen von Analogien, zeige doch die Theologiegeschichte, dass man christliche Überlieferungen nicht als analogielos hinstellen dürfe; es mag Ausnahmen geben (wie das sittliche Charakterbild Jesu oder seine Auferstehung), aber insgesamt können durch einen geschärften historischen Blick zahlreiche Analogien wahrgenommen werden; schließlich (3) gehöre die Korrelation dazu, die bedeute, dass kein historisches Phänomen isoliert betrachtet werden dürfe, sondern Vorläufer und Begleiterscheinungen hat, sodass man die Verflochtenheit eines historischen Phänomens berücksichtigen muss.

Mögen andere Theologen intensiver als Troeltsch die historische Methode eingesetzt haben, so ist es Troeltsch zu verdanken, ihre Voraussetzungen und Konsequenzen theologisch scharf in den Blick genommen zu haben. Hans-Georg Drescher dazu: »Dass Troeltsch als erster die methodischen Zusammenhänge, die theologischen Aspekte und Konsequenzen historisch-kritischer Arbeit wahrgenommen, dass er die Prinzipien der neuen Methode herausgearbeitet und in der Beziehung von Exegese und Dogmatik ein fortdauerndes Problem gesehen hat, bleibt sein Verdienst.«6


Freundschaft mit Max Weber

Mit 36 Jahren heiratet Troeltsch Marta, die Tochter eines Offiziers und Gutsbesitzers aus Mecklenburg. Im Vergleich zu ihm entstammt sie einer konservativen Welt. Ein Erbe stellt sich erst 1913 ein. Neben Familie und Universitätspflichten hat Troeltsch auch den Austausch mit Kollegen anderer Fakultäten gesucht. Er gehörte einem Heidelberger Kränzchen an, »Eranos« genannt, das aus Professoren verschiedener Fachrichtungen bestand. Der Theologe Adolf Deissmann bekannte später: »Ich habe niemals eine so hochstehende und so ergiebige Form akademischen Austauschs mit freundschaftlich-geselliger Geistigkeit wieder erlebt.«7 Zu diesem Kränzchen gehörte auch Max Weber, der in Heidelberg einen Lehrstuhl für Nationalökonomie innehatte und mit dem Troeltsch eine lange Freundschaft verbinden wird. Die beiden Familien ziehen sogar in ein gemeinsames Haus. Mit Weber reist er 1904 auch in die USA. »Ich betrachte diese Reise als eine der wertvollsten Errungenschaften meines Lebens«, schreibt er anschließend.8

Mehr noch als von dieser Reise hat Troeltsch aber von Weber profitiert, von dem er später bemerken sollte, dass er »jahrelang in täglichem Verkehr die unendlich anregende Kraft dieses Mannes« erfahren habe.9 Man hat Troeltsch nachgesagt, dass er – vor allem in seinem umfangreichen Werk über die christlichen »Soziallehren« – in großer Abhängigkeit zu Weber gestanden habe. Doch werde, so Troeltschs Biograph Drescher, bei einem solchen Urteil »die Fülle seiner historischen Einsichten nicht genügend gesehen bzw. gewürdigt.«10

Troeltsch hat sich als frommen Menschen verstanden, »aber seine Frömmigkeit, seine Religiosität waren immer auch bedroht, waren in Frage gestellt durch Rationalität und die Tendenz zur Kritik.«11 Er war ein Mann voller Schaffenskraft, hatte immer viele Pläne im Kopf, bürdete sich ein großes Arbeitspensum auf. Kaum war er mit einer Veröffentlichung fertig, stürzte er sich auf die nächste. Rastlos und ruhelos, war er getrieben von Ambitionen und Notwendigkeiten. »Daneben steht die Unzufriedenheit mit der eigenen Leistung und Arbeitskraft.«12

Man sagte ihm nach, er sei zu Scherzen aufgelegt. »Zugleich fällt ein Zug zur Melancholie auf, der sich vor allem in seinen Briefen zeigt.«13 Er war ein charmanter Unterhalter und Gesprächspartner. »Den Witz bei einer Sache hatte Troeltsch schnell heraus, wusste ihn zu formulieren, die Pointen saßen ihm locker.«14 Er konnte Menschen und Situationen intuitiv schnell erfassen, doch wurde dies »in Frage gestellt durch die rationale Komponente« seiner Beurteilung.15

Troeltsch legte eine große Bereitschaft an den Tag, »von anderen zu lernen und das Gelernte aufzunehmen und einmünden zu lassen in die eigene Arbeit und Ge­danken­welt«.16 Doch gab es auch eine negative Seite, war er doch kein bequemer Mann. »Er konnte durch Freimut verwunden und durch Ungestüm verletzen; er machte es Niemandem leicht, bis an sein Inneres heranzukommen.«17

Neben der Beschäftigung mit geschichtskritischen und religionskritischen Fragen hat er sich intensiv mit der christlichen Soziallehre auseinandergesetzt. Zu seinen Hauptwerken gehören Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, ein Werk, das ihm sehr am Herzen lag, wohl weil er darin die Konsequenzen des Christseins für sein Wirken in der Gesellschaft bedachte. Die Soziallehren stellen keine systematische, sondern eine geschichtliche Betrachtung dar.


Wechsel nach Berlin

1914 – im Jahr des Kriegsbeginns – erhält Troeltsch den Ruf auf einen philosophischen Lehrstuhl an die Friedrich-Wilhelms-Universität von Berlin (heute Humboldt-Universität). Die lange Lehrtätigkeit in Heidelberg kommt zu ihrem Ende. Zu Ostern 1915 wechselt er als Professor für Philosophie und Kultur nach Berlin. Seine Antrittsvorlesung gilt dem Thema »Kulturphilosophie und Ethik«. Über seine Art, Vorlesungen zu halten, lesen wir, dass »er frei sprechend und seinen Schweiß trocknend wie ein Löwe umherspazierte«.18 Studenten genossen seine Art der Präsentation.

Gleichwohl ist Berlin für ihn kein leichtes Pflaster. Troeltsch muss sich ein- und umgewöhnen. »Doch die äußeren Beeinträchtigungen des Lebens verlieren angesichts des Krieges an Bedeutung und Gewicht.«19 Troeltsch fühlt sich durch innere und äußere Belastungen und auch aufgrund der Kriegszeit seelisch stark unter Druck. Ein Kronzeuge aus dieser Zeit ist der Historiker Friedrich Meinecke (1862-1954). »Ich erinnere mich«, schreibt Meinecke, »wie er einst bei einem Grunewaldspaziergang 1917 in heller Verzweiflung schier zusammenbrechen wollte und in mir, wie er glaubte, den Stärkeren erblickte. Ich war es doch nur scheinbar, weil ich länger als Troeltsch an dem Glauben festhielt, dass die bescheidenen Kriegsziele, die wir beide vertraten, auch erreichbar seien.«20

Während des Ersten Weltkriegs als Professor in Deutschlands Hauptstadt zu lehren, ließ sich für einen engagierten Zeitkritiker wie Troeltsch offenbar kaum bewältigen, ohne selbst politisch aktiv zu werden. 1917 wird Troeltsch zum Mitbegründer des Volksbundes für Freiheit und Vaterland, dem Parlamentarier, Professoren sowie Vertreter von Gewerkschaften und anderen Interessenverbänden angehören. Von 1918 bis 1922 betätigt er sich zudem als Autor einer politischen Kolumne für die alle vierzehn Tage erscheinenden Spektator-Briefe. Damit hat er ein Forum, um seine politischen Gedanken zum Zeitgeschehen öffentlich zum Ausdruck zu bringen. Über die publizistische Tätigkeit hinaus engagiert sich Troeltsch nach dem Kriege auch in der Deutschen Demokratischen Partei. Im März 1919 wird er in das Amt eines parlamentarischen Unterstaatssekretärs im preußischen Kultusministerium berufen.

In den Spektator-Briefen wirbt Troeltsch für ein neues Ordnungsdenken. Er sieht ein Versagen der Intelligenz als Ursache dafür, dass es nicht so recht vorwärts gehen will. Den viel gerühmten »deutschen Geist« sieht er nach dem Kriege sehr viel kritischer als noch zur Kriegszeit. Die Friedensbedingungen der Siegermächte kritisiert er zwar heftig, aber noch mehr beanstandet er die Standesinteressen des Militärs, des Bürgertums, des Beamtenstands und der Aristokratie. An die Stelle »einer Aristokratie des Standes und der Privilegien« solle »eine Aristokratie der Leistung und des persönlichen Wertes« treten.21 Kritisch sieht er auch den deutschen Protestantismus, besonders in seiner kirchlichen Gestalt.22 Troeltsch setzt auf eine »soziale Demokratie«, die allerdings recht konservative Züge trägt. Er will eine Demokratie gegründet auf Volkswillen und Verfassung, ohne eine plötzliche Umkehrung der Machtverhältnisse.


Bleibende Bedeutung

1922 erhält Troeltsch überraschend eine Einladung ins Vereinigte Königreich zu mehreren Vorträgen, die er im März 1923 an den Universitäten von London, Oxford und Edinburgh sowie vor der Londoner Society for the Study of Religion halten soll. Für diese Einladung waren wohl nicht nur theologische, sondern auch politische Überlegungen im Spiel. »Mit ihm sollte auf ein ›anderes‹ Deutschland hingewiesen werden, ein Deutschland, das auf Ausgleich und Verständigung bedacht war.«23

Doch dazu kommt es nicht mehr. Im Januar erkrankt er an einer Lungenembolie, hinzu kommt eine Herzschwäche. Er erholt sich kurzfristig und erleidet dann einen schweren Rückfall. Noch nicht ganz 58jährig, stirbt er am 1. Februar 1923. Die Rede am Sarg hält Adolph von Harnack. Ehefrau Marta schreibt über den Tod ihres Mannes: »Was die Wissenschaft und die deutsche Nation verloren haben, das können wohl andere besser beurteilen als ich; was an dem Menschen Ernst Troeltsch verloren gegangen ist, das weiß niemand besser als ich.«24

Hans-Georg Drescher resümiert: »Bei einer dogmatisch unverstellten Würdigung von Troeltschs Werk fällt vor allem die ungeheure Bereite seiner Interessen, seiner Tätigkeiten und seiner Publikationen ins Auge. Keiner der nachfolgenden großen Theologen hat Entsprechendes aufzuweisen, und auch nur auf wenige vor ihm trifft es in ähnlicher ­Weise zu.«25

Troeltsch ist es zweifellos gelungen, die geistigen und politischen Herausforderungen seiner Zeit unverschleiert wahrzunehmen. Zu ihnen gehörten die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse ebenso wie die neueren Geisteswissenschaften, insbesondere die Geschichtswissenschaft mit der Religionsgeschichte. Auf politischer Ebene gehörten dazu Nationalismus und Militarismus. Troeltsch hat sich den geistigen Herausforderungen seiner Zeit nicht nur gestellt, sondern sie in sein Denken einbezogen und daraus die für ihn notwendigen Konsequenzen gezogen. Die »Historische Methode« hatte für sein kritisches Bibelverständnis ebenso Konsequenzen wie die Religionsgeschichte für sein verändertes Offenbarungsverständnis und die christliche Dogmatik. Dass er damit zuweilen das Kirchenvolk verstörte, lag in der Natur der Sache. Ihm war darum auch klar, dass die Theologie – insbesondere die systematische und die praktische Theologie – behutsam mit den neuen Erkenntnissen (insbesondere der neueren Bibelkritik) umzugehen hatte. Das tat sie denn auch in Gestalt einer Barthschen Theologie, die um des kriegsmüden Kirchenvolks willen eine »Theologie von oben« predigte, die oft als Abwehr und Überwindung der liberalen Theologie (miss)verstanden wurde. Denn die liberale Theologie war und ist nicht zu überwinden, sondern angesichts heutiger Herausforderungen – wie Fundamentalismus und militanter Atheismus – so aktuell wie nie zuvor. Darum verdient es Troeltsch, heute wieder zu neuen Ehren zu kommen.


Anmerkungen:

1 Hans-Georg Drescher: Ernst Troeltsch. Leben und Werk, Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen 1991, 529.

2 Brief vom 6. November 1885 an Bousset; zit. nach: Drescher, a.a.O., 40.

3 Ernst Troeltsch, Die Selbständigkeit der Religion, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 6 (1896), 80; zit. nach: Drescher, a.a.O., 139.

4 Brief an Bousset vom 1. Januar 1900, UB Göttingen; zit. nach: Drescher, a.a.O., 120.

5 Ernst Troeltsch, Zur Religiösen Lage, Religionsgeschichte und Ethik (Gesammelte Schriften II), Tübingen 1913, 734.

6 Drescher, a.a.O., 166.

7 Die Religionswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Bd. 1, Leipzig 125, 65 ff.; zit. nach: Drescher, a.a.O., 209 f.

8 Brief an H. Münsterberg vom 15. Oktober 1904, Boston Public Library, unveröffentlicht; zit. nach: Drescher, a.a.O., 184.

9 In seinem Nachruf auf Max Weber vom 20. Juni 1920, abgedruckt in: Deutscher Geist und Westeuropa, Tübingen 1925, Neudruck Aalen 1966; zit. nach: Drescher, a.a.O., 209.

10 Drescher, a.a.O., 213.

11 Drescher, a.a.O., 199.

12 Drescher, a.a.O., 196.

13 Drescher, a.a.O., 196.

14 Drescher, a.a.O., 198.

15 Drescher, a.a.O., 198.

16 So Adolf von Harnack bei seiner Rede am Grab Troeltschs, abgedruck in: Christliche Welt 37, Jg. 1923, Sp 103.

17 A.a.O., Sp. 104.

18 Drescher, a.a.O., 429 f.

19 Drescher, a.a.O., 422.

20 Friedrich Meinecke: Autobiographische Schriften, Werke Bd. VIII, Stuttgart 1969, 235; zit. nach. Drescher, a.a.O., 448.

21 Drescher, a.a.O., 461.

22 Drescher, a.a.O., 465.

23 Drescher, a.a.O., 526.

24 Drescher, a.a.O., 527 f.

25 Drescher, a.a.O., 528.


Kurt Bangert

 

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 2/2015

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