Auf äußere, fiskalische Entwicklungen reagierte die Nordelbische Kirche ihrerzeit mit einem Prozess der »intelligenten Schrumpfung«. Doch formulierte Intentionen und tatsächliche Wirkungen klafften auseinander. Evangeliumsgemäßheit war beabsichtigt, Pfarrstellen wurden gestrichen und die Bürokratisierung vorangetrieben. Es folgte eine ausgiebige Selbstbeschäftigung in einem zwei Jahrzehnte währenden, kräftezehrenden Reformprozess mit überraschenden Korrekturen und Wendungen wie jüngst die der Landeskirchenfusion. Die Aussichten des Prozesses bleiben offen. Christoph Meyns rekonstruiert die Entwicklung.
Die folgenden Ausführungen geben einen Überblick über die organisatorischen Veränderungsprozesse, die Kirchengemeinden, Kirchenkreise und Landeskirche im Bereich der Nordelbischen Evang.-Luth. Kirche (NEK) seit Beginn der 1990er Jahre bis zu ihrem Aufgehen in der Evang.-Luth. Kirche in Norddeutschland (Nordkirche) im Mai 2012 zu bewältigen hatten.1 Den Auslöser für umfangreiche Rückbau-, Reorganisations- und Neuorientierungsmaßnahmen bildete wie überall das zurückgehende Kirchensteueraufkommen. Dabei war die NEK verglichen mit anderen Landeskirchen überdurchschnittlich stark von Einnahmeausfällen betroffen. Kletterte das Kirchensteuernettoaufkommen von 1990 bis 1992 zunächst von 308.870.000 € auf 380.180.000 €, schrumpfte es bis 2004 auf 273.400.000 €. Das bedeutet inflationsbereinigt einen Rückgang gegenüber 1990 um 32,7%, gegenüber 1992 um 41%. Bis 2008 stieg das Aufkommen auf fast 380.000.000, um bis 2010 wieder auf 346.800.000 € zu sinken. Damit lagen die Kirchensteuereinnahmen der NEK real noch etwa 21,7% unter denen von 1990 und 31,4% unter denen von 1992.2
I. Rückbau
Das Kirchensteueraufkommen, die davon finanzierten Personalstellen, Gebäude und Sachmittel, die dafür notwendige Aufbau- und Ablauforganisation, die damit verbundenen inhaltlichen Anliegen, Aufgaben und Ziele und das ihnen zugrunde liegende theologische Verständnis von Wesen und Auftrag der Kirche bilden einen aufeinander aufbauenden Gesamtzusammenhang. Als in der NEK das finanzielle Fundament nach 1993 zunehmend brüchig wurde, gerieten alle diese Dimensionen des kirchlichen Lebens nacheinander ins Wanken.
In einer ersten Phase bis Ende der 1990er Jahre behalf man sich mit unkoordinierten Einzelmaßnahmen wie geringeren Haushaltsansätzen für Sachmittel, Streichung von Zulagen, Vakanzen, Stellenstreichungen und Verkauf von Gebäuden.3 Auf diese Weise gingen in den Kirchengemeinden zwischen 1993 und 2007 10% der Pfarrstellen und 32% der hauptamtlichen Kirchenmusikerstellen verloren. Die Personalstellen anderer, im Wesentlichen durch Kirchensteuern finanzierter kirchlicher Berufsgruppen, wie Mitarbeitender im Bereich der Kinder- und Jugendarbeit, Küsterinnen und Küster, Sekretärinnen, Reinigungskräfte, Hausmeister oder Landschaftsgärtner, werden statistisch nicht erfasst, dürften aber zu mehr als 50% weggefallen sein.
Auch die Kirchenkreise und die landeskirchliche Ebene blieben von Rückbaumaßnahmen nicht verschont. Die pröpstlichen Stellen wurden von 30 auf 28, die Zahl der Sprengel und der Regionalbischöfe von 3 auf 2 reduziert. Die überwiegend kirchensteuerfinanzierten Dienste und Werke der Landeskirche und der Kirchenkreise mussten Ausgabenkürzungen von bis zu einem Drittel verkraften. Der nach den Kürzungswellen übrig gebliebene Bestand wurde auf wenige Standorte konzentriert, viele Gebäude einschließlich des alterwürdigen Predigerseminars in Preetz und der Standorte der Evang. Akademie in Bad Segeberg und Hamburg (!) verkauft. Die Landeskirche verlegte das Vikariat in die Räume des Pastoralkollegs in Ratzeburg, reduzierte die Plätze für Vikarinnen und Vikare von jährlich rund 90 auf unter 20 und beschränkte die Ausbildung für Diakoninnen und Diakone auf die Evang. Hochschule am Rauhen Haus. Die Akademiearbeit wird seit 2008 mit drei Referenten ohne eigene Gebäude durchgeführt.
Nur ein entsprechender Abbau von Aufgaben und Personalstellen im Bereich der kirchlichen Verwaltungsarbeit steht noch aus. Die Fusion der Kirchenkreisverwaltungsämter verursachte kurzfristig erhebliche Kosten, ohne dass in den meisten Kirchenkreisen damit schon in nennenswertem Umfang kostensparende Synergieeffekte realisiert werden konnten. Hier wird man die weitere Entwicklung abwarten müssen. Zugleich führte der Versuch einer Standardisierung von Verwaltungsaufgaben durch ein Kirchenkreisverwaltungsgesetz entgegen der Intention zu einer Erhöhung des Personalstellenumfangs.
II. Reorganisation
Mit dem weiteren Absinken des Kirchensteueraufkommens infolge der Absenkung der Spitzensteuersätze in der Einkommensteuer nach 1999 nahm der Personalabbau dann ein Ausmaß an, das eine umfassende Reorganisation der Strukturen von Landeskirchen, Kirchenkreisen und Kirchengemeinden notwendig machte. Am wenigsten veränderte sich strukturell auf der Ebene der Kirchengemeinden. Die meisten von ihnen bestehen bis heute in alter Form weiter. Häufig gingen allerdings von Personalstellenkürzungen betroffene Arbeitsfelder mit den übrig gebliebenen Stellenanteilen von Pfarrerinnen/Pfarrern und den Mitarbeitenden anderer Berufsgruppen in die regionale Verantwortung mehrerer Kirchengemeinden über. Darüber hinaus zwangen die sinkenden Finanzen sehr kleine ländliche und großstädtische Gemeinden zur Aufgabe ihrer Selbstständigkeit. Dadurch sank die Gesamtzahl zwischen 1990 und 2009 von 676 auf 594.
Unabhängig von der Entwicklung in den Ortsgemeinden griff der Nordelbische Reformprozess von 2003 bis 2009 umfassend in die Organisations- und Leitungsstrukturen der landeskirchlichen Ebene und die der Kirchenkreise ein. Die theologische Grundlage dafür bildeten die 2003/2004 erarbeiteten »Leitsätze zum Kirchenbild«.4 Sie beschreiben die Evangeliumsgemäßheit, die gesellschaftliche Relevanz und die Ökumenizität des Handelns als Grundkriterien für die Gestaltung kirchlicher Organisationsstrukturen. Wirksam für den weiteren Verlauf war vor allem der Gedanke der »inneren Ökumenizität«. Dazu heißt es: »Strukturen, die im Verhältnis der Gliederungen und Ebenen der Kirche zueinander wie im Verhältnis zur heutigen Welt eher die Selbstabschließung begünstigen oder den Fluss der Kommunikation und der Mittel blockieren, müssen […] verlassen werden.«5
Das Ziel der Reform bestand darin, auch mit weniger finanziellen Ressourcen die mit der Arbeit der landeskirchlichen Dienste und Werke und der der Kirchenkreise verbundenen inhaltlichen Anliegen so weit wie möglich zu erhalten. Um die dafür notwendigen Synergie- und Effizienzgewinne zu erzielen, schuf man größere Organisationseinheiten, veränderte Leitungsstrukturen und stärkte die horizontale und vertikale Verknüpfung von Arbeitsfeldern.
Anders als etwa das Impulspapier der EKD »Kirche der Freiheit« von 2006 oder die Reformprogramme anderer Landeskirchen reagierte die NEK also auf die sinkenden Kirchensteuereinnahmen pragmatisch und in konservativer Absicht. Es ging darum, intelligent zu schrumpfen. Zugleich sollten die Dienste und Werke als gleichberechtigte »zweite Säule« der kirchlichen Arbeit gegen eine einseitige Priorisierung zugunsten der Ortsgemeinden gesichert werden. Kirchenaustritte, die abnehmende Inanspruchnahme von Kasualien, die demographische Entwicklung oder die geringe Beteiligung am gottesdienstlichen Leben spielten in der Reformdiskussion keine Rolle. Auch gab es keinen alle Ebenen umfassenden Prozess der Neuorientierung des kirchlichen Handelns. Das entspricht dem traditionell auf Pluralität und föderaler Eigenständigkeit angelegten Selbstverständnis der NEK.
Zunächst war vorgesehen, die Dienste und Werke der Landeskirche und die der Kirchenkreise in fünf Regionalzentren mit jeweils besonderem thematischem Schwerpunkt zusammenzufassen. Diese Idee scheiterte jedoch an verfassungsrechtlichen Bedenken einer unzulässigen Vermischung von Zuständigkeiten. Deshalb wurde der nach den Kürzungsmaßnahmen übrig gebliebene Umfang an landeskirchlichen Einrichtungen in Orientierung an den »Leitsätzen zum Kirchenbild« vorsichtig priorisiert und in sieben »Hauptbereiche kirchlicher Arbeit« genannten Fachabteilungen gebündelt, um auf diese Weise die Kommunikation und Koordination zwischen verschiedenen Arbeitsfeldern zu verbessern. Eine regelmäßig tagende Konferenz koordiniert zusätzlich die Aktivitäten der Hauptbereiche untereinander. Gleichzeitig schlossen die meisten Kirchenkreise ihre Einrichtungen in Werkezentren zusammen. Die vertikale Verknüpfung sollte ursprünglich auf der Grundlage von Kontrakten erfolgen. Der dafür notwendige Verwaltungsaufwand erwies sich indes als zu groß, sodass die ebenenübergreifende Zusammenarbeit derzeit überwiegend informell erfolgt.
Zugleich mit der Schaffung neuer Organisationseinheiten kam es zur Straffung der Leitungsstrukturen. Nach über 30 Jahren mit einem Kollegium von drei gleichberechtigten bischöflichen Personen wurde 2009 das Amt einer Landesbischöfin/eines Landesbischofs geschaffen, allerdings erst im Zuge der Fusion zur Nordkirche in diesem Jahr besetzt. Das Ansinnen, in gleicher Weise eine dem pröpstlichen Amt untergeordnete zweite Leitungsebene zu schaffen, um die Einheit der Repräsentanz des Kirchenkreises durch eine geistliche Person zu sichern, scheiterte in der Synode. Im Ergebnis nehmen deshalb in den meisten Kirchenkreisen zwischen zwei und sieben pröpstliche Personen die geistliche Leitung gemeinsam als Kollegium wahr. Eine Projektgruppe präzisierte die Aufgaben des bischöflichen und des pröpstlichen Amtes und hielt die Ergebnisse in zwei Kirchengesetzen fest. Darüber hinaus wurden die Hauptbereiche kirchlicher Arbeit und die Regionalzentren mit einer eigenen Leitung ausgestattet.
Die elf neuen Kirchenkreise haben sich in den letzten vier Jahren seit ihrer Gründung inzwischen einigermaßen konsolidiert, kämpfen teilweise jedoch noch mit fusionsbedingten Problemen im Bereich der Verwaltung und der Dienste und Werke. Auch hat sich die Gestaltung des kollegialen Miteinanders der pröpstlichen Personen als lohnende, aber zugleich anspruchsvolle und zeitraubende Aufgabe herausgestellt.
Für die landeskirchliche Ebene verkomplizierte sich die Lage dadurch, dass mitten in die Umsetzung der Reformen 2008 der Beschluss zur Gründung der Nordkirche platzte, sodass sich die kirchenleitenden Gremien, das Nordelbische Kirchenamt und die Mitarbeitenden in den Hauptbereichen mit zwei einander überlappenden Veränderungsprozessen konfrontiert sahen. Derzeit müssen sich ein neues Bischofskollegium, eine neue Kirchenleitung, eine neue Synode, ein umstrukturiertes Kirchenamt und sieben um Einrichtungen aus Mecklenburg-Vorpommern erweiterte Hauptbereiche sowohl intern finden als auch ihre Rollen im Miteinander klären, ein mühsamer Prozess, der sicher den größten Teil der gegenwärtigen Legislaturperiode in Anspruch nehmen wird.
III. Neuorientierung
Als dritte Ebene der Veränderung nach Rückbau und Reorganisation steht als sich daraus ergebende Konsequenz eine inhaltliche Neuorientierung der Arbeit in Kirchengemeinden, Kirchenkreisen und Landeskirche an: Mit welcher Priorität sollen welche Aufgaben und Ziele mit den verbliebenen Ressourcen in den neuen Strukturen realisiert werden? In Orientierung an welchem Verständnis von Wesen und Auftrag der Kirche?
Die in großen Werkezentren zusammengefassten, überwiegend drittmittelfinanzierten Einrichtungen der beiden Hamburger Kirchenkreise sind hier am weitesten, weil sie die Metropolsituation mit einer Vielzahl von Konkurrenten im Bereich von Bildung und Diakonie zwingt, sich gut zu positionieren und eng miteinander zu kooperieren. Auch in den landeskirchlichen Diensten und Werken hat der Prozess der inhaltlichen Klärung mit der Einführung eines zielorientierten Planungsverfahrens begonnen, wird aber Synode und Kirchenleitung sicher noch über Jahre hinaus beschäftigen. Die kirchensteuerfinanzierten Dienste und Werke der neun Kirchenkreise in Schleswig-Holstein sind dagegen teilweise noch mit der Gestaltung ihrer Strukturen beschäftigt, wenn sie von der Anzahl der Personalstellen her inzwischen nicht zu klein sind, um eigene Organisationseinheiten zu bilden. Hier beginnen Leitungskräfte erst in jüngster Zeit, nach für ihren Kontext geeigneten strukturierten Verfahren zur Klärung von Themen, Aufgaben und Zielen zu fragen.
Die Situation in den Kirchengemeinden auf dem Gebiet der ehemaligen NEK stellt sich sehr unterschiedlich dar. Einige Kirchengemeinderäte schrecken vor einer Veränderung von inhaltlichen Anliegen, Aufgaben und Zielen trotz geringerer Ressourcen zurück mit der Folge, dass Unzufriedenheit und Überlastung der vor Ort tätigen Pfarrerinnen/Pfarrer, haupt-, neben- und ehrenamtlichen Mitarbeitenden wachsen. Die meisten sprechen sich im Rahmen von Regionalisierungsbemühungen mit ihren Nachbargemeinden ab oder finden pragmatische Lösungen. Nur wenige priorisieren ihre Arbeitsfelder auf der Grundlage umfangreicher Leitbild- und Zielentwicklungsprozesse.
IV. Emotionale Dynamiken
Mit den sachlichen Herausforderungen verbinden sich solche emotionaler Natur.6 Rückbau- und Reorganisationsmaßnahmen entwerten den Status von Orten, Gebäuden, Arbeitsfeldern, Gruppen, Inhalten und beruflichen Karrieren. Verteilungskämpfe produzieren Gewinner und Verlierer; Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind gezwungen, sich in neue Strukturen mit veränderten Rollenanforderungen einzufinden. Das alles löst bei den verantwortlichen Leitungspersonen und den von Veränderungen betroffenen Menschen Gefühle der Unsicherheit, Angst, Ohnmacht, Trauer und Wut aus. Krankenstand und Personalfluktuation steigen an.7
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Nordelbischen Evang.-Luth. Kirche fassten ihre Erfahrungen mit 15 Jahren Strukturveränderungsprozessen auf einer Auswertungsveranstaltung unter dem Begriff des Bedeutungsverlustes zusammen.8 Damit war sowohl der Bedeutungsverlust der Institution Kirche für das persönliche Leben von Menschen und das gesellschaftliche Zusammenleben gemeint als auch der sich daraus ergebende binnenkirchliche Bedeutungsverlust von teilweise jahrhundertealten Gebäuden, Körperschaften, Arbeitsfeldern, Personalstellen und den damit verbundenen inhaltlichen Anliegen und Leitbildern kirchlicher Arbeit.
Die Gründung der Nordkirche hat dieses Gefühl noch verstärkt. Angesichts einer seit 1977 jährlich um 1,5 Prozentpunkte schrumpfenden Mitgliederschaft, eines Anteils von 53,7% (Schleswig-Holstein), 33,6% (Hamburg) bzw. 17,5% (Mecklenburg-Vorpommern) Kirchenmitgliedern an der Wohnbevölkerung9, einer insgesamt mehrheitlich konfessionslosen Bevölkerung und dem damit einhergehenden allmählichen Verblassen religiöser Überzeugungen und Praktiken verliert das Bild einer »Volkskirche« im Sinne einer flächendeckenden Versorgungskirche mit einem starken sozialethischen und ökumenischen Engagement immer mehr an Plausibilität.
Noch sind Gremien und Führungskräfte damit beschäftigt, neben der alltäglichen Arbeit die Folgen der angestoßenen strukturellen Veränderungsprozesse zu bewältigen. Umso drängender wird sich in einigen Jahren die Frage nach Identität, Ausrichtung und Position von Kirchengemeinden, Kirchenkreisen und Landeskirche stellen. Hier muss m.E. ein landeskirchenweiter Prozess der theologisch-inhaltlichen Klärung initiiert werden. Dabei bedarf u.a. das Verhältnis zwischen Ortsgemeinden und Diensten und Werken der Weiterentwicklung. Das traditionelle Bild der NEK von den zwei Säulen oder der Gedanke der inneren Ökumenizität sind zu formal und bieten keine inhaltliche Begründung für die jeweilige Arbeitsform. Zudem fehlt das Verständnis für die Bedeutung der Verwaltungen als faktisch »dritter Säule« und eine klare Vorstellung für den Zusammenhang der inhaltlichen und der organisatorischen Dimension des kirchlichen Lebens.
V. Ausblicke
Eine für den neuen Kontext der Nordkirche geeignete Alternative zu den überkommenen Kirchenbildern ist derzeit nicht in Sicht, sondern muss erst entwickelt werden. Das Impulspapier benennt zwar deutlich die Probleme. Es orientiert sich jedoch mit seinen am Mitgliederwachstum orientierten Zielen nach wie vor an den alten Idealen einer Mehrheitskirche, überschätzt die Einflussmöglichkeiten der kirchlichen Arbeit und führt mit einem realitätsfernen Aktivismus nur noch stärker in Überforderung und Resignation.
Mithilfe von marketing- und milieuorientierten Konzepten lassen sich zwar Beteiligungszahlen steigern. Auf diese Weise kann aber nur das Teilnahmeverhalten überdurchschnittlich stark der Kirche verbundener Menschen intensiviert werden. Kirchlich Distanzierte oder Kirchenferne lassen sich damit nicht erreichen.10 Das kann einzelnen Gemeinden und Einrichtungen nutzen, trägt aber nicht zur Lösung der gesamtkirchlichen Problemlage bei.
Auch die viel beschworene Wiederkehr der Religion beschränkt sich bei genauer Betrachtung auf die meditativen und esoterischen Praktiken einer kleinen Minderheit und die Feuilletonseiten der Zeitungen.11 Man täusche sich nicht: In den oft als Vorbild gepriesenen Mega-Churches der USA zeigt sich kein religiöses Wachstum, sondern nur eine Veränderung der Binnenorganisation.12 Während die Gemeinden im Durchschnitt immer größer werden, ist die Zahl der Konfessionslosen und religiös Desinteressierten im Land in den letzten 30 Jahren von 5% auf 20% gestiegen.13 Offensichtlich stärken die sozialen Rahmenbedingungen in den USA nicht länger religiöse Überzeugungen, Praktiken und Zugehörigkeiten, sodass Gemeinden gezwungen sind, eine Größe zu erreichen, in der sie ihren eigenen Sozialraum mit einheitlichen Plausibilitätsstrukturen und multifunktionalen Angeboten schaffen können. So gesehen sind Mega-Churches kein Erfolgsmodell, sondern ein Krisenphänomen.
Sinnvoller als der vorschnelle Sprung in den Aktivismus vermeintlich klarer Patentrezepte aus dem In- und Ausland erscheint mir für die Nordkirche neben der Bewältigung der Folgen der Fusion die bewusste Pflege von Zeiten der Stille und der Besinnung unter Aufnahme biblischer Bilder und theologischer Vorstellungen zu sein, die es erlauben, Gefühle der Trauer, Bedeutungslosigkeit und Fremdheit wahrzunehmen und zu verarbeiten, alte, aber nicht mehr tragfähige Konzepte, Selbstbilder und Ideale zu verabschieden und eine längere Zeit der Unsicherheit zu ertragen, ohne bereits eine klare Vorstellung über Wege und Ziele zu haben. Neues kann nur entstehen, wenn Altes losgelassen wird, Altes aber muss losgelassen werden, bevor man weiß, wie das Neue aussehen wird und wie tragfähig es ist. Dabei zwischen Resignation und Aktivismus eine Haltung gelassenen Engagements für sich zu entwickeln, zu bewahren und an andere weiterzugeben, darin besteht aus meiner Sicht die geistliche Leitungsaufgabe der Pfarrerinnen und Pfarrer und der leitenden Geistlichen in der Nordkirche in den kommenden Jahren.
Anmerkungen:
1 Wer tiefer in die Materie eindringen will, dem sei die Internetseite http://www.reform-nordelbien.de empfohlen, die den Nordelbischen Reformprozess dokumentiert, besonders die unter der Rubrik »Downloads« und dann unter »Evaluation« bereitgestellten Publikationen »Kirche in Veränderung« und »Kirche in Entwicklung«. Die beiden von der Kirchenleitung der NEK herausgegebenen Broschüren geben einen umfassenden Einblick in Verlauf und Ergebnisse der Veränderungen.
2 Vgl. http://nordelbien.de/nordelbien/kirche.abisz /kirche.abisz.statistik/kirche.abisz.statistik.kirchensteuer/index.html (abgerufen am 15.12.2010).
3 Etwa 40% des Kirchensteueraufkommens der NEK fließen in die Besoldung und Versorgung der Pfarrerinnen und Pfarrer, weitere 30% in die Gehälter für haupt- und nebenamtliche Mitarbeitende anderer Berufsgruppen, 11% in den Unterhalt von Gebäuden und 19% in Sachmittel.
4 Vgl. http://www.reform-nordelbien.de, Rubrik »Download« und dann »Grundlagen«.
5 Kirchenleitung der Nordelbischen Evang.-Luth. Kirche (Hg.): Leitsätze zum Kirchenbild, Kiel 2004: 6.
6 Vgl. Bernhard Janta: Was verändert die Veränderung: Ein Navigationssystem für Transformationsprozesse, in: Mathias Lohmer (Hrsg.): Psychodynamische Organisationsberatung. Konflikte und Potentiale in Veränderungsprozessen, Stuttgart 2000: 198-215.
7 Vgl. Erich Latniak: Von der Schmerzhaftigkeit »organisationalen Lernens«, in: Institut Arbeit und Technik (Hrsg.): Jahrbuch 1996/1997, Gelsenkirchen 1997: 120-133.
8 Vgl. Kirchenleitung der Nordelbischen Evang.-Luth. Kirche (Hrsg.), Kirche in Veränderung: 65.
9 So die Ergebnisse des Zensus 2011.
10 Vgl. Eberhard Hauschildt, Eike Kohler, Claudia Schulz: Wider den Unsinn im Umgang mit der Milieuperspektive, in: WzM 64 (2012), 65-82.
11 Vgl. Detlef Pollack: Rückkehr des Religiösen? Studien zum religiösen Wandel in Deutschland und Europa II, Tübingen 2009.
12 Vgl. Mark Chaves: American Religion. Contemporary Trends, Princeton, NJ/Oxford 2011.
13 Vgl. PewReserchCenter (Hrsg.): »Nones« on the Rise: One-in-Five Adults Have No Religious Affiliation – URL: http://www.pewforum.org/uploadedFiles/Topics/Religious_Affiliation/Unaffiliated/NonesOnTheRise-full.pdf. – 09.10.2012 – Zugriff: 16.04.2013.
Anregungen und Texte zu dieser Reihe senden Sie bitte per Mail an [email protected] und an [email protected]
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 7/2013