Die Frage, welche Bedeutung der Bibel für den christlichen Glauben in seiner reformatorischen Prägung heute zukommt, stellt sich neu. Der Protestantismus schwankt zwischen Bibelkritik und Kritik der Bibelkritik. Gefragt ist jedoch ein Umgang mit der Bibel, der auf die heutige Suche nach Sinn und Bedeutung angemessen eingehen kann.
Gegenwärtig stehen die Kirchen vor der Herausforderung, mit der Bibel so zu umzugehen, dass sie auf die heutige Situation, die von Individualisierung und religiöser Pluralisierung geprägt ist, bezogen werden kann. Dabei empfiehlt es sich, zunächst grundsätzlich zu fragen, was sich durch die Schriftform heiliger Texte ändert im Vergleich zur vorschriftlichen Phase der Überlieferung.
1. Was verändert sich, wenn mündliche Überlieferung schriftlich festgehalten wird?
Als im Jahr 622 v. Chr. eine Schriftrolle mit dem Gesetz Gottes im Tempel von Jerusalem entdeckt wurde, führte das unter König Josia zu einem Bruch mit der Vergangenheit und zu einer radikalen monotheistischen Reform. Die Schrift war die Basis dieser Reform. Das schriftlich vorliegende Gesetz Gottes gewann allein durch die Schriftform an Autorität. Man konnte es nachlesen und jederzeit zitieren. In der Schriftform war dieses Gotteswort jederzeit verfügbar.
Ganz anders verhält es sich mit mündlicher Tradition. Die Worte und Taten des Jesus von Nazareth erzählte man mehrere Jahrzehnte lang mündlich, bevor die Evangelisten ab etwa 70 n. Chr. damit begannen, sie aufzuschreiben.
Beim Übergang von der mündlichen Erzählung zur schriftlichen Fixierung verändert sich die Kommunikation. Die Überlieferung wird sozusagen eingefroren. Es ergibt sich ein Standbild oder eine Momentaufnahme, wie sie zur Zeit der Autoren und Verfasser der biblischen Schriften vorlag. Im Stadium der mündlichen Erzählung orientieren sich die jeweiligen Erzähler sowohl an dem, was sie zu berichten haben, wie auch an den Adressaten, an die sie sich wenden, die ja unmittelbar anwesend sind. Auf diese Weise adaptieren sie die Überlieferung laufend an die jeweilige Situation. Mündliche Überlieferung fließt und verändert sich dabei. Liegt die Überlieferung schriftlich vor, verändert sie sich nicht mehr. Sie wird jetzt als verbindlicher Text betrachtet, der die Erinnerung in letztgültiger Fassung festhält und sie der Nachwelt übergibt.
Die Schriftform wird in ihrer Bedeutung zusätzlich dadurch betont, dass man die Sammlung der Schriften irgendwann für beendet erklärt hat. So entstand der Kanon. Außerhalb dieses Kanons gibt es fortan keine Schrift mehr, die denselben Rang einnehmen kann. Das Wirken Gottes kann man sich indessen nie als abgeschlossen denken. Es geht weiter, auch wenn in die Heilige Schrift keine weiteren Texte mehr aufgenommen werden.
Immerhin wurden in der Bibel auf diese Weise höchst unterschiedliche Schriften aus unterschiedlichen Zeiten und von unterschiedlichen Autoren mit sehr verschiedenen Fragestellungen und unterschiedlichen theologischen Interpretationen gesammelt. Die Bibel ist so zu einer vielstimmigen Heiligen Schrift geworden. Es gibt nicht nur ein Evangelium, sondern deren vier. Alle vier setzen unterschiedliche Akzente. Am auffälligsten sind die Unterschiede zwischen den ersten drei Evangelien Matthäus, Markus und Lukas auf der einen Seite und Johannes auf der anderen Seite. Aber nicht nur hier treten die Unterschiede zu Tage. Die Bibel ist darüber hinaus auch eine interreligiöse Heilige Schrift. Sie fasst die heiligen Schriften von Juden und Christen zusammen.
Nach dem Übergang in die Schriftform tritt an die Stelle der mündlichen Erzählung die Auslegung der Schrift. Die Schrift selbst bleibt unverändert, flexibel und variabel muss aber ihre Auslegung sein, damit gegenwärtig lebende Menschen einen Zugang finden zu dem, was damals geschrieben worden ist. Der Prozess des Fließens, der Aktualisierung und Anpassung der Tradition verschwindet also nicht, er verlagert sich lediglich in die nachschriftliche Epoche. Nachschriftlich muss die Auslegung der Schrift Erkenntnisse aufnehmen, die die Menschheit erst nach Abschluss des heiligen Kanons gewonnen hat. Das gilt z.B. im Blick auf die heutigen Kenntnisse von der Evolution des Lebens und der Entwicklung des Universums, von denen die Menschen zu biblischer Zeit noch nichts wissen konnten. Die Situation der Bibelauslegung ist heute geprägt durch den Streit darüber, in welchem Umfang nachschriftlich zugewachsene Erkenntnis in den Kanon christlichen Selbstverständnisses aufgenommen werden darf.
2. Zwischen Bibelkritik und Kritik der Bibelkritik – zur Situation der Bibelauslegung heute
Das Problem aller Schriftreligionen ist es, dass sie in der Gefahr stehen, die Schriftform ihrer heiligen Texte als Norm zu betrachten, der gegenüber alles andere erst einmal nicht bestehen kann. Doch die Texte sind nur Verweise auf eine Realität, die nicht im Text selbst zu finden ist. Die Texte verweisen nicht auf sich selbst als Norm, sondern auf die Gegenwart Gottes, die nicht Text, sondern Mensch geworden ist. Die Worte des Textes verweisen auf eine Erfahrung, die mit Worten letztlich nicht zu beschreiben ist. Deshalb sind die biblischen Texte durchlässig für das, was nicht sagbar ist. Vermutlich deshalb reden sie nicht in den Kategorien kritischer Rationalität, geht es ihnen nicht um die Gegensätze von entweder – oder, richtig – falsch. Sie reden paradox und mehrdimensional.
Ein einfaches Beispiel: Wenn die Evangelien erzählen, Jesus sei auf dem Wasser gegangen, so ist das kein Hinweis auf die Fähigkeit, ein Naturgesetz außer Kraft zu setzen. Die rationale Frage, ob es so war oder nicht, interessiert den Text nicht. Nehmen wir an, es war so, dann befindet sich der Leser in der Rolle des staunenden Bewunderers. Es bliebe völlig ohne Belang für ihn. Wenn das Gehen über Wasser uns auch heute noch etwas zu sagen hat, dann nur, weil diese Worte symbolisch auf etwas verweisen, was wir auch kennen, nämlich die Erfahrung, ohne Angst über Abgründe gehen zu können.
Seit wir in der Aufklärung gelernt haben, die Welt mit den Augen der kritischen Vernunft zu betrachten, haben wir auch die Bibel einer kritisch-rationalen Durchsicht unterzogen. Dabei haben wir gelernt, dass – gemessen an den Kriterien der Logik von Raum und Zeit – vieles nicht so gewesen sein kann, wie es da steht, dass viele dieser Texte aus dem Glauben der späteren Gemeinde kommen, und dass die Berichte insgesamt den heutigen Kriterien für historische Verlässlichkeit keineswegs entsprechen.
Das führt zu einer bis heute noch nicht abgeschlossenen Dekonstruktion vieler Überzeugungen, die sich auf die Bibel als Gottes Wort stützen. Die Welt ist nicht in sieben Tagen geschaffen worden, das Leben hat sich evolutiv entwickelt, die Erde ist nicht Mittelpunkt des Kosmos, die Weihnachtsgeschichte erzählt in Form einer Legende von der Geburt des Gottessohnes, die Frau schweigt in der Gemeinde keinesfalls, die Erzählungen von der Auferstehung Jesu sind keine historischen Berichte über ein Ereignis in Raum und Zeit. Das verunsichert auch heute Menschen, die ihren Glauben darauf gründen, dass alles so geschehen ist, wie es in der Bibel steht.
Es gibt deshalb Bestrebungen in der Theologie und in den Kirchen, das Rad zurückzudrehen und die Texte der Bibel einfach so zu lesen, wie sie da stehen. Dabei wird übersehen, dass die Kirche immer davon ausgegangen ist, dass es mindestens zwei Sinnebenen der Schrift gibt, den Wortsinn und den geistigen oder mystischen Sinn. Dem Wortsinn nach kann ein Ereignis in Raum und Zeit geschehen sein und zugleich einen geistigen Sinn haben. Geistige Wirklichkeiten kann es aber auch ohne irgendein Korrelat in der Welt der messbaren Erscheinungen geben. Wenn Joh. Christus als den präexistenten Logos versteht, entspricht dem nur eine geistige oder spirituelle, jedoch keine historische Wirklichkeit.
Die religiöse Sprachform, die geistigen Wirklichkeiten entspricht, ist die des Mythos, des Symbols und der Metapher. Darauf hat Hubertus Halbfas in seiner »Religiösen Sprachlehre« hingewiesen.1 Weil wir heute große Mühe haben, diese Sprachformen zu verstehen, verzichten viele Menschen ganz auf sie. Daraus sollte man jedoch nicht folgern, dass der Glaube der Menschen verdunstet. Es vollzieht sich aber ein dramatischer »Glaubensverlust«,2 der mit religiösem Analphabetismus zusammenhängt. Die traditionelle, in den Kirchen übliche objektivierende Sprachgestalt der Texte, Bekenntnisse, Predigten und Lieder hilft über diesen Sprachverlust nicht hinweg. Im Gegenteil: die Gottesdienste werden museal.
Symbolische Bedeutung gilt im Weltbild der objektiven oder historischen Fakten als unwirklich. Wenn man also sagt, etwas sei symbolisch gemeint, dann denken viele, es sei nicht wirklich und deshalb auch nicht wichtig. In der Bibel begegnet uns aber auf Schritt und Tritt symbolische Sprache. Der Anfang von Ps. 23 (»Der Herr ist mein Hirte«) ist ein bekanntes Beispiel für diese Redeweise. Selbstverständlich ist Gott kein wirklicher Hirte. Aber was menschliche Hirten tun, ist Symbol für die Wirkweise Gottes. Wir verstehen das Symbol unmittelbar, ohne Gott deswegen für einen tatsächlichen Hirten zu halten.
Die historisch-kritische Bibelerforschung der letzten 250 Jahre hat ans Licht gebracht, dass die Bibel weithin symbolisch und nicht objektiv spricht. Einer, der hinter diese Einsicht der historischen Kritik wieder zurück will, ist Ulrich Wilckens, emeritierter Professor für Neues Testament und früherer Bischof in Nordelbien. Er meint, man müsse die Bibel heute wieder als Heilige Schrift ernst nehmen.3 Die historisch-kritische Forschung verstehe die biblischen Texte nicht als Heilige Schrift, sondern als Produkte des menschlichen Geistes, sagt Wilckens. Da die historisch-kritische Auslegung ein Unternehmen der Vernunft sei, könne sie per definitionem nicht theologisch sein. Wilckens will deshalb die Aussagen der Bibel historisch ernst nehmen, um ihre theologische Bedeutung zu retten. Das muss scheitern. Stattdessen muss es darum gehen, über den Wortsinn hinaus nach dem geistigen Schriftsinn zu fragen.
Folgt man dem Weg, den Wilckens vorschlägt, entfernen sich die Texte in eine religiöse Sonderwelt, die heutigen Menschen verschlossen bleibt. Ein hilfreicher gegenwärtiger Zugang zur Bibel wird blockiert. Der Ausleger tut so, als wisse er nicht, dass die Texte symbolisch sprechen. Er drückt sich vor dieser Erkenntnis, weil er befürchtet, dann seien sie nicht mehr wirklich. Alle akademisch ausgebildeten Theologen wissen zwar über symbolische Sprachformen gut Bescheid. Viele scheinen aber der Meinung zu sein, dies dürfe man den Menschen in den Gemeinden nicht zumuten, weil man sie sonst in ihrem Glauben verunsichert.
Wie konnte es dahin kommen, dass die Auslegung der Bibel heute über historische Bibelkritik und Kritik der Bibelkritik kaum hinauskommt? Beide streiten sich lediglich um die Frage, ob es so oder anders gewesen ist. Beide sind Produkte der rationalen Vernunft und haben kein Gespür für andere Dimensionen des menschlichen Daseins. Ich vermute, unsere Schwierigkeiten haben zu tun mit der unkritischen Übernahme des reformatorischen Grundsatzes, wonach »allein« die Schrift die Grundlage und Quelle des christlichen Glaubens sei. Nicht so sehr die Schrift ist dabei das Problem, sondern der exklusive Zusatz »allein«. Was bedeutete der Grundsatz »allein die Schrift« im Kontext der Reformation?
3. Zum Sinn des reformatorischen Grundsatzes »allein die Schrift«
Der reformatorische Grundsatz »allein die Schrift« richtete sich damals gegen zwei Fronten. Die eine war die Praxis der damaligen römisch-katholischen Kirche, das Leben der Menschen um ihres vermeintlichen Seelenheils willen zu beschweren. Dagegen richtete sich Luthers Kritik am Ablasswesen. Dieses beruhte auf einem Angst einflößenden Gottesbild, das dazu diente, wirtschaftlichen Profit zu machen. Luther hat seine Erkenntnis von der allein recht machenden Güte Gottes durch die intensive Beschäftigung mit biblischen Texten gewonnen. Von daher versteht sich seine Hochschätzung der Bibel.
Die andere Front richtete sich gegen die Spiritualisten, die Luther als »Schwärmer« bezeichnete. Zu ihnen gehörten z.B. Andreas Karlstadt und Thomas Münzer. Sie legten Wert auf ein unmittelbares Zeugnis Gottes im Geist des Menschen, das nicht durch die Schrift, sondern durch den heiligen Geist vermittelt sei. Dies hatte unter den damaligen angespannten politischen Verhältnissen und angesichts des Bauernaufstandes zur Folge, dass Forderungen erhoben wurden, die die bestehende Ordnung gar zu radikal verwarfen und deshalb zu Unfrieden und Krieg führten. Um dem zu begegnen, hat Luther betont, dass es das äußere, durch die Schrift vermittelte Wort Gottes braucht. Nur dort könne der Mensch die Stimme Gottes vernehmen, nicht aber in seinem eigenen Geist.
Luther hat früh Johannes Tauler und Heinrich Seuse gelesen, die ihrerseits von Meister Eckart inspiriert waren. Außerdem hat er die »Theologia Deutsch«, die spätmittelalterliche christlich-mystische Schrift eines anonymen Verfassers herausgegeben. Seine zentrale Reformationsschrift »Von der Freiheit eines Christenmenschen« zeigt deutlich die Spuren der Beeinflussung durch die mittelalterliche christliche Mystik. Von dieser mystischen Prägung seiner reformatorischen Anfänge hat sich Luther angesichts der chaotischen Wirren in der Reformationszeit mehr und mehr verabschiedet. Im Ergebnis führte dies dazu, dass er das äußere Wort der Schrift, das in der Predigt ausgelegt wird, als das ordnende und stabilisierende Merkmal der Kirche verstanden hat. Der geistige Sinn der Schrift erschließt sich nur durch den Wortsinn, der aber nicht als informierende Mitteilung, sondern als performatives Wort verstanden wird: Es tut, was es sagt.
4. Die universale Wahrnehmungsgeschichte Gottes als Horizont der Bibelauslegung
Die Reform des Grundsatzes »allein die Schrift« wird damit beginnen müssen, die Bibel in den Horizont einer universalen menschlichen Wahrnehmungsgeschichte Gottes zu stellen. Diese Formulierung übernehme ich von Klaus-Peter Jörns.4 Die Rede von Gott ist menschliche Rede. Sie ist nicht Gottes Rede selbst. Wenn Menschen von Gott reden, reden sie von dem, was Gott in ihnen an Eindrücken hinterlassen hat. Wenn Jörns von Wahrnehmungsgestalten Gottes spricht, will er ernst nehmen, dass wir Menschen Gott nicht an sich in seinem eigenen Sein wahrnehmen, sondern lediglich als Eindruck im eigenen Bewusstsein. Der Eindruck, den Gott in unserem Bewusstsein hinterlässt, kommt zum Ausdruck, indem wir darüber Worte machen und die Erfahrung versprachlichen.
Die mystische Linie des Christentums hat immer die Einsicht bewahrt, dass Worte und Texte Gott selbst niemals zur Sprache bringen können, sondern allenfalls den menschlichen Eindruck davon. Darum haben die Mystiker über Gott mehr geschwiegen denn geredet. Ihr vielsagendes Schweigen ist Ausdruck dafür, dass Worte und Texte verstummen müssen, wenn sie ihre Funktion als symbolische Fingerzeige auf die eine göttliche Wirklichkeit erfüllt haben. Als symbolisch verweisend unterscheidet sich die religiöse Sprache grundsätzlich vom alltäglichen objektivierenden und feststellenden Gebrauch von Worten. Sprechen wir von einem Stuhl, meinen wir ein Stück verarbeitetes Holz mit vier Beinen und einer Lehne zum Zweck des bequemen Sitzens. Das Wort bezeichnet die gemeinte Sache. Wie aber kann man ausdrücken, dass Gott die Verlorenen sucht? Wie gibt man dieser geistigen Wirklichkeit Sprache? Jesus sagt dies nicht einfach, als ob es ein Stuhl wäre. Er erzählt stattdessen die Geschichte vom Hirten, der 99 Schafe zurücklässt, um das eine zu suchen. Er bezeichnet Gott nicht wie einen Gegenstand dieser Welt. Er redet indirekt von einem Hirten und seinen Schafen. Aus dem Betrachten des Verhaltens dieses Hirten ergibt sich die Erkenntnis, dass es so ja auch bei Gott sein könnte.
Man sieht an diesem Beispiel, dass religiöse Sprache dem schauenden Betrachten entspringt, nicht der gedanklichen Analyse. Die entsprechende Praxis des wiederholenden Betrachtens von Texten nennt man in der christlichen Tradition Meditation. Diese Praxis war Luther sehr vertraut. Darüber hinaus kennt die Mystik auch das schlichte verweilende Dasein in der Gegenwart Gottes ohne diskursives Nachdenken. Dies nennt man in der christlichen Tradition Kontemplation. Luther hat die Kontemplation durch die Anfechtung (tentatio) ersetzt. Nicht im verweilenden Dasein, sondern im Hören auf das Wort trotz widerstreitender Erfahrungen vollendet sich ihm zufolge die Meditation der Schrift.
Gott erscheint aber nie anders als im Bewusstsein. Das »äußere« Wort bleibt nicht außen. Von Offenbarung im Sinne einer objektiven Selbstmitteilung Gottes am menschlichen Bewusstsein vorbei lässt sich dann nicht mehr sprechen.
5. Schleiermachers Theologie des Bewusstseins
Friedrich Schleiermacher war der Theologe, der Anfang des 19. Jh. als erster konsequent davon sprach, dass Jesus ein besonders entfaltetes Gottesbewusstsein hatte. Das Gefühl, »schlechthin abhängig« zu sein, ist identisch mit dem Bewusstsein, mit Gott in Beziehung zu sein.5 Das Gottesbewusstsein Jesu stellte er sich überfließend vor, d.h. es teilt sich mit und ist in der Lage, auch die Menschen zu ergreifen. Jesus ist allen Menschen der Natur nach gleich, zugleich aber unterschieden »durch die stetige Kräftigkeit seines Gottesbewusstseins.«6 Seine erlösende Bedeutung gewinnt Jesus dadurch, dass er die Menschen in dieses Gottesbewusstsein einbezieht und ihnen daran Anteil gibt. Das ist vermittelt durch den heiligen Geist, der nach dem Weggang Jesu aus der Welt seine bleibende Gegenwart repräsentiert. Schleiermacher verstand Jesus nicht von seinem göttlichen Sein, sondern von seinem göttlichen Bewusstsein her und machte damit ernst mit modernen Erkenntnissen der Bewusstseins- und Wahrnehmungsforschung auch für die Theologie.
In der wissenschaftlichen Theologie weiß man seit Schleiermacher von der Einbettung der Bibel in die Religionsgeschichte und Wahrnehmungsgeschichte Gottes. Das zu wissen, darf nicht auf die Hörsäle und Seminarräume beschränkt bleiben, sondern muss Eingang finden in Gottesdienst, Bibelstunde und Unterricht in den Gemeinden und Schulen. Die Aufgabe heute lautet, eine zugleich wissenschaftlich und spirituell sprachfähige Theologie zu entwickeln. Bisher ist es noch nicht recht gelungen, das eine mit dem anderen zu verbinden.
6. Gelassenheit im Umgang mit der Bibel als Literatur menschlicher Gotteswahrnehmung
Die Ausschließlichkeit der Bindung an die Schrift hat im Protestantismus zu einer gewissen Einseitigkeit geführt. Das ausgelegte Wort der Bibel gilt als entscheidendes Merkmal von Kirche. Die dialektische Theologie Karl Barths hat die kritische Kraft dieses protestantischen Selbstverständnisses unter den Herausforderungen des 20. Jh. noch einmal eindrucksvoll demonstriert. Abermals bestätigte sich, dass der Grundsatz »allein die Schrift« dann besonders trägt, wenn die Kirche sich von anderen Geltungsansprüchen abgrenzen muss, wie das die Barmer Theologische Erklärung unter den Bedingungen von 1934 getan hat.
Bereits bei Martin Luther war zu sehen, dass seine Theologie weitgehend von der Konfrontation mit seinen Widersachern lebte. Sie war Trost in den Anfechtungen, die durch sein öffentliches Eintreten für die Wahrheit der Schrift gegen Papst, Schwärmer und auch die Juden unausweichlich geworden waren. Dieses protestantische Bewusstsein führte dazu, die Predigt »allein« an die Schrift zu binden. Das »allein« ist dabei das Problem, denn es verdankt sich der Kampfsituation der Reformationszeit, in der wir uns heute nicht mehr befinden. Ist die Schrift »allein« Maß und Mitte des Glaubens, führt das dazu, die Bibel als ein selbstreferentielles System von Sprache zu verstehen, das sich selbst auslegt und innerhalb des Kanons auf sich selbst verweist. Da aber bereits jüdische und christliche Glaubensvorstellungen in Verbindung stehen zu Vorstellungen aus Ägypten, Mesopotamien und dem alten Griechenland, führt die Beschränkung auf die Schrift als alleinige Quelle zu einem Selbstwiderspruch. Die Schrift selbst bricht das exklusive »allein« auf.
Heute können wir uns das Miteinander der christlichen Konfessionen und auch unterschiedlicher Religionen nur noch wie in einem offenen Haus vorstellen, in dem es mehrere Zimmer gibt, die man ungehindert betreten, wechseln und sich darin nach Belieben aufhalten kann. Man ist in vielen Zusammenhängen zu Hause, nicht nur in einem. Die Verengung des Blickes auf die Schrift führt außerdem dazu, dass gegenwärtige Gotteserfahrungen kaum theologisch gewürdigt werden. Dem gegenwärtigen Wirken des Geistes gegenüber sind die Kirchen immer skeptisch bis ablehnend geblieben. Die theologische Ausbildung konzentriert sich auf Fragen der Auslegung alter Texte und bezieht die heute dringend erforderliche individuelle und gemeinschaftliche Einführung in eine geistig-spirituelle Lebensgestalt nicht ein. Pfarrerinnen und Pfarrer werden in der Ordination darauf verpflichtet, eine bestimmte historisch bedingte konfessionelle Wahrnehmungsgestalt Gottes zu vertreten, selbst dann, wenn sie und ihre Gemeinden zu neuen Einsichten kommen sollten.
Das bindet die heutige Sprache des Glaubens an eine vergangene Sprache des Glaubens. Der Schriftbezug fordert die Leser und Hörer ständig dazu auf, sich zu den vorgetragenen Texten zu positionieren. Die Bibel gilt nicht als Literatur, die man mit Interesse liest, sondern als Gottes Wort, das zu glauben ist. Es geht immer wieder um die Frage, ob eine Auslegung richtig oder falsch im Sinne der Schrift und der Bekenntnisse ist. Im Konfliktfall engt das die persönliche Wahrnehmung ein oder verbiegt sie sogar.
Können wir uns vorstellen, biblische Texte ohne absoluten Glaubensanspruch als Zeugnisse aus einer bestimmten Zeit der Glaubensgeschichte zu uns sprechen zu lassen? Ziel wäre es, die Bibel wieder als große spirituelle Literatur zu lesen, der man sich interessiert und neugierig nähert. Die Forderung, zu glauben, was geschrieben steht, schreckt eher ab. Die Bibel ist eine Sammlung teils berührender, teils fremder Glaubenszeugnisse aus einem kulturell fernen Jahrtausend. Gelassenheit im Umgang mit ihren heiligen Texten täte allen Schriftreligionen gut und würde ihre Texte wieder neu zum Leuchten bringen. Die hermeneutische Frage ist nicht theologisch, sondern anthropologisch zu formulieren. Sie lautet nicht: Was sagt uns Gott durch diesen Text? – sondern: Wie kommen Menschen eigentlich dazu, so zu reden wie in der Bibel? Interreligiös betrachtet ist dieselbe Frage auch im Blick auf nichtbiblische heilige Texte zu stellen.
Anmerkungen:
1 Hubertus Halbfas: Religiöse Sprachlehre, Theorie und Praxis, Patmos-Verlag, Ostfildern 2012.
2 Hubertus Halbfas: Glaubensverlust. Warum sich das Christentum neu erfinden muss, Patmos-Verlag, Ostfildern 2011.
3 Ulrich Wilckens: Kritik der Bibelkritik. Wie die Bibel wieder zur heiligen Schrift werden kann. Neukirchner Verlag 2012.
4 Klaus-Peter Jörns: Update für den Glauben, Gütersloh 2012.
5 Friedrich Schleiermacher: Glaubenslehre, Band 1, Berlin 1960, §4.
6 Friedrich Schleiermacher; Glaubenslehre, Band 2, Berlin 1960, §94.
Zeugnis der universalen menschlichen Wahrnehmungsgeschichte Gottes
Thesen zum Bibelverständnis im 21. Jahrhundert
1 Der reformatorische Grundsatz »allein die Schrift« war anti-römisch-katholisch (Ablass, Papst), anti-schwärmerisch (unvermitteltes Wirken des Geistes) und anti-jüdisch (weil die Juden das Evangelium, von dem die Schrift zeugt, nicht angenommen haben). Was evangelisch ist, kann heute nicht mehr durch solche Abgrenzungen definiert werden. Sie sind historisch bedingt.
2 Die Schriftform und Kanonisierung heiliger Texte ergibt ein »Standbild« der Vorstellungen von Menschen einer bestimmten Epoche. Tatsächlich fließt die menschliche Wahrnehmung Gottes in einem ständigen Strom des Bewusstseins. Sie ist mit der Kanonisierung heiliger Texte nicht abgeschlossen.
3 Immerhin enthält die Bibel die Gotteswahrnehmungen etwa eines ganzen Jahrtausends. Es handelt sich daher um einen höchst vielgestaltigen, vielstimmigen und sogar interreligiösen Kanon.
4 Durch die Festlegung des Kanons wurde eine Reihe anderer Schriften (Apokryphen) ausgeschlossen, die durchaus ebenfalls lesenswert sind, durch die Abgrenzung des Kanons aber in Vergessenheit gerieten.
5 Die Bibel ist ein wichtiges Kapitel in der universalen menschlichen Wahrnehmungsgeschichte Gottes.
6 Die Gegenwart Gottes hinterlässt im menschlichen Bewusstsein Eindrücke, die sich historisch und kulturell bedingt ausdrücken und daher der Wandlung unterliegen.
7 Die biblischen Texte sind historisch und kulturell bedingte menschliche Berichte von den Eindrücken Gottes in ihrem Bewusstsein. Ihre Sprache ist nicht an objektiven Tatsachen interessiert. Da es in der Kirche kaum eine Einführung in die Formen religiöser Sprache gibt, die bis zu den Gemeinden durchdringt, ist das Missverständnis verbreitet, die Bibel schildere objektive Heilstatsachen in einer Art objektiver Heilsgeschichte.
8 Als Sprachgeschehen hat die Bibel Anteil an den Möglichkeiten und Grenzen menschlicher Sprache. Die Wirklichkeit Gottes kann mit den Mitteln der Sprache allenfalls angedeutet, nicht aber erfasst werden.
9 Eine dogmatische Mitte, die den Inhalt der Bibel auf eine kurze Formel bringt, lässt sich nicht finden. Eine solche dogmatische Mitte, die man z.B. »das Evangelium von Jesus Christus« nennt, nivelliert die Vielfalt und die Details konkreter Texte und stellt sie in den Dienst einer von außen an die Bibel herangetragenen kirchlichen oder reformatorischen Lehre.
10 Einen verbindlichen, für alle Zeiten feststehenden Glaubensinhalt lehrt die Bibel nicht. Sie ist zu lesen, wie man in der Kontemplation seinen eigenen Gedanken zuschaut: als Strom menschlicher Gedanken über Gott, die man neugierig, freundlich, interessiert und vielleicht auch erschrocken betrachtet, mit denen man sich aber nicht identifizieren muss. Die Bibel ist große spirituelle Literatur.
11 Ebenso wie die Bibel können auch andere (heilige) Texte betrachtet werden. Auch sie können hilfreich sein. Aber auch mit ihnen sollte man sich nicht ohne weiteres identifizieren.
12 Dieses undogmatische Bibelverständnis relativiert die Bibel nur insofern, als sie heute nicht mehr die einzige Quelle des Glaubens an Gott sein kann. Es führt zugleich zu einer neuen Wertschätzung der vielen unterschiedlichen biblischen Texte, die in ihrer Konkretion und in ihren Details unvoreingenommener wahrgenommen werden können.
13 In der mystischen Linie des Christentums (und anderer Religionen) findet sich eine transkonfessionelle und transrationale Spiritualität, die darauf verzichtet, Gott mit den Mitteln der Sprache in ein fixiertes »Standbild« zu pressen. Stattdessen schweigen die Mystiker über Gott und erleben die Gegenwart des Geistes im Stillwerden ihrer eigenen Gedanken über Gott.
14 Die Vorstellung, die Bibel sei »Gottes Wort«, meint nicht, das Wort Gottes liege geschrieben vor oder das Evangelium sei in der Schrift gleichsam objektiv »gegeben«. Es kann nur jeder einzelne Leser der Bibel in eigener Entscheidung einem Wort der Bibel seine Zustimmung geben.
15 Gott ist nicht Buch, Text oder Wort. »Allein die Schrift« ist darum heute kein tauglicher reformatorischer Grundsatz zur Abgrenzung der Quellen, aus denen sich der Glaube speist. Die Spiritualität im 21. Jh. löst sich zunehmend von solchen Festlegungen und öffnet sich dem Strom des menschlichen Bewusstseins ohne sich mit einzelnen Elementen daraus zu identifizieren.
16 Dieses Schriftverständnis steht im Konflikt mit dem institutionellen Interesse von Religionsgemeinschaften und Kirchen, ihre Identität zu sichern durch Festlegung eines bestimmten Kanons von Texten und Bekenntnissen, auf den man sich verbindlich zu beziehen hat.
17 Dieses institutionelle Interesse konnte freilich nicht verhindern, dass die Einheit der Kirche als Institution von Anfang an nie realisiert worden ist. Das Christentum hat sich daher notwendigerweise um der Nähe zu Menschen willen in zahlreiche unterschiedliche Konfessionen aufgeteilt. Das ist ein Hinweis darauf, dass die Vielgestaltigkeit der Bibel oder anderer Textgrundlagen (Bekenntnisse) nicht zur Einheit der Institution führen kann und dies auch nicht muss. Die christlichen Konfessionen sind ihrerseits legitimer Ausdruck unterschiedlicher menschlicher Wahrnehmungsgestalten derselben Textgrundlage (Bibel). Über Sprache lässt sich keine Einheit herstellen.
18 Der Konflikt zwischen institutionellen Interessen und diesem undogmatischen Schriftverständnis ist auszuhalten. Es ist ein produktiver, weiterführender Konflikt. Er wird im Verlauf der weiteren Entwicklung möglicherweise zu einer anderen Gestalt von Kirche führen, die wir heute nur in Umrissen ahnen können. Aber man darf gespannt sein. In der Offenheit für diese weitere Entwicklung steht die Kirche dazu, »semper reformanda« zu sein.
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 2/2014