Fünf Schlaglichter zur Einstimmung
Zur Einstimmung möchte ich fünf (zufällig ausgewählte) Schlaglichter auf das strittige Thema werfen. Sie ergeben ein interessantes, weil vielfältiges und widersprüchliches Bild:
I: Zum angekündigten Rücktritt Benedikts XVI. twitterte jemand, dieses Ereignis habe »fast schon demokratische Züge«2. In der Tat ist es wohl demokratischer, wenn ein Leitungsamt nicht auf Lebenszeit vergeben wird, sondern für einen begrenzten Zeitraum. In Kirchen ist das allerdings keine Selbstverständlichkeit.
II: Als Martin Niemöller, Galionsfigur der Bekennenden Kirche, Kirchenpräsident, nach einigen hitzigen Debatten die Kirchensynode der Evang. Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) verließ, begründete er dies damit, dass die Kirche einen »Kyrios« habe und deshalb nicht demokratisiert werden könne.3
III: Derselbe Niemöller sagte in einem anderen Kontext, Demokratie sei am besten in einem U-Boot umzusetzen. Wörtlich: »Ich kann nur sagen, ich habe keine demokratischere Verwirklichung gesehen als meine U-Boot-Besatzung. […] Ach, im kritischen Augenblick natürlich, da gibt’s keine Mitbestimmung.
[!…] Das war etwas, was für meine Begriffe eine ideale Demokratie gewesen ist.«4
IV: In der aktuellen Statistikbroschüre der EKD heißt es: »Kirchenleitung zeichnet sich im deutschen Protestantismus auf allen Ebenen durch demokratische Strukturen aus«5. Das Vorwort der Broschüre stammt vom Ratsvorsitzenden, Präses Nikolaus Schneider.
V: Zu Beginn des Jahres 2013 schlug eine von Reinhard Höppner geleitete Kommission der Synode der Evang. Kirche im Rheinland (EKiR) vor, diese Landeskirche möge sich eine neue Kirchenverfassung geben, in welcher der innerkirchlichen Gewaltenteilung künftig mehr Gewicht zukommen solle. Präses Nikolaus Schneider lehnte dies mit Berufung auf die Barmer Theologische Erklärung ab. Die Synode sei in einem gewissen Sinne Exekutive, Legislative und Judikative in einem. Schneider wörtlich: »Damit ist sie im politischen Sinn nicht demokratisch.«6
Was gilt denn nun? Ist die Kirche in ihrem Inneren demokratisch verfasst oder nicht? Die Antwort fällt nicht leicht angesichts des widersprüchlichen Befundes. Erschwerend kommt hinzu, dass das Adjektiv »demokratisch« im allgemeinen Bewusstsein unserer Gesellschaft so etwas wie ein Gütesiegel darstellt. Wenn die Kirche also nicht demokratisch verfasst sein sollte, hätte dies womöglich für ihre gesellschaftliche Akzeptanz und ihr Ansehen negative Folgen. Und doch gilt es, diese Möglichkeit in einem genauen Sinne zu bedenken.
Die folgenden Ausführungen sind in zehn Thesen gegliedert, denen jeweils Erläuterungen folgen.
1. Demokratie ist in der Bibel kein Thema.
Klar ist: Weder der Begriff noch die Sache kommen in der Bibel vor. Jedenfalls dann nicht, wenn wir von der Staatsform Demokratie in ihrer antiken Form (aber natürlich erst recht in ihrer modernen, repräsentativen, parlamentarischen Form) reden. Antike Demokratien waren überdies – und das war für Christenmenschen damals sicherlich nicht anziehend – wie andere antike Staatsformen auch durch fundamentale Ungleichheiten gekennzeichnet: Frauen, Kinder, Ausländer und Sklaven waren benachteiligt bis rechtlos. Die frühe Christenheit hatte demgegenüber von Anfang an egalitäre und ausgesprochen soziale Züge. Das Wort aus Gal. 3,28 (»Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus«) passt heute (wenn man die letzten drei Worte weglässt) zwar nahtlos zur Staatsform Demokratie, in der Antike war dies jedoch keineswegs der Fall.
Insgesamt hat die Bibel wenig Interesse an der Thematik der Staatsformen. Das mag im Blick auf das NT an der im Urchristentum vorherrschenden eschatologischen Naherwartung liegen, die konsequenterweise Desinteresse an der damaligen Organisationsform von Gesellschaften zur Folge hatte. Paulus rät in Röm. 13 dazu, sich mit der vorgegebenen Staatsform zu arrangieren und begründet dies mit ihrer göttlichen Einsetzung. Er kennzeichnet die »Obrigkeit« seiner Zeit, wohlgemerkt des römischen Kaiserreiches unter Nero, als »diakonos theou«, also »Dienerin bzw. Diakonin Gottes« (13,4), sowie die römischen Staatsbeamten, die Steuern eintreiben, als Gottes »Liturgen« (13,6). An Demokratie dachte Paulus dabei sicher nicht. Wir dürfen aber wohl dennoch begründet annehmen, dass Paulus das 13. Kapitel seines Römerbriefes im Blick auf eine demokratische Staatsform kaum anders formuliert hätte. Zumindest war ja von Demokratien nichts Schlimmeres erwartbar als von kaiserlich geführten Monarchien.
Im 20. Jh. hat Karl Barth darauf hingewiesen, dass der römische Statthalter Pontius Pilatus nicht nur in den Evangelien, sondern auch im Apostolischen Glaubensbekenntnis vorkommt. Wenn Pilatus, der ja weder Demokrat noch Wohltäter noch Menschenfreund war, im Credo explizite Erwähnung fand, dann kann man auch dies so deuten, dass Christenmenschen mit ihrer jeweiligen staatlichen und gesellschaftlichen Umwelt leben und sich mit ihr arrangieren sollen. Auch wenn dies keineswegs leicht und mitunter eine Herausforderung ist. Wenn aber mit nicht-demokratischen Staatsformen, dann doch wohl mit demokratischen umso lieber! Dennoch muss das Fazit an dieser Stelle lauten: Für unser heutiges Demokratieverständnis und somit auch für das hier in Rede stehende Thema können wir aus den Ursprungsdokumenten unseres Glaubens kaum etwas bis gar nichts ableiten.
2. Demokratie ist weder in den Bekenntnisschriften noch in der Barmer Theologischen Erklärung ein Thema.
Bei den klassischen Bekenntnissen, sei es der Alten Kirche (Apostolicum, Nicänum) oder jenen der Reformationszeit, liegt dies auf der Hand: Sie entstanden in einer völlig anderen gesellschaftlichen Umwelt, in welcher Demokratien (zumal im heutigen, modernen, repräsentativen Sinne) keine Rolle spielten bzw. nicht existierten. Daher finden sich lediglich an Bibeltexte wie Röm. 13 angelehnte allgemeine Aussagen zum Verhältnis der Christenmenschen und der christlichen Kirche zum Staat. Diese sind in ihrer Grundausrichtung in der Reformationszeit affirmativ: Der Staat wird als von Gott gewollte Ordnungsmacht bejaht, Christenmenschen stehen nicht in Opposition zu ihm, sondern sind frei, sich als Staatsbürger und -bürgerinnen in ihm zu betätigen.7 Im 16. Jh. war für die evangelische Kirche die Frage nach der inneren Struktur der Kirche von einer gewissen Gleichgültigkeit; man denke etwa an den 7. Artikel der Confessio Augustana (CA VII) und die in ihm gegebene ebenso funktionale wie minimalistische Kirchendefinition über die (reine) Predigt des Evangeliums und die (rechte) Sakramentsverwaltung.8
Die Barmer Theologische Erklärung von 1934 (im Folgenden BTE abgekürzt oder auch kurz »Barmen« genannt) bietet ein Beispiel aktuellen kirchlichen (evangelischen) Bekennens in einem außerordentlich schwierigen und bedrohlichen politischen Kontext.9 Sie grenzt sich von einer ganz spezifischen totalitären Staatsform ab, die massiven Einfluss auf Kirche nehmen möchte, dem sich innerkirchlich im häretischen Phänomen der sog. »Deutschen Christen« inkarnierenden Nationalsozialismus. Über die innere Organisationsform von Kirche macht die BTE immerhin einige Aussagen und geht damit über frühere kirchliche Bekenntnisse hinaus. In ihrer vierten These heißt es:
»Die verschiedenen Ämter in der Kirche begründen keine Herrschaft der einen über die anderen, sondern die Ausübung des der ganzen Gemeinde anvertrauten und befohlenen Dienstes.
Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und dürfe sich die Kirche abseits von diesem Dienst besondere, mit Herrschaftsbefugnissen ausgestattete Führer geben und geben lassen.«10
In einer Zeit, in der das Führerprinzip als nicht nur legitime, sondern konkurrenzlos wünschenswerte Herrschaftsform galt, waren das deutliche, durchaus widerständige Worte. Sie besagten: Innerhalb (!) der evangelischen Kirche kann das Führerprinzip keine Geltung beanspruchen.11 Denn sie steht in ihrer Organisationsform für den Dienst am Evangelium und nicht für eine auf bestimmte Ämter sich gründende Herrschaft der einen über die anderen. Das klingt zunächst einmal gut.
Allerdings gilt: Über das Verhältnis der Kirche zur Demokratie sagt Barmen nichts aus – weder im Blick auf die äußere, im Staate anzutreffende Demokratie noch im Blick auf die Organisation der Kirche im Inneren. Sodann: Die BTE wird auch in der Gegenwart noch ganz unterschiedlich interpretiert. Manche (etwa bestimmte Gruppen und Kreise in der EKHN) leiten aus ihr ab, man brauche in dieser Landeskirche ein »Leitendes Geistliches Amt (LGA)« neben der Kirchenleitung. Andere sagen das genaue Gegenteil und berufen sich damit ebenfalls auf Barmen. In der EKiR folgert – Schlaglicht V – der Ratsvorsitzende der EKD, Nikolaus Schneider, aus der BTE, dass er als Präses der Synode zugleich der leitende Geistliche seiner Kirche sein könne und dass es somit in seiner Kirche keine Gewaltenteilung zu geben brauche. Die BTE ist offenbar keineswegs klar und eindeutig in ihrer Vorstellung, wie die evangelische Kirche nach innen organisiert werden solle.
Schließlich: So richtig es auch ist, dass die verschiedenen Ämter in der Kirche unterschiedliche Ausprägungen des der ganzen Gemeinde anvertrauten Dienstes sein mögen, so fraglich ist, ob durch sie nicht doch faktisch »Herrschaft« begründet wird, wenn dieser Begriff denn meint: Gestaltungshoheit und Machtverhältnisse zu Gunsten der einen und zu Lasten der anderen. Wenn der Kirchenvorstand und die Pfarrer und Pfarrerinnen Dienstvorgesetzte der Sekretärin, des Küsters oder der Erzieherinnen in einer Kindertagesstätte sind, dann üben sie doch eine Form von Herrschaft aus. Ist also die vierte These der BTE bloß eine Utopie, eine gut gemeinte Fiktion? Oder wird Herrschaft nur in einem ganz bestimmten, nämlich totalitären Sinn abgelehnt? Oder aber muss man das Verb »begründen« in einem sehr starken Sinne deuten, etwa als Synonym von »zementieren«?
Eine Reihe von Fragen, keine klare Antwort. Als Zwischenergebnis können wir festhalten: Weder die Bekenntnisschriften der Reformationszeit noch die Barmer Theologische Erklärung beantworten die Frage nach dem Verhältnis der evangelischen Kirche zur Demokratie – sei es im staatlichen, sei es im kirchlichen Bereich.
3. Die Thematik des Verhältnisses von Kirche und Demokratie lässt sich von der christlichen Anthropologie her entfalten.
So geschah dies etwa in der klassischen »Demokratie-Denkschrift« des Rates der EKD aus dem Jahr 1985.12 Aber auch im Gemeinsamen Wort der Kirchen »Demokratie braucht Tugenden« (2006), in dem es heißt: »Die Kirchen werden auch in Zukunft für die freiheitliche Demokratie des Grundgesetzes eintreten, weil diese in besonderer Weise dem christlichen Menschenbild entspricht.«13
Genau genommen gibt es mindestens drei wichtige Affinitäten zwischen den christlichen Kirchen und der Staatsform Demokratie:
(1) Der für das Grundgesetz entscheidende Gedanke der unantastbaren Menschenwürde ist im besten Sinne kompatibel mit dem biblischen Menschenbild. Dass die Menschen zum Bilde Gottes geschaffen sind, begründet aus christlicher Sicht ihre Würde14 als mit Vernunft begabte Geschöpfe Gottes.
(2) Auch die Tatsache der prinzipiellen Fehleranfälligkeit und Irrtumsfähigkeit des Menschen ist gut biblisch begründet und gehört ebenfalls zu den Prämissen der Demokratie. Eben deshalb braucht es begrenzte Amtszeiten für Leitungspersonen und regelmäßig stattfindende Wahlen.
(3) Schließlich ist der prinzipielle, unhintergehbare Pluralismus ein Kennzeichen des demokratischen Gemeinwesens, weil Menschsein und Pluralismus aufeinander bezogen sind: Demokratie ermöglicht und braucht den Pluralismus. Auch der christliche Glaube bejaht den innergesellschaftlichen Pluralismus. Die Kirche versteht sich selbst als »pluralismusfähig«, auch wenn sie in ihrer Mitte nicht von Pluralismus, sondern von Pluralität redet.15
4. Die Kirche muss in der Gegenwart ohne Einschränkungen für die Staatsform Demokratie eintreten.
Ich setze als bekannt voraus, dass die christlichen Kirchen, insbesondere in ihrer evangelischen Gestalt, bis etwa zur Mitte des vergangenen Jahrhunderts leider alles andere als demokratiefreundlich eingestellt waren. Die evangelische Kirche gehörte zu den Totengräbern der Weimarer Republik, das muss man ganz ohne Beschönigung sagen. Und ihre Affinität zum Gedanken und zur Staatsform der Demokratie war noch in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts keineswegs unstrittig. Der Weg der evangelischen Kirche zur Demokratie war weit. Die Ursachen hierfür liegen tief in der Reformationsgeschichte.
Wolfgang Huber hat den langen Weg der evangelischen Kirche zur Demokratie im 20. Jh. vor einigen Jahren sorgsam und selbstkritisch nachgezeichnet.16 Er macht darauf aufmerksam, dass die EKD erst 40 Jahre nach Kriegsende, also 1985, ihre Demokratiedenkschrift veröffentlichte. In ihr bekannte sie sich dann freilich uneingeschränkt und mit hervorragenden Argumenten zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Seitdem hat sie niemals mehr Zweifel daran gelassen, wie sie in dieser Frage positioniert ist. Die evangelische Kirche steht positiv, ja, äußerst positiv zum demokratischen Gemeinwesen, in dem sie existiert. Das hat sie in Lehre und Leben immer wieder deutlich gemacht. Mehr als 20 Jahre nach der Demokratie-Denkschrift und 16 Jahre nach der Verwirklichung der staatlichen Einheit Deutschlands haben die beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland im Jahr 2006 ihr Gemeinsames Wort »Demokratie braucht Tugenden« veröffentlicht. In dieser Schrift heißt es:
»Die Kirchen in Deutschland haben einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, dass die Demokratie nach dem Ende des Nationalsozialismus als chancenreichste Staatsform begriffen und verwirklicht wurde und dass die Ordnung des Grundgesetzes von den Bürgerinnen und Bürgern auch als Werteordnung akzeptiert und bejaht wird. Im Bereich der ostdeutschen Länder sind die Früchte dieses Bemühens erst mit der friedlichen Revolution und der dadurch ermöglichten Wiedervereinigung voll zur Geltung gekommen. […] Die Kirchen werden auch in Zukunft für die freiheitliche Demokratie des Grundgesetzes eintreten, weil diese in besonderer Weise dem christlichen Menschenbild entspricht.«17
Vor diesem Hintergrund ist es in der gegenwärtigen Situation folgerichtig und unerlässlich, dass die Kirche sich gegen den modernen Rechtsextremismus wendet, der sich oft die biedere Erscheinungsform einer »Kümmerer«-Bewegung gibt, in NPD-Parolen wie »Gas geben!« (auf den Wahlplakaten im Berliner Wahlkampf 2011) oder in den Verbrechen der sog. »NSU« aber sein wahres, erschreckendes Gesicht gezeigt hat.
5. Die Kirche ist in ihrem Inneren nicht als Demokratie verfasst, sondern als »Laokratie«.
Der Satz, die Kirche sei nicht als Demokratie verfasst, könnte zu Missverständnissen Anlass bieten. Denn offensichtlich ist die Kirche als soziales System ja weder eine Diktatur noch ein anarchisches Gebilde. Sie ist weder Tyrannis (Herrschaft einer einzelnen, diktatorischen Person) noch Ochlokratie (Herrschaft der ungezügelten Masse, des Pöbels), um es mit der antiken soziologischen Klassifikation des Polybios (ca. 200-120 v.Chr.) zu sagen. Wenn die Demokratie die Mitte zwischen derartigen Extremen bildet, dann scheint die Folgerung nahe zu liegen, dass der Kirche ein demokratischer Charakter zukommen müsse. Diese Folgerung ist allerdings nicht zwingend.
Dafür gibt es zunächst einmal einen ganz einfachen und nahe liegenden semantischen Grund: »Demos« ist das griechische Wort für ein Staatsvolk. Die Christenheit, also das Volk Gottes (griechisch: »laos theou«), ist aber nicht mit einem Staatsvolk identisch. Denn zum einen sind in aller Regel nicht alle Bürger und Bürgerinnen eines Staates Christenmenschen (in der BRD sind dies derzeit immerhin aber noch fast zwei Drittel aller Bürger), zum anderen reicht das Volk Gottes über ein Staatsvolk stets hinaus. Deshalb schreibt Eilert Herms zu Recht: »Zur Demokratie als Ordnung politischer Herrschaft verhält sich die Kirche affirmativ und stützend. In der Kirche hat diejenige Ordnung zu herrschen, die dem christlichen Verständnis vom Wesen des Menschen und vom Auftrag der Kirche entspricht. Das ist nicht eine Ordnung politischer Herrschaft.«18
Und im aktuellen Evangelischen Erwachsenenkatechismus heißt es: »Kann das Konzept der Demokratie auch auf die Kirche übertragen werden? Auf diese Frage lässt sich so antworten: Die christliche Gemeinde verdankt sich ausschließlich Christus und seiner Botschaft. Deshalb bleibt ihr das biblische Wort vorgeordnet wie die Ursache der Wirkung [...] Obwohl der Kirche also – in der Bindung an das Wort Gottes – die völlige Übernahme des demokratischen Strukturprinzips verwehrt ist, finden sich doch im biblischen Menschenbild Akzente, die es geradezu fordern, der Demokratie analoge Strukturelemente in die Kirchenordnungen einzuführen.«19
Hier wird nun neben dem genannten semantischen Gesichtspunkt auch noch ein wichtiges theologisches Motiv erkennbar, warum die Kirche keine Demokratie ist: Die Kirche Jesu Christi kann und darf zum Beispiel nicht durch demokratische Abstimmung beschließen, sich von der Person Jesu Christi als ihrer unaufgebbaren Grundlage zu trennen. Und sie kann und darf den Auftrag, den sie als Kirche hat und den sie sich selbst nicht gesucht oder gegeben hat, nämlich das »Ausrichten der freien Gnade Gottes an alles Volk« (Barmen VI) nicht aufgeben oder eigenmächtig verändern. In genau diesem Sinne trifft Martin Niemöllers eingangs zitiertes Diktum zu, dass die Kirche einen »Herrn« habe und insofern nicht demokratisierbar sei.20
Wilfried Härle hat vor diesem Hintergrund vor einiger Zeit21 einmal vorgeschlagen, man könne und solle ggf. von »Laokratie« (bzw. »Laiokratie«22) reden, wenn man die auftragsgemäße innere Wohlordnung der Kirche meine – sofern es nicht sogar ausreichen sollte, vom »synodalen Strukturelement« zu sprechen. Härles Vorschlag will ich hier gerne aufnehmen, weil er mir sehr einleuchtet. Er folgt dem biblischen Sprachgebrauch, und er macht den Unterschied zur Demokratie deutlich. Die These wäre somit: Die innere Wohlordnung der christlichen Kirche lässt sich präzise mit dem Begriff der »Laokratie« bezeichnen, weil die Kirche das »Volk Gottes« (laos theou) ist. Zwischen Laokratie und Demokratie gibt es, wie sogleich zu zeigen sein wird, einige bedeutsame Analogien, aber auch wichtige Unterschiede.
6. Es gibt bedeutsame Analogien zwischen Demokratie und Laokratie hinsichtlich der sie tragenden Prinzipien.
Ich nenne hier fünf m.E. besonders relevante Prinzipien, in denen Demokratie und Laokratie einander besonders nahe sind:
(1) Beide sind gekennzeichnet durch eine breite Partizipation: Viele Menschen, ja möglichst alle, die dazugehören, dürfen und sollen an der Gestaltung des Gemeinwesens teilhaben. (Theologisch kann dies mit Blick auf die Laokratie mit dem Gedanken des Priestertums aller Gläubigen begründet werden.)
(2) Demokratie und Laokratie stellen sich grundsätzlich dem Wagnis der Mehrheitsentscheidung.23 Mehrheit muss aber nicht zwangsläufig Wahrheit bedeuten. Es kann eben auch sein, dass die Mehrheit sich hinsichtlich eines Sachverhalts irrt. (Das entspricht genau dem christlichen Menschenbild. Luther hat zu Recht eingeschärft, selbst Päpste und Konzilien könnten sich irren.)
(3) Weil Demokratie und Laokratie von der Irrtums- und Schuldfähigkeit aller Menschen überzeugt sind ist (und Allwissenheit, Irrtumslosigkeit sowie Sündlosigkeit nur als Gottesprädikate denkbar sind), begrenzen sie Macht in aller Regel regional (lokal), zeitlich (temporal) und nach spezifischen Zuständigkeiten bzw. Aufgaben (funktional).
(4) Demokratie und Laokratie brauchen hinsichtlich ihrer öffentlichen Vollzüge ein hohes Maß an Transparenz, an Durchsichtigkeit, sozusagen an »Glasnost«. Je mehr sich Geheimpolitik, Geheimdiplomatie und Geheimdienste in einem sozialen System ausbreiten, desto problematischer ist es für alle Beteiligten – und desto fragiler wird das soziale Gebilde, weil es auf keinem Vertrauensfundament beruht. Demokratie und Laokratie sind dagegen Häuser mit offenen Räumen, in denen Menschen wandeln können und die prinzipiell alle Menschen besichtigen dürfen.24
(5) Demokratie und Laokratie sind ferner durch eine innovative Prozesshaftigkeit und durch kreative Fehlerfreundlichkeit gekennzeichnet. Ihr Wesen ist der Wandel, sie sind offen für Erneuerung und Reform, sozusagen für »Perestroika«. (Theologisch folgt dies im Blick auf die Laokratie aus dem Gedanken der ecclesia semper reformanda.)
7. Es gibt beachtliche Analogien zwischen Demokratie und Laokratie hinsichtlich einiger grundlegender Strukturen.
Kirchliche Synoden ähneln Parlamenten. Das heißt, sie haben entscheidende Verfassungsgebungs- und Gesetzgebungsrechte, sie verabschieden den Haushalt und haben das Haushaltsrecht, sie haben das Recht und die Pflicht zur Wahl25 und zur Kontrolle der jeweiligen »Regierung«. Sie führen thematische Debatten und haben eine fundamentale Leitungsverantwortung für das soziale System, auf das sie jeweils bezogen sind.
Die Abgeordneten eines Parlaments und die Mitglieder einer Synode sind in erster Linie, ja, in gewisser Weise ausschließlich ihrem Gewissen verpflichtet.
Parteien gibt es zwar normalerweise nicht in den Synoden, dafür aber synodale Gesprächskreise wie die »Offene Kirche« oder die sog. »Lebendige (Volks-) Kirche«.
Es liegt sodann auf der Hand, dass die Kirchenleitungen der Landeskirchen und der Rat der EKD durchaus den Landesregierungen und der Bundesregierung ähneln. Die Leitenden Geistlichen der Landeskirchen entsprechen teilweise den Ministerpräsidenten der Länder, der Ratsvorsitzende der EKD in mancher Hinsicht dem Bundeskanzler.
Es gibt in der Kirche von der Synode und der Kirchenleitung/dem Rat unabhängige kirchliche Gerichte, somit auch in dieser Hinsicht eine Analogie zur staatlichen Gewaltenteilung, nämlich etwa den Verfassungsgerichtshof der EKD oder das kirchliche Verfassungs- und Verwaltungsgericht der EKHN, um nur zwei Beispiele zu nennen.
Föderale/föderalistische Strukturen gibt es bei den Landeskirchen ebenso wie bei den Bundesländern. Die Kirchenkonferenz gleicht daher partiell dem Bundesrat.
8. Zwischen Demokratie und Laokratie gibt es erhebliche Unterschiede im Blick auf tragende Prinzipien.
Hier beschränke ich mich auf drei grundsätzliche, also wesentliche Unterschiede zwischen Demokratie und Laokratie. Der erste Aspekt wurde dabei bereits angesprochen.
(1) Der Auftrag der Kirche ist ihr von ihrem historischen Ursprung bei der Person Jesu Christi her vorgegeben und steht außer jeder Diskussion. Er besteht darin, das Evangelium von Jesus Christus zu verkündigen und Menschen zum Glauben an dieses einzuladen, also die »freie Gnade Gottes auszurichten an alles Volk«, um es noch einmal mit Barmen VI zu sagen. Das ist eine Grundlage, die zweifellos nicht der Staatsform Demokratie zu Eigen ist.26
(2) Kirchenleitung geschieht – anders als die Leitung eines Staates oder eines Bundeslands – stets in einer unaufgebbaren Einheit von geistlicher und rechtlicher Leitung. Zur geistlichen Leitung gehört, dass Synoden und andere kirchenleitende Organe wesensmäßig gottesdienstliche Veranstaltungen sind. Sie leben aus dem und im Feiern und im Beten. Andachten, Gottesdienste und das gemeinsame Gebet (Morgen- und Abend-, Friedensgebet) während kirchlicher Synoden sind daher keineswegs als kontingent, akzidentiell oder verzichtbar zu sehen sondern sie verweisen auf das gottesdienstliche Wesen von Synoden und von Kirchenleitung insgesamt.
(3) Während Demokratien wehrhaft sein können oder dies möglicherweise sogar notwendig sein müssen, dürfen Laokratien nicht zum Mittel der Gewalt greifen, um ihre Aufgaben zu erfüllen oder ihre Ziele durchzusetzen. Kirchenleitung muss stets »sine vi humana sed verbo« geschehen. Im Augsburger Bekenntnis wird dies zwar nur vom kirchenleitenden Handeln der Bischöfe gesagt27, aber es ist unzweifelhaft ein Konsens in der evangelischen Kirche, dass dies von kirchlichem Handeln und Kirchenleitung in jeder denkbaren Form ausgesagt werden müsse.
9. Es gibt wichtige Unterschiede zwischen Demokratie und Laokratie hinsichtlich einiger grundlegender Strukturen.
Hinsichtlich der grundlegenden Strukturen beider sozialen Systeme weise ich (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) auf folgende Differenzen hin:
Zum einen gibt es Unterschiede bezüglich der Konstitution von Synoden und anderen kirchenleitenden Organen: Sie werden nicht ausschließlich durch Wahl bestimmt, sondern zumeist durch eine geregelte Kombination von Wahlverfahren (von unten her) und Berufungsverfahren (von oben her). Der Prozentsatz der berufenen Personen kann dabei von Kirche zu Kirche variieren.
Vergleicht man die EKD-Synode oder die landeskirchlichen Synoden mit dem Bundestag oder den Landtagen, so stellt man fest, dass alle kirchlichen Synoden ehrenamtlich tätig sind; die Synodalen sind Ehrenamtliche. Ähnliches gilt (zumindest in Teilen) für den Rat der EKD und die Kirchenleitungen der Landeskirchen: Hier sind stets (oder jedenfalls meistens) Haupt- und Ehrenamtliche in einem geregelten Miteinander vertreten. Die Mandatsträger in Bundestag und Landtagen sind dagegen grundsätzlich Hauptamtliche.
Sodann: Der oder die Ratsvorsitzende der EKD war bisher immer (jedenfalls bei seinem Amtsantritt) ein leitender Geistlicher oder eine leitende Geistliche einer Landeskirche. Das entspräche politisch einem Bundeskanzler, der zugleich Ministerpräsident eines Landes wäre. Auf politischer Ebene ist dies undenkbar. (Allerdings muss nach der Grundordnung der EKD der oder die Ratsvorsitzende nicht notwendig ein leitender Geistlicher sein. Ja, er oder sie muss nicht einmal ein Geistlicher sein.)
Ferner: Der Ratsvorsitzende verfügt über keine Richtlinienkompetenz wie die Kanzlerin. Die Macht des oder der Ratsvorsitzenden beruht somit ganz wesentlich auf dem Wort, das er in der Öffentlichkeit ergreifen kann; seine Autorität ist weniger eine des Amtes als der Argumente. Ich füge hinzu: Genau dies ist gut evangelisch.
Schließlich: Was die synodalen Gesprächskreise angeht, so gibt es, soweit mir das bekannt ist, keine Grundsatz- oder Wahlprogramme dieser Gesprächskreise. Es handelt sich vielmehr um eher lockere Interessengruppen. Es gibt daher, soweit ich sehe, auch keinerlei Fraktionszwang bei Abstimmungen. Ob man bei solchen Gesprächskreisen so wie das Grundgesetz im Blick auf die Parteien von einer Mitwirkung bei der (kirchen-)politischen Willensbildung reden kann, scheint mir eine offene Frage zu sein. Ich hielte dies aber nicht für ausgeschlossen.
10. Die evangelische Kirche sollte in der Gegenwart »mehr Laokratie wagen«.
Zur Idee der Demokratie gehört, wie gesagt, ihre wesensmäßige Zukunftsoffenheit und Entwicklungsfähigkeit. Wie die ecclesia ist auch die Staatsform Demokratie »semper reformanda«. Darin besteht eine Analogie dieser sozialen Systeme. Willy Brandt hat 1969 die These von der Zukunftsoffenheit der Demokratie in eine ebenso visionäre wie komparativ-expansive Formel übersetzt. Er sprach davon, »mehr Demokratie wagen« zu wollen. Kann und muss man innerhalb der evangelischen (mit kleinem »e« geschrieben) Kirche in Deutschland vielleicht heute in analoger Weise »mehr Laokratie wagen«? Ich denke schon und möchte daher einige Fragen stellen, über die nachzudenken sich lohnen könnte:
• Zunächst finde ich an dem in den evangelischen Kirchen üblichen Wahlrecht einiges befremdlich, suboptimal oder gar problematisch. Ich frage mich etwa, wie mehr Partizipation bei kirchlichen Wahlen gelingen kann. Wie erreicht man eine höhere Wahlbeteiligung bei Kirchenwahlen?28 Gelingt das (allein) mit professionellerer Wahlwerbung, also mit mehr Plakaten, Hochglanzbroschüren, Youtube-Clips oder Facebook-Werbung?
• Oder wäre es denkbar, künftig nicht nur Kirchenvorstände direkt vom Kirchenvolk wählen zu lassen, sondern auch Synoden (Dekanats- und Landessynoden oder sogar die EKD-Synode) oder gar den Rat der EKD? Bisher ist all dies nicht möglich. Es würde mit den überkommenen Grundsätzen des Landeskirchentums kollidieren. Aber wäre es wirklich bedenklich oder gar unevangelisch, wenn die EKD-Synode nach Art des Deutschen Bundestages direkt vom Kirchenvolk gewählt würde?
• Wäre es nicht eine sinnvolle Komplexitätsreduktion, wenn die kirchlichen Interessengruppen und Gesprächskreise sich deutlicher nach dem Vorbild von Parteien organisieren würden? Natürlich wäre deren vorrangiges Konstitutionsmuster nicht die politische Ausrichtung einer Gruppierung, sondern deren theologische Orientierung.29 Eine solche »Parteienbildung« würde den Wahlberechtigten aber eine Entscheidung womöglich leichter machen als bei reinen Personenwahlen, wie dies bisher ja üblich ist. Denn man kann nicht jede zur Wahl stehende Person kennen, man kann sie als Mitglied einer ganz bestimmten Partei/Fraktion/Gruppierung aber einschätzen.
• Muss es in der evangelischen Kirche heute wirklich noch Ämter auf Lebenszeit geben, etwa im Fall von Bischöfen, Präsidentinnen oder Oberkirchenräten? Wäre es nicht angemessen, wenn jedes wichtige kirchliche Amt bloß zeitlich begrenzt besetzt würde?30
• Ist eine Beteiligung aller Kirchenmitglieder an Gesetzgebungsverfahren jenseits des synodalen Weges denkbar, also mehr »direkte Laokratie«31 durch Plebiszite des Kirchenvolks? Würde damit die Partizipationschance von sog. »Kirchenfernen« steigen – oder würden die Gefahren überwiegen, die etwa durch Uninformiertheit des Kirchenvolkes auftreten können?
• Wie wäre es, in bestimmten kirchlichen Handlungsfeldern ein Stück »liquid democracy« (bzw. »liquid laocracy«) nach Art der Piratenpartei über das Internet zu ermöglichen? Also z.B. über das Internet (mehr oder weniger verbindliche) Meinungsbilder zu bestimmten Themen zu erheben? Auch hier gibt es natürlich Gefahren, die man von Anfang an im Blick haben muss, etwa das Risiko der Manipulation solcher Prozesse. Aber ist es dennoch denkbar, ein Fenster in diese Richtung zu öffnen?
• Könnten und sollten im Blick auf kirchenleitende Ämter ggf. Quotierungen nach Gender-Gesichtspunkten eingeführt werden? Mir scheint, derzeit werden sie ohnehin auf manchen Ebenen implizit praktiziert. Somit würde das Implizite lediglich explizit, das Verborgene sichtbar gemacht.
• Wäre es nicht denkbar und wünschenswert, zur Vorbereitung von Kirchenleitungsbeschlüssen und bei Gesetzgebungsverfahren grundsätzlich immer auch echte Alternativen anzubieten und einzubauen? Natürlich sollten die Vorschlagenden dabei ihre eigene Präferenz deutlich machen, aber sie müssten jeweils echte Alternativen aufzeigen und keine bloßen »Pappkameraden« aufbauen.
• Wie steht es mit Partizipationsmöglichkeiten von (Noch-)Nicht-Mitgliedern oder Nicht-mehr-Mitgliedern? Ist, anders gefragt, eine gestufte Form von Kirchenmitgliedschaft denkbar? In der Alten Kirche gab es ein dynamisches System der Buße, in welchem sich die Abgefallenen (»lapsi«) ihrer Kirche sukzessive annähern konnten. Ohne dies mit dem Bußgedanken zu verbinden, wäre eine gestufte Mitgliedschaft möglich?
• Schließlich noch ein ganz anderer Punkt, der von dem Gedanken ausgeht, dass exzellente Qualität Gott ehrt: Wie kann man Kompetenz sichern bzw. bestimmte Leitungsämter an herausragend qualifizierte Personen vergeben? Wahlverfahren sichern leider nicht immer die Kompetenz, weder in Demokratien noch in Laokratien.32 Ich denke hier im Sinne Platons und zugleich über Platon hinaus an »gläubige Philosophen«, wobei Platon sich Philosophen vorstellt als Personen, die »von Natur gedächtnisstark, belehrbar, hochsinnig, gesittet« und mit »der Wahrheit, der Gerechtigkeit, der Tapferkeit, der Besonnenheit verwandt und innerlich verknüpft«33 sind. Allerdings müsste für kirchliche Aufgaben die Komponente des Glaubens zu den genannten Eigenschaften hinzukommen. Wobei von außen nicht objektiv festgestellt werden kann, ob eine Person glaubt oder nicht.34 Wer sich kompetentes Führungspersonal für die Kirche wünscht, findet es keineswegs beruhigend, dass die Inkompetenz bestimmter Leitungspersonen durch einen guten administrativen Stab, also die Zuarbeitenden, teilweise kompensiert werden kann. Und es kann auch nicht tröstlich sein, dass inkompetentes oder wenig kompetentes Leitungspersonal bei der Ausbildung der Tugend der Demut dienlich sein könnte.35 Wünschenswert sollte somit im lockeren Anschluss an Platon die geregelte Partizipation gläubiger Philosophen an der Leitung der Kirche sein – und zwar nicht ausschließlich als entscheidungsferne Ratgeber.36 Wie dies rechtlich näher zu ordnen und zu regeln sein könnte, dazu muss es hier keine Ausführungen geben.37
Sicher ist: Die hier skizzenhaft vorgetragenen Anregungen zu mehr Beteiligung in der Kirche und zur Stärkung kirchlicher Kompetenz werden nicht alle und schon gar nicht alle miteinander umgesetzt werden können. Darauf kommt es auch gar nicht an – aber sehr wohl darauf, dass darüber nachgedacht wird, wie mehr Laokratie in der Kirche gewagt werden kann.
Fazit
Die evangelische Kirche steht uneingeschränkt positiv zur Staatsform Demokratie und unterstützt diese, so gut sie es vermag. Sie ist aber in ihrem Inneren selbst keine Demokratie, sondern eine Laokratie. Mit der Demokratie teilt sie bestimmte tragende Prinzipien und nicht wenige Strukturelemente. Aber es gibt auch erhebliche Unterschiede zwischen beiden sozialen Systemen. Das Wichtigste: Der Auftrag der Kirche zur Evangeliumsverkündigung ist ihr vorgegeben und kann nicht durch Mehrheitsentscheidungen verändert werden. In der Kirche ist ferner die rechtliche stets mit geistlicher Leitung verknüpft. Kirchenleitung ist immer auch ein geistliches Geschehen. Das Feiern von Gottesdiensten und das Gebet sind daher fundamental wichtig für das Geschehen der Kirchenleitung. Ferner: Kirchenleitung geschieht »sine vi (humana) sed verbo«. Die evangelische Kirche sollte in der Gegenwart den Mut aufbringen, mehr Laokratie zu wagen, um mehr Teilhabe ihrer Mitglieder zu ermöglichen. Sie sollte außerdem gläubige Philosophen am Leitungshandeln mitwirken lassen, denn Kirche kann auf Kompetenz nicht verzichten.
Aber auch die besten aller denkbaren öffentlichen (Wohl-) Ordnungen, sei es im Blick auf den Staat die Demokratie und im Blick auf die Kirche die Laokratie, haben keine Heilsqualität und sind keine Paradiese auf Erden. Sie haben vielmehr jeweils ganz bestimmte Aufgaben zu erfüllen. Daran sind sie zu messen: Dient die Demokratie der Menschenwürde und den Menschenrechten als ihren obersten Prinzipien? Dann erfüllt sie ihren Auftrag. Dient die Kirche der Ehre Gottes und dem Wohl der Menschen? Und trägt sie dazu bei, die freie Gnade Gottes auszurichten an alles Volk (BTE VI)? Dann erfüllt sie ihren Auftrag – auch wenn sie in ihrem Inneren keine Demokratie ist.
Anmerkungen:
1 Vortrag beim Konfessionskundlichen Institut in Bensheim an der Bergstraße am 1. März 2013, anlässlich der 57. Europäischen Tagung für Konfessionskunde. Der Vortragsstil wurde beibehalten.
2 Hann. Allg. Zeitung, 12. Februar 2013, S. 3.
3 K. Dienst: Kirchenreform und Funktionale Kirchentheorie in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN), in: Hess. Pfarrblatt 2 (2012), 33-40, dort 34. Vgl. etwas ausführlicher bei K. Herbert: Durch Höhen und Tiefen: Eine Geschichte der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Frankfurt/M. 1997, 272f.
4 Zit. n. M. Schreiber: Martin Niemöller, Reinbek bei Hamburg 1997, 120f.
5 Zahlen und Fakten zum kirchlichen Leben, hg. Vom Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland, Hannover 2012, 9.
6 FAZ, 8. Januar 2013, S. 4.
7 So heißt es etwa in CA XVI: »VON DER POLIZEI UND WELTLICHEM REGIMENT: Von Polizei und weltlichem Regiment wird gelehret, daß alle Obrigkeit in der Welt und geordente Regiment und Gesetze gute Ordnung, von Gott geschaffen und eingesetzt seind, und daß Christen mögen in Oberkeit, Fürsten- und Richteramt ohne Sunde sein …« (BSLK, 70).
8 BSLK, 61.
9 Vgl. hierzu E. M. Pausch: Barmen – Präludium einer Theologie der Freiheit: Zur bleibenden Aktualität der Barmer Theologischen Erklärung, in: Hess. Pfarrblatt 4 (2009), 128-135.
10 M. Heimbucher/R. Weth (Hg.): Die Barmer Theologische Erklärung: Einführung und Dokumentation, Mit einem Geleitwort von Wolfgang Huber, 7. überarb. u. erw. Aufl. Neukirchen 2009 (1. Aufl. 1983), 40.
11 Damit wurde die Frage offen gelassen, ob das Führerprinzip innerhalb des Staates Geltung haben dürfe oder solle. An diesem Punkt war sich die Bekennende Kirche tatsächlich nicht einig. Nicht wenige evangelische Christen bejahten – zumindest zeitweise – den Nationalsozialismus als politische Herrschaftsform und waren dennoch Mitglieder der Bekennenden Kirche.
12 Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe (1985), in: Die Denkschriften der EKD, Bd. 2/4, Gütersloh 1992.
13 Demokratie braucht Tugenden: Gemeinsames Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur Zukunft unseres demokratischen Gemeinwesens, Hannover/Bonn 2006, 12.
14 »Würde« ist dabei im Anschluss an Wilfried Härle und Wolfgang Huber als »Anrecht auf Achtung« zu definieren.
15 Vgl. Das rechte Wort zur rechten Zeit: Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zum Öffentlichkeitsauftrag der Kirche, Gütersloh 2008, 43-46.
16 W. Huber: Demokratie wagen – Der Protestantismus im politischen Wandel 1965-1985, in: S. Hermle/C. Lepp/H. Oelke (Hg.): Umbrüche. Der deutsche Protestantismus und die sozialen Bewegungen in den 1960er und 70er Jahren, Göttingen 2007, 383-399.
17 Demokratie braucht Tugenden, 12.
18 E. Herms: Art. Demokratie, in: RGG 4. Auflage, Band 2, Tübingen 1999, Sp. 652.
19 Evangelischer Erwachsenenkatechismus, Gütersloh, 8. Aufl. 2010, 436.
20 Allerdings sind auch die Artikel 1 und 20 des Grundgesetzes nicht veränderbar. Insofern gibt es auch in einer demokratischen Staatsverfassung offenbar invariable Elemente bzw. unaufgebbare und nicht selber dem demokratischen Prozess unterliegende verfassungsrechtliche Voraussetzungen der Demokratie. Diese hintergehen freilich nicht die grundsätzlich demokratische Struktur des Staatswesens, sondern begründen diese allererst.
21 W. Härle: Grundzüge einer Theologie der Synode, in: Aufgaben und Arbeit der Landessynode: Protokoll Nr. 227/1986 der Evangelischen Akademie Hofgeismar, 1-20. Abgedruckt in: Anstöße 2/1986, 70-77.
22 Allerdings ist der Begriff der »Laiokratie« wohl nicht sehr glücklich. Er könnte als Gegenbegriff zu »Expertokratie« verstanden werden, was nicht der Sinn der Sache wäre. Auch ist ja »Laie« ein Gegenbegriff zu »Kleriker« – so dass eine Laiokratie als eine Herrschaftsform verstanden werden könnte, in welcher »Laien« im Gegensatz zu Klerikern die entscheidende Rolle spielen. Auch das ist nicht gemeint. Im Volk Gottes (laos theou) sind vielmehr Geistliche und »Laien« zu einem sozialen System vereint.
23 Dies hat im Blick auf den Protestantismus seine Wurzeln bei Luthers Plädoyer für das Pfarrwahlrecht, das er aus dem allgemeinen Priestertum aller Gläubigen ableitete. Vgl. hierzu neuerdings H. Schilling: Martin Luther: Rebell in einer Zeit des Umbruchs. Eine Biographie, München 2012, 420-426.
24 Damit wird eine Abgrenzung gegen »Winkelmessen« und gegen Arkandisziplin im christlichen Glauben vollzogen. Davon unberührt gibt es natürlich die Praxis der vertraulichen Seelsorge, ja, sogar die seelsorgliche Schweigepflicht. Das widerspricht nicht dem grundsätzlichen Öffentlichkeitsauftrag, dem die Kirche unterliegt. Vgl. hierzu wiederum »Das rechte Wort zur rechten Zeit«, s.o. Anm. 15.
25 Wahlen sind die Art und Weise, wie üblicherweise in demokratischen oder laokratischen sozialen Systemen Leitungspositionen errungen und auf Zeit vergeben werden. Die Besetzung von Leitungspositionen durch Gewalt, Betrug, Vererbung, Losverfahren (Urim und Thummin), selbst durch Berufung von herausragend kompetenten Personen gilt normalerweise nicht als demokratisch. Auch die Wahl einer Leitungsperson in ein Amt auf Lebenszeit ist in Demokratien normalerweise nicht üblich. In Laokratien ist sie dagegen möglich – man denke an die Bischofswahl durch die Synoden einiger Landeskirchen (wie etwa Kurhessen-Waldeck).
26 Vielleicht kann man sagen, dass die unaufgebbare Grundlage der Demokratie im Sinne unseres Grundgesetzes der Gedanke der Menschenwürde und damit verbunden die Menschenrechte sind.
27 CA XXVIII, BSLK, 124.
28 Als ich 1997 als Gemeindepfarrer in Frankfurt am Main nach einer Kirchenvorstandswahl feststellte, dass in meiner Gemeinde etwa 19% der Wahlberechtigten zur Wahl gegangen waren, galt das innerhalb der Stadt als ein Spitzenwert. Ich empfand dies jedoch als höchst unbefriedigend.
29 In der Württ. Landeskirche gibt es eine ähnliche Praxis. Vielleicht sollte man diese einmal gründlich analysieren. Allerdings stellt die Württ. Kirche in mancher Hinsicht ein Unikat dar, denkt man an den hohen Einfluss des Pietismus und das besondere lutherische Profil dieser Kirche außerhalb der VELKD.
30 In diesem Sinne ist die zu Beginn des Jahres 2013 getroffene Entscheidung der Evang. Landeskirche in Baden, von der bisherigen Praxis der Besetzung des Bischofsamtes auf Lebenszeit abzuweichen, zu begrüßen.
31 Auf der Ebene der Kirchengemeinden gibt es die Institution der Gemeindeversammlung – eine sehr schwache, aber dennoch wichtige Form direkter Laokratie.
32 Ich denke hierbei – für den Bereich der Demokratie – exemplarisch an einen einstmals für die Wirtschaft zuständigen Bundesminister, der trotz mehrmaliger Nachfrage einem Journalisten nicht sagen konnte, wie viele Nullen eine Milliarde hat. Ähnliche Fälle gab und gibt es in der Geschichte leider immer wieder – nicht nur in der Politik, sondern auch in der Kirche.
33 Platon: Der Staat, Stuttgart 1973, 194.
34 Ob Menschen glauben oder nicht, kann man auf ihre Behauptung hin stets nur vermuten, da wir nicht in die Herzen anderer hineinblicken können. Allerdings sollte die christliche Nächstenliebe gebieten, dies von jedem Christenmenschen anzunehmen, der getauftes Kirchenmitglied ist und dies von sich selbst behauptet. So hat dies auch Martin Luther gesehen: »Kirche Gottes nenne ich sie und lasse sie als solche gelten, nach dem Maßstab der Liebe, nicht nach dem Maßstab des Glaubens. D.h. Liebe, die nur das Beste von jedem denkt und nicht argwöhnisch ist, alles Gute von dem Nächsten glaubet und im voraus annimmt, jeden Getauften einen Heiligen nennt; und es ist nicht ein Wagnis, wenn sie irren sollte, weil es zur Liebe gehört, betrogen zu werden …«. (M. Luther: Vom unfreien Willen, in: ders.: Ausgewählte Werke, 3. Aufl., Ergänzungsreihe 1. Band, München 1986, 63).
35 Dazu gibt es in »Narziß und Goldmund« von Hermann Hesse bekanntlich den wunderbaren Satz des alten Abtes, der Dienstvorgesetzter des klugen Narziß und seines Streitpartners war: »euch beiden jungen Gelehrten wünsche ich, es möge euch nie an Vorgesetzten mangeln, welche dümmer sind als ihr; nichts ist besser gegen den Hochmut.« (H. Hesse: Narziß und Goldmund, in: ders: Die Romane und die großen Erzählungen, 6. Band, Frankfurt/M. 1985, 14).
36 Um es an einem Beispiel deutlich zu machen: Niklas Luhmann (1927-1998) war, Jürgen Habermas (geb. 1927) ist Mitglied der evangelischen Kirche. Beide gelten als Denker von Weltruf. Keiner von beiden hat je ein kirchenleitendes Amt inne gehabt. Nicht einmal Mitglieder der Kammer für soziale Ordnung der EKD waren sie. Warum wurden sie niemals berufen? Offenbar meint die Kirche, sie könne es sich leisten, auf derartige herausragende analytische Qualität zu verzichten. Mir scheint das fatal.
37 Denkbar wäre, hierzu die Möglichkeiten des bereits angesprochenen Berufungsverfahrens auszuschöpfen.
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 9/2013