In der akademischen Diskussion wie in kirchenleitenden Überlegungen kursieren die unterschiedlichsten Modelle zur Beschreibung und Orientierung der pastoralen Berufspraxis. An ihrer Kongruenz mit der empirischen Wirklichkeit im Berufsalltag kann man indessen zweifeln – meint zumindest Dieter Becker. Er unterzieht ausgewählte Modelle einem Vergleich und prüft sie an der kirchlich-pfarramtlichen Realität.1

1 Ein Exempel

Die so genannte Krise der evangelischen Kirche hat auch zu einer umfassenden Auseinandersetzung mit dem kirchlichen Kernberuf, dem Pfarrberuf, geführt. Unterschiedlichste Modelle, was das Pfarramt eigentlich sei oder zu sein habe, sind in den letzten Jahren einerseits in den Landeskirchen und andererseits an den Universitäten entworfen worden. Ein einheitliches Bild für den Pfarrberuf ergibt sich bei näherer Analyse kaum. So unterscheiden sich beispielsweise die pastoralen Beruf-modelle der beiden hessischen Landeskirchen nicht nur; sie stehen sich diametral gegenüber: Während sich in der kurhessischen Pfarrperson – so die Studie der EKKW »Das Amt des Pfarrers und der Pfarrerin in der modernen Gesellschaft« aus dem Jahre 20042 – das »ewige Heil in Jesus Christus« (S. 21, passim) ausbildet und damit eigentümlich katholisch priesterliche Attribute assoziiert3, wird die hessen-nassauische Pfarrperson funktional-leistungs­orientiert geerdet. Jeglicher Sonderstellung gegenüber anderen kirchlichen Berufen beraubt, wird das südhessische Pfarramt – so das Konsultationspapier der EKHN »Perspektiven des Pfarrberufs« aus dem Jahr 20054 – als (lediglich) eine »Sozialgestalt des Predigtamtes« den anderen Sozialgestalten (»Berufen«) innerhalb der evangelischen Kirche wie beispielsweise Küsterdienst, Gemeindepädagogik, Kirchenmusik, Verwaltungsarbeiten oder Diakonie (S. 25) gleichgestellt. Nicht – wie in der EKKW – die pastoral-personale Präzisierung »des ewigen Heils« steht in der EKHN im Vordergrund, sondern »die Frage, wie jeweils die Leistungsfähigkeit der Sozialgestalten von Kirche in ihrer Wirkung eingeschätzt wird, in dieser Gesellschaft Gemeinde zu ermöglichen.« Verkürzt ausgedrückt, stehen sich in diesen beiden exemplarisch ausgesuchten landeskirchlichen Pfarrberufsmodellen einerseits der pastorale Heilstransformator und andererseits der pfarrberufliche Leistungsgenerator diametral gegenüber.
Die kurze Einführung macht das Dilemma der heutigen Betrachtung des Pfarrberufs deutlich. Die Modelle entspringen im überwiegenden Maße theoretischen Grundvoraussetzungen, die – dort wie hier – die konkreten Arbeits- und Lebensbezüge der in der Berufspraxis befindlichen Pfarrperson kaum mehr repräsentieren. Deshalb soll an dieser Stelle der verkürzte Versuch unternommen werden, ein Lösungsansatz zwischen Theoriemodellen einerseits und Praxiswirklichkeit in den Pfarrberufen andererseits zur Diskussion zu stellen.


2 Theorien zum Pfarrberuf

2.1 Aktuelle Modelle in tabellarischer Darstellung
Die im Folgenden ausgewählten Pfarrmodelle orientieren sich an unterschiedlichen »Zugangs­voraussetzungen«. Jedes Theoriemodell hat Grundprämissen, die die jeweiligen Schlussfolgerungen determinieren. Die ausgewählten Theoriemodelle zum Pfarr­beruf5 werden tabellarisch verkürzt und nach Vergleichskriterien geordnet dargestellt, sodann werden die offensichtlichen Problem­anzeigen formuliert.

2.2 Problemanzeige: Uneinheitlichkeiten und Defizite in den Modellen
Die Übersicht der Theoriemodelle und die detaillierte Bearbeitung6 zeigen mehrere Auffälligkeiten.
•     Zunächst fällt auf, dass die Modelle zum Pfarrberuf keine Einheitlichkeit mehr hinsichtlich der Interpretationsform (Zugangsart), der Zielsetzung, der Leitmotive, der Aufgaben- und Inhaltsanforderung, der pastoralen Rollenfunktion als auch der Beurteilung des Berufsalltags aufweisen. Weder die Landeskirchen noch die theologischen Wissenschaftler, am wenigsten die Berufsgruppe selbst, zeigen einen »roten Faden« auf, wodurch der Pfarrberuf funktional und inhaltlich definiert werden könnte.
•     Auch sticht ins Auge, dass die klassischen Begriffe wie »Pfarrer/in« oder »Pfarramt« nicht mehr einheitlich geklärt Verwendung finden. Zudem scheinen heute übliche kategoriale Unterscheidungsbegriffe im Pfarrberuf wie »Gemeindepfarramt« oder »Funktionspfarramt« kaum präzisierende Aussagekraft mehr zu haben. Somit scheinen diese beiden Begriffe aufgrund ihrer diffusen »Interpretationsspielräume« ungeeignet, heute sachgerechte Differenzierungsmerkmale hinsichtlich pastoraler Berufsanforderungen auszudrücken.
•     Die Modelle haben – in der Tabelle verkürzt sichtbar – unterschiedliche, teils konträre Theoriezugänge zum Pfarrberuf. Gerade diese grundlegende Differenzierung (z.B. berufssoziologisch bei Karle, EKKW; funktional bei der EKHN, organisationsordnend bei der EKBO oder pastoral-psychologisch bei Klessmann) führt letztlich zu den erheblichen Abweichungen hinsichtlich der beruflichen Anforderungen und Berufsrollen.
•    Die pastorale Berufsrolle, die durch die Modelle gezeichnet wird, bleibt gänzlich unklar und heterogen: Die EKKW hebt sie in die soteriologischen Sphären katholischer Priestertheologie. Karle strickt – empirisch heute unhaltbar – eine besondere Berufsgruppe der Professionen aus Arzt, Richter, Pfarrer. Klessmann macht die Pfarrperson zu einem fragmentarischen Beziehungsagenten. Die EKHN funktionalisiert den Pfarrberuf zu einem normalen Beruf unter vielen in der Kirche.
•     Die Modelle sind auf dem empirischen Auge blind. Keines der Modelle greift auf vorhandene Daten zum Pfarrberuf zurück. Selbst die beiden Landeskirchen (EKHN und EKKW), die über ausführliches Datenmaterial aufgrund der Befragung aller Pfarrer/innen verfügen, entkoppeln sich von der erfassten und dokumentierten Berufswirklichkeit. Die Praxiswirklichkeit der gegenwärtigen Pfarrberufe tritt damit eindeutig hinter theoretischen Annahmen zum Pfarrberuf zurück.

Initiator/in Isolde Karle EKKW Uta Pohl-Patalong Pfarrvereine EKBO Michael Klessmann EKHN
Jahr 2001 2001/2008 2003 2001 2001/2004 2004 2005
Zugangsart Professions-soziologisch Professionstheorie und Kirchliche Hierarchie Strukturell-ekklesiologisch; Konflikt als Chance Berufsgruppenspezifisch Dienstrechtliche Hilfestellung Pastoral-psychologisch Funktional
Zielsetzung Pfarrberuf unter den Typologien professionellen Handelns beschreiben Pfarramt in seiner Würde wieder neu entdecken und Profil des Pfarramts bestimmen Die Frage nach den faktischen und möglichen Formen kirchlicher Strukturen ergründen Denkprozesse in Gang setzen und Forderungen der Berufsgruppe vermitteln Orientierungsrahmen für die konkrete pastorale Arbeit in der konkreten Pfarrstelle geben Beschreibung pastoralpsychologischer Beziehungsarbeit Konsultationspapier, um Gespräche zum Berufsbild zu ermöglichen
Leitmotiv Pfarrberuf unter sozialen Aspekten betrachten im Kontext der modernen Gesellschaft Kirchenleitung muss als das »organisierende Prinzip« den Pfarrberuf bestimmen Suche nach alternativen kirchlichen Organisationsmodellen, um die Pluralität zu gewährleisten Konsens im Beruf zwischen Pfarrperson und kirchlichem Arbeitgeber anstreben »die verschiedenen Aufgaben im Pfarramt sinnvoll zu gewichten« (4) Personale Kompetenz des Pfarrers bilden Angemessenes Pfarrbild im Rahmen der kirchlichen Aufgabe in der Gesellschaft entwerfen
Inhalte Pfarrberuf wird unter Professionsaspekten beschrie-ben: Ethik und Vertrauen; Sachthematik ist Heil des Menschen im Evangelium; Package-Deal (Versorgungsbedingungen) Profession Pfarrberuf (Karle) wird hier ausgeführt. Pfarrperson muss als Repräsentant der Kirche alle Aufgaben wahrnehmen Konflikt zwischen Parochie und Nicht-Parochie gilt es durch das Konzept der »Kirchlichen Orte« (gegen Territorialkirche) zu überwinden. Vereinskirche und »Kirch-liche Orte« sind zu trennen a) Leitbild beschreibt »präsentisch die zukünftige Wirklichkeit« (4). Pfarrperson »kann« alles. b) Forderungen: Beamtenstatus ab A13, Unversetzbarkeit, Pfarrhaus attraktiv machen, Fortbildung Pfarrperson als Mensch mit brüchigem leben wahrnehmen. Gestaltungsrahmen vereinbaren, Leistung und Überforderung klären, Verpflichtungen zur Leistung festlegen Leben als Fragment. Identität ist erlernbar und gestaltbar. »Niemand ist fertig.« (554) Personale Kompetenz als Beziehungsarbeit und Chance zu wirklicher Menschlichkeit. (545) Pfarramt ist eine Sozialgestalt des Predigtamtes unter vielen (wie Kirchenmusik, Gemeindepädagogik, Verwaltung). Kirchliche Aufgabe ist die funktionale Gesellschaftskritik und –konstruktion
Rollenbild Generalist im Gemeindepfarramt Generalistenrolle im Gemeindepfarramt und anderen Stellen Funktional differenzierte Pfarrperson (gesamtkirchlich zu koordinieren) Ein konkretes Rollenbild wird nicht vermittelt. Pastorale »All-Kompetenz« ist beschrieben Pfarrberuf als zu organisierender Beruf Beziehungsagent Kirchlicher Spezialist für die religiöse Dimension menschlichen
Lebens
Wirklichkeitserfassung Zugang durch die soziologische Professionstheorie. Beschreibung von Beobachtungen Beschreibung von Berufsbelastungen sind präzise. Deren Bewältigung obliegt aber der Pfarrperson selbst Beschreibung von gesellschaftlichen und kirchlichen Wandlungsprozessen a) Beim Leitbild nicht vorhanden b) Pastorale Belastungen werden detailliert beschrieben Wirklichkeitserfahrungen werden beschrieben. Konkrete Zeitvorgaben für Vollstellen liegen vor Persönlichkeitsbeschreibungen und Ausführung von Belastungsaspek-ten Beschreibung von Wandlungsprozessen und gesellschaftlichen Anforderungen
Einordnung: Stärken des Modells Modell ist identitätsbildend. Soziologisch-funktionaler Theoriezugang zur Berufswirklichkeit Pfarrperson wird eindeutig hierarchisch bestimmt. Kirchenleitung ist das »organisierende Prinzip« Strukturell-ekklesiologischer Lösungsansatz. Konstruktiver Ansatz durch zielorientierte Personalsteuerung Klare Forderungen nach strukturellen Lösungen des Arbeitgebers Konkrete Hilfestellung durch Muster-Dienstvereinbarung. Klärungsprozess wird etabliert. Ziele und Zeiten für postorale Arbeit sind zu benennen »Gestaltbarkeit von pastoraler Arbeit kann gelingen.« Mut zur Arbeit als Pfarrer. Eigene pastorale Entwicklung wichtig nehmen Funktional-gesellschaftliche Einordnung der Kirche; Klärung von Begriffen wird vorgenommen. Pfarramt wird nicht überhöht
Einordnung: Anfragen Ist das Professionsmodell noch zeitgemäß? Aktuelle Professionsbrüche werden nicht beachtet. Vergleich mit Arzt und Richter erzeugt eine Scheinidentität Pfarrbild wirkt »wie eine rückwärtsgewandte Legitimierung der Aufgabenbestimmung pastoraler Grundversorgung (Scherle) Konfliktthesen erscheinen problematisch. Organisationsbegriff wird zweideutig verwendet. Pluralitätsprinzip ist irritierend Theologische und konzeptionelle Ausführungen zum Leitbild erweisen sich als hochgradig ambivalent und unausgereift Wer kontrolliert? Wer unterstützt? Wer schlichtet? Vernachlässigung heutiger »virtueller« Kommunikationsaspekte. Organisationsstruktur gerät aus dem Blick Ist das Beschriebene ein Idealbild? Weicht die Realität nicht erheblich ab? Wie sind die Brüche im Papier zwischen den einzelnen Kapiteln zu erklären?

3 Die Praxis der Pfarrberufe

Dass die Berufspraxis ein wichtiger Schlüssel für die Entwicklung einer Berufstheorie sein kann, soll im Folgenden aufgezeigt werden. Für die Betrachtung der pfarrberuflichen Praxis wird auf die drei großen Befragungen der pastoralen Berufsgruppe zwischen 2001 und 20047 sowie auf weitere empirische Daten zurückgegriffen. Auf der Grundlage dieser Daten werden an dieser Stelle – soweit möglich – vergleichende und trennende Aspekte aufgezeigt.

3.1 Motivationen und Demotivation im Pfarrberuf
Bei allen drei Pfarr-Befragungen hebt sich ein Ergebnis fast gleichlautend heraus: Die Pfarrer­innen und Pfarrer haben mehrheitlich ein äußerst ambivalentes Verhältnis zur eigenen Landeskirche. Dies lässt sich an drei Aspekten verdeutlichen:

•     Beurteilung des Images der eigenen Landeskirche
Weniger als 5% der Pfarrpersonen sind mit dem Image der eigenen Landeskirche vollkommen oder sehr zufrieden. Dagegen sind über 60% der Pfarrpersonen der beiden hessischen Kirchen mit dem Image weniger bzw. unzufrieden; in Hannover sind es über 45%.

Zufriedenheit mit dem Image der Kirche
(Angabe der Frage-Nr.)
Bewertungs-
skala
EKHN
(6.2)
EKKW
(14.4)
Hannover
(9.2b)
vollkommen
zufrieden
0,2% 0,4% 0,2%
sehr
zufrieden
2,7% 3,3% 4,4%
zufrieden 34,2% 36,3% 49,4%
weniger
zufrieden
48,5% 46,0% 37,6%
unzufrieden 14,5% 14,1% 8,5%
Tabelle 1 -
Zufriedenheit mit dem Image der Landeskirche

Nicht anders sehen die Ergebnisse im Blick auf die Wertschätzung und Zufriedenheit mit landeskirchlichen Vertretern bzw. kirchlichen Gremien aus. In allen drei Kirchen sind die Pfarrer/innen unzufrieden mit ihrer eigenen landeskirchlichen Vertretung (66–80% in der EKHN), mit der eigenen Wertschätzung (53–60% in Hannover) und mit der Alltagsunterstützung (28–47% in der EKKW, 48-69% in Hannover). Bei keiner Frage können die beiden oberen positiven Werte (Sehr/vollkommen zufrieden bzw. gut/sehr gut) über die beiden negativen Werte dominieren. Lediglich im unmittelbaren Berufsumfeld (z.B. Kirchen­gemeinde) ändert sich dieses negative Bild.

• Vorgesetzteneinschätzung durch die Berufsgruppe
Bei den Befragungen in der EKHN und in Hannover wurde auch nach der Kompetenz­einschätzung der eigenen Vorgesetzten bzw. der Leitungskompetenz von Gremien gefragt. Die Bewertung der Vorgesetzten bzw. der Gremien fällt auch hier positiver aus, je näher diese an die berufliche Basis heranrücken. Dennoch stehen bei über 50% der Befragten Führungs- und Leitungskompetenzen in schlechtem Ansehen.

•    Motivation zum Pfarrberuf
Unzweifelhaft ist der Pfarrberuf aus Sicht der Berufsgruppe ein interessanter und abwechslungsreicher Beruf. In allen drei Befragungen werden die eigenen Wertschätzungen der ge-stalterischen Möglichkeiten und auch der beruflichen »Freiheiten« betont. Gleichzeitig ist aber die Euphorie für den Beruf stark gebrochen, wenn man auf die Zufriedenheit mit dem Pfarrberuf blickt.

Zufriedenheit mit dem Pfarrberuf?
Bewertungsskala
(»Note«)
EKHN (6.1) EKKW (14.1) Hannover (9.1)
vollkommen zufrieden (1) 4,2% 9,6% 14,7%
sehr zufrieden (2) 36,6% 27,9% 21,2%
zufrieden (3) 45,7% 49,8% 27,0%
weniger zufrieden (4) 11,9% 9,8% 30,4%
unzufrieden (5) 1,6% 2,9% 3,8%
Aufspreizung der Einzelwerte
Durchschnittswerte in Noten 2,701 2,685 2,787
Vollkommen und sehr zufrieden 40,8% 37,5% 35,9%
Weniger &
unzufrieden
13,5% 12,7% 34,2%
Tabelle 2 - Zufriedenheit mit dem Pfarrberuf

Die Spreizungen der Ergebnisse innerhalb der Berufszufriedenheit machen die Spannungen in der Berufsgruppe deutlich. Nach einer Durchschnittsberechnung »führt« die EKKW die Zufriedenheit mit mäßigen 2,685 vor Hessen-Nassau (2,701) und Hannover (2,787) an. Die beiden Amplituden der Zufriedenheitsskala (»vollkommen / sehr zufrieden« einerseits und »weniger / unzufrieden« andererseits) machen die Diskrepanzen deutlich. In Hannover scheint die Ausgangslage besonders prekär, weil sich die Zufriedenheit mit dem eigenen Beruf die Waage hält zwischen »mehr« und »weniger« zufrieden. Grundsätzlich zeigen solche Werte, dass ein (erhebliches) Identifika­tionsproblem mit dem eigenen Beruf besteht.
Im Zusammenhang mit dem Pfarrberufsergebnissen kommt Peter Höhmann zu dem Schluss: »Insgesamt ist … eine Richtung zu erkennen, auf die hin Pfarrerinnen und Pfarrer ihre Unzufriedenheit kanalisieren. Die eigenen Handlungskompetenzen werden als positiv bewertet, Teilhabe an der Gesamtkirche und damit der positionale Bezug zu den Bedingungen, unter denen die Kompetenzen sich entfalten können und sollen, bleiben von diesem Urteil getrennt.«
Die empirischen Daten erhärten die These von einer »Entkirchlichung der pastoralen Berufsgruppe«. Die Rede von einer »inneren Kündigung« gegenüber der eigenen Landeskirche hat hier ihre Begründung.

3.2 Pfarrberuf zwischen Wunsch und Realität
Die bisher skizzierten beruflichen Frakturen im Bewusstsein der Pfarrpersonen lassen sich anhand der vorliegenden detaillierten Analyse der EKHN-Daten weiter verdeutlichen. Tabelle 3 zeigt die Differenzen zwischen gewünschtem und gefordertem Berufsbild.

Unterscheiden Sie bitte zwischen dem von Ihnen gewünschten PfarrerInnenbild und der tatsächlichen Situation, in der Sie sich befinden. (3.10)
Wunsch Realität Berufsdiskrepanzen
Pfarrer/in... ja teils nein ganz teils nicht
als Generalist/in 19,5% 41,6% 38,9% 52,5% 40,6% 6,9% Muss Generalist/in sein, wünscht es aber nicht.
im Teampfarramt 50,6% 32,0% 17,0% 16,1% 35,9% 48,0% Wünscht im Team zu arbeiten, hat es aber nicht.
als Leiter/in der Kirchengemeinde 15,7% 61,6% 22,7% 43,2% 46,5% 10,3% Muss eher Leiter/in der Gemeinde sein, wünscht es aber nicht.
als »primus inter pares« 40,4% 36,3% 23,3% 13,1% 53,0% 33,9% Wünscht eher »Primus inter pares« zu sein, kann es aber aufgrund der Realität nicht.
als Manager/in 10,9% 53,5% 35,6% 39,6% 51,3% 9,1% Muss Manager/in sein, wünscht es aber nicht.
theologische Leiter/in der Gemeinde 69,6% 28,1% 2,3% 41,1% 50,9% 8,0% Wünscht theologische Leiter/in zu sein, aber die Realität spricht eher dagegen.
als religiöses und moralisches Vorbild 15,1% 51,7% 33,2% 27,3% 63,3% 9,4% Muss religiöses und moralisches Vorbild sein, wünscht diese Rolle aber eher nicht.
Tabelle 3 - Berufsrollen zwischen Wunsch und Realität

Unzweifelhaft muss das Verhältnis zwischen eigener und fremder Berufsvorstellung als fragil bezeichnet werden. Die Anforderungen an die Berufsrolle, die die Pfarrpersonen empfinden, weichen eklatant von dem Wunsch ab, wie die Pfarrpersonen den Beruf ausfüllen möchten.
Peter Höhmann und Volkhard Krech haben diese Diskrepanzen in einem Artikel weitergehend untersucht.9 Sie kommen zu einem eindeutigen Ergebnis: Der evangelische Pfarrberuf steht zunächst in dem Dilemma, dass die gesellschaftliche Nachfrage nach pastoralem Handeln rückläufig ist. Religiöse und theologische Deutungsmuster lösen sich zudem auf. Die Akzeptanz pastoraler Arbeit muss je neu individuell und situativ von jeder Pfarrperson in jedem pastoralen »Akt« bewiesen und begründet werden. Pastorale Arbeit wird also hinsichtlich der Deutungsmuster im Blick auf die Wirklichkeit brüchig und unterliegt einer ständigen Ambiguität. Diese Unsicherheit ist heutige Grundbedingung pastoraler Arbeit und führt zu einem Paradigmenwechsel, was ein Pfarrberuf zu sein und zu leisten habe. Diese Wirklichkeitserfahrung pastoraler Arbeit wird in den Berufsmodellen kaum berücksichtigt, weil von – mehr oder weniger – einheitlichen Rollenanforderungen ausgegangen wird.

3.3 Einflussfaktoren der pastoralen Berufsrollen
Untersucht man die Daten zum Pfarrberuf auf ihre pastoralen Berufsrollen, so können verschiedene Einflussfaktoren benannt werden, die pastorale Berufsanforderung und den Beruf selbst nuancieren:


•    Regionale Einflussfaktoren im Gemeindepfarramt
Isoliert man die Daten der Befragten im Gemeindepfarramt (Tabelle 3) aus, so ergeben sich interessante Verschiebungen zwischen regionalen Einflussfaktoren (Land, Vorstadt, Stadt) und die daraus gewünschten bzw. realen Berufsrollen. Aus diesen Unterscheidungsmerkmalen ergeben sich folgende Rollenbilder:

Gemeinde-Pfarrrolle zwischen Wunsch und Realität …
… in ländlicher Region:
Realität: Die Rolle des Generalisten, der als vorbildhafter Leiter und Manager der Gemeinde mit theologischer Kompetenz agiert
Wunsch: Die Rolle des theologischen Leiters, der als Primus inter pares im Team leitet.

… in der vorstädtischen Region:
Realität: Generalist mit Zügen eines theologisch kompetenten leitenden Managers
Wunsch: Der theologisch kompetente Vorsitzende des Teams.

… in der Stadt:
Realität: Generelle Anforderungen an Leitungs- und Managementaufgaben mit theologischer Ausrichtung
Wunsch: Theologischer Fachexperte im Team.

Die einzelnen Nuancen sind keinesfalls als marginale Abweichungen zu bewerten. Vielmehr brechen an diesen Unterscheidungen unterschiedliche Berufsrollen und Berufsanforderungen aus den jeweiligen Pfarrstellen auf. Der Pfarrberuf in einer Kirchengemeinde erscheint durch diese Auswertung nicht konsistent, sondern als ein vielschichtiges Gebilde. Die Schichtungen ergeben sich u.a. auch aus den regionalen Anforderungen. Es kann vermutet werden, dass die Anforderungen aus den einzelnen Kirchengemeinden zudem individuelle Prägungen und Anforderungen für die Berufsausübung vorgeben. Ein einheitliches Gemeindepfarramt als Berufsanforderung ist kaum mehr konstatierbar. Stadtpfarrgemeinden ergeben z.B. gegenüber den Landgemeinden das Bild einer »arbeitsteiligen« Berufsgestaltung. Somit wird der Begriff »Gemeindepfarramt« zu einer (ideologischen) Worthülse ohne einheitlich bestimmte Bedeutung.
Funktionale Diversifizierungen haben auch das Gemeindepfarramt erreicht. Eine sinnlogische Unterscheidung zwischen »Funktionsamt« einerseits und »Gemeindeamt« andererseits erweist sich aufgrund der vorliegenden Daten als Illusion. Eine Kirchengemeinde ist kein hermetisch abgeschlossener Raum oder fest gefügter Personenkreis. Kirchengemeinden sind vielmehr geografische Flächenorganisationen, in denen eine Fülle von kirchlicher Funktionen und pastoraler Tätigkeiten bewältigt werden (müssen). Diese werden nicht überwiegend vom Ortspfarrer erbracht, sondern durch eine Vielzahl von kirchlichen Mitarbeitern. So wirkt der »Schulpfarrer« in Familien der Kirchengemeinde hinein. Die diakonischen Dienste leisten funktionale Aufgaben in der Betreuung pflegebedürftiger Mitglieder der Kirchengemeinde. Die Medien mit ihren Gottesdienstübertragungen, Berichten oder auch täglichen (Rundfunk-) Zusprüchen betreiben Meinungsbildung vor Ort. Die regionalen Dienste der Kirchenorganisation wie Dekanatsjugendpfarrer, musikalische Angebote, Internetauftritte, Freizeitangebote, Erwachsenenbildung oder auch Kinderbetreuung greifen massiv in das Gebiet der
Kirchengemeinde ein. Eine empirische Un-terscheidung zwischen so genannten Funktionsstellen und so genannten Gemeindestellen erweist sich als wirklichkeitsfremd.10 Vielmehr agieren Pfarrpersonen in einer Kirchengemeinde oder in einer anderen Pfarrstelle innerhalb einer Netzwerkorganisation »(Landes-) Kirche« und nehmen dort spezifische Aufgaben war.

•    Pfarrrolle zwischen Mann und Frau
Der Pfarrberuf wird weiblich.11 Hinter dieser Pointierung verbirgt sich die statistische Entwicklung, dass die Anzahl der männlichen Pfarrpersonen abnimmt und die Zahl der weiblichen Pfarrpersonen im Steigen begriffen ist. Ab 2020 gleicht sich die Anzahl der männlichen und weiblichen Pfarrpersonen an. Nach 2030 ist die überwiegende Mehrheit der Pfarrpersonen – nach heutigen Vorgaben – weiblich. Die aktuellen Daten der Berufsanfänger/innen verweisen auf ein männlich-weiblich Verhältnis von 1:2. Zweidrittel (66%) der Pfarrpersonen werden im Jahr 2050 weiblich sein. Dies hat Auswirkungen auf die Berufsrollen. Frauen im Pfarrberuf tendieren zu Teamarbeit und Kooperation12. Eine Führungs- oder Generalistinnenrolle wird mehrheitlich abgelehnt. Die Berufsmodelle blenden diesen Aspekt komplett aus und scheinen von einem unisexualen Pfarrberuf auszugehen.

3.4 Arbeitszeiten im Pfarrberuf13
Blickt man auf Daten zur pastoralen Arbeitszeit, wird zweierlei deutlich: Zunächst wird von einer fiktiven Wochenarbeitszeit von 54 Stunden gesprochen. Ein empirischer Beleg für diese Zahl steht aus. Scheinbar wurden 6 Wochenarbeitstage mit je 9 Arbeitsstunden billigend berechnet und immer wieder kolportiert. Betrachtet man empirische Erfassungen pastoraler Arbeitszeiten, so ergibt sich im Mittel eine wöchentliche pastorale Arbeitszeit zwischen 61 Stunden (Funktionsstelle) und 64 Stunden (Gemeindestelle). Verkündigung und Verwaltungstätigkeit halten sich mit je 20% (ca. 12,5 Stunden) im Gemeindepfarramt die Waage. Es folgen: Kommunikation: 13% (8 Std.), Gremienarbeit: 12% (7,5 Std.), Kirchlicher Unterricht: 11% (7 Std.). Lediglich 4% (ca. 2,5 Std.) der wöchentlichen Arbeitszeit wurden im untersuchten Kirchenkreis Barmen für Seelsorgetätigkeiten aufgewendet.
Hier entsteht ein Selbstbewusstseinsdilemma der Pfarrpersonen, die sich mehrheitlich als Seelsorger/in verstehen. Peter Höhmann und Volkhard Krech haben demzufolge auf eine grundlegende Paradoxie pastoraler Seelsorge hingewiesen. »Einerseits wird die Autonomie der Lebenspraxis auch in religiöser Hinsicht anerkannt. Die interviewten Pfarrer und Pfarrerinnen wollen nicht missionieren und die Klienten nicht mit Glaubensinhalten indoktrinieren, die der lebensweltlichen Erfahrung ihrer Klienten möglicherweise fremd sind. Zugleich aber müssen die Pfarrer und Pfarrerinnen die Lebenspraxis ihrer Klienten in religiöser Hinsicht als ergänzungsbedürftig wahrnehmen; andernfalls wäre ihre Aufgabe überflüssig.«14


4 Pfarrberufe im Widerstreit zwischen Praxis und Theorie

Die dargestellten Problemanzeigen der Theoriemodelle und die dargelegten empirischen Aspekte heutiger pastoraler Berufswirklichkeit machen eklatante Brüche und Diskrepanzen zwischen Berufspraxis und Berufstheorie deutlich. Welche Aspekte müssten für eine heute angemessene Bearbeitung dieser Problematik in den Blick genommen werden?

4.1 Theorie und Praxis in der Theologie – das Ende der Hermeneutik als Leitmethode?
Die geschilderten Diskrepanzen zwischen der Berufstheorie und der Berufspraxis betreffen m.E. ein aktuelles Grunddilemma evangelischer Theologie: Das Fehlen einer der heutigen Wirklichkeitswahrnehmung angemessene Erkenntnistheorie bzw. -methode in der theologischen Theoriebildung. Die vorgestellten Modelle zum Pfarrberuf sind – wie empirisch aufgezeigt wurde – wirklichkeitsfremd. Theoriemodelle können helfen – sofern sie wirklichkeitsnah sind –, die erfahrene Wirklichkeit besser zu verstehen und ggf. zu gestalten. In einem Beispiel ausgedrückt: Eine Modelleisenbahn kann helfen, die Komplexität der realen Eisenbahn in Ansätzen und in einer Überblicksfunktion zu erfassen. Aber anzunehmen, dass ein Pfarrmodell pastorale Berufswirklichkeit abbilde, entspräche der Annahme, eine Modelleisenbahn könne auch faktisch Passagiere befördern.
Die evangelische Theologie ist im Blick auf ihre Leitmethode zurzeit im Aufbruch.15 Die theologische Hermeneutik scheint an ihre Grenze bzw. an ihr erkenntnistheoretisches Ende gekommen zu sein. Sie vermag es nicht mehr, empirische Wirklichkeitserfahrungen und hermeneutische Deutungen lebensrelevant zu artikulieren. Sie erweist sich – trotz vielfältiger Rettungsversuche im syste-matisch-theologischen Bereich – als wenig tragfähig, die Diskrepanzen zwischen Theoriebildung und Praxiswirklichkeit – wie hier ausgeführt wurde – angemessen und sachgerecht zu überbrücken. Wie eine neue Methode theologischer Wirklichkeitswahrnehmung aussehen könnte, wird vielfältig diskutiert. Eine neue Leitmethode ist aber noch nicht etabliert bzw. erweist sich im Horizont der wissenschaftlichen Diversifizierungserfahrungen als problematisch.

4.2 Theorieumbruch – Ungeklärte Begriffe
Neben einer neuen Verhältnisbestimmung, wie Theorie und Praxiswirklichkeit innerhalb der theologischen und kirchlichen Theoriebildung aufeinander zu beziehen sind, muss für den Pfarrberuf ein grundsätzliches Begriffsdilemma konstatiert werden. Die ehemals eindeutig abgegrenzten Begriffe wie beispielsweise »Pfarrer«, »Gemeinde«, »Kirche«, »Evangeliumsverkündigung« weisen aktuell erhebliche inhaltliche Spreizungen auf. Was eine Pfarramt heute ist, welche Funktionen die Pfarrperson wahrzunehmen hat – dies ist heute inhaltlich diffus und vielschichtig. Der klassische Pfarrberuf mit seinen Ausprägungen in Predigt, Kasualien und KU ist ein Idealbild, ein Theoriemodell der Vergangenheit. Eine an der »empirischen« Wirklichkeit orientierte Klärung der Begriffe erscheint zwingend erforderlich, um eine zukunftsweisende Berufstheorie abbilden zu können.


4.3 Singularitätsthese: »Der Pfarrer ist anders«
Der Pfarrberuf – pointiert ausgedrückt – ist ein Beruf, ist ein Beruf, ist ein Beruf; nicht mehr und nicht weniger. Die Singularitätsthese »Der Pfarrer ist anders« (Manfred Josuttis) hat ihre Gültigkeit verloren. Aussagen wie »Es dürfte wenige Berufe in unserer Gesellschaft geben, die so stark wie der des Theologen von der eigenen Identifizierung mit dem Beruf leben und auf sie angewiesen sind«16 oder »Der Pfarrer symbolisiert mit seiner Person in seinem Beruf eine Ganzheit, die in unserer parzellierten, das Leben in einzelne Segmente zerlegenden Gesellschaft verloren zu gehen scheint«17 sind unter den veränderten gesellschaftlichen Bedingung keine zwingende Voraussetzung für den Pfarrberuf. Der Pfarrer, die Pfarrerin trägt nicht das Pfarramt. Sie, die Pfarrpersonen, haben heute einen »normalen« Beruf wie andere Berufsteilnehmer auch.
Deutlich wird dies u.a. in der Behandlung der Landeskirchen, die diese ihrem theologischen Nachwuchs zukommen lassen. Die Ausbildung und im Besonderen die Auswahl geeigneter Berufspersonen unterscheiden sich in nichts von einem Wirtschaftsunternehmen. Leistungskriterien, Persönlichkeitsprofile und Assessmentcenter bilden die Einstiegsbarrieren in das Berufsleben. Außerdem befindet sich heute eine Vielzahl von theologisch ausgebildeten Personen in anderen Berufen als dem Pfarrberuf. Eine Exklusivität des Theologiestudiums im Blick auf den Pfarrberuf erweist sich vor dem Hintergrund des Bologna-Prozesses der Universitäten als Scheinkampf. Es zeichnet sich in der Zukunft eine verstärkte religionswissenschaftliche Ausrichtung der theologischen Fakultäten für das Studium der evangelischen Theologie ab.
Die Mär, dass der Pfarrberuf einer privilegierten Berufsgruppe (z.B. Profession) zuzuordnen sei, greift aufgrund der empirischen Wahrnehmung zu kurz. Denn nicht jeder Mediziner wird Arzt, nicht jeder Jurist endet im Richteramt und nicht jeder Theologe im Pfarrberuf. Schon Luther verglich den Pfarrberuf mit dem Beruf des Bürgermeisters und sprach sich somit gegen einen Standesberuf und dessen Dünkel aus.

4.4 Kirchentheorie18 und Pfarrberufe
Ausgelöst durch grundlegende Ablösungserfahrungen (z.B. durch Religiositätswandel, Freizeitverhalten, Ökonomisierung der Kirchenorganisationen bzw. Diakonie) und gesellschaftliche Erosionen (u.a. durch Wiedervereinigung, ökonomische Verschiebungen durch Europäisierungs- und Globali-sierungstendenzen) treten Brüche innerhalb der Landeskirchen deutlich zu Tage.
Obgleich die statistischen Horrorszenarien des EKD-Papiers »Kirche der Freiheit« bereits ein Jahr nach dessen Erscheinen aufgrund steigender Kirchensteueraufkommen (5–25%) als Makulatur bezeichnet werden können, bleibt die »Ökonomisierung der Kirchen« ein wichtiges Element der zukünftigen Kirchenentwicklung. Auf einer (gesicherten und nicht erfundenen) Datenbasis werden Modelle zur Kirche in der Zukunft zu entwerfen sein, um gestalterische Elemente in die vielschichtigen Kirchenstrukturen eintragen zu können. »Kirche als Netzwerkorganisation« etabliert dabei – im Gegensatz zu einer »Leuchtfeuerorganisation« – ein tragfähiges Bild von Kirche, das einerseits der Vielschichtigkeit des Faktischen Rechnung trägt und andererseits ein innovatives Entwicklungsmodell für die nächsten Jahre als realisierbare Umsetzungsoption vorstellt. Die Rolle der Pfarrpersonen ist dabei in besonderer Weise zu berücksichtigen. Schließlich sollte und kann Kirche nicht gegen Pfarrpersonen, sondern allein im Zusammenspiel mit der Leitberufsgruppe der Kirche entwickelt werden.


5 Lösungsvorschlag: Profilierung als Gestaltungsmethode

Wie eine Vernetzung zwischen Theorie/Methode und Berufspraxis aussehen könnte, wird im Folgenden unter dem Stichwort »Profilierung« vorgestellt. Sie agiert zweigleisig. Zunächst stellt sich die Frage nach dem Profil (Anforderung und Ausrichtung) der konkreten Pfarrstelle vor Ort, sodann die Frage nach den fachlichen, persönlichen Kompetenzen (Gabenprofil) der konkreten Pfarrperson. Beide Profile, die der Pfarrstelle und die der Pfarrperson, sind im konkreten Einzelfall der Stellenbesetzung aufeinander zu beziehen.

5.1 Struktur-funktionale Profilierung der jeweiligen Pfarrstelle
Die Zukunft des Pfarrberufs ist die Zukunft der einzelnen Pfarrberufe. Wenn – wie oben gezeigt wurde – jede Pfarrstelle, ob in Kirchengemeinde oder in Funktionsstellen, ein eigenes Profil hat und dadurch spezielle Berufsanforderungen ausprägt, dann kann diese – in der Theorie- und Strategiebildung bisher mehrheitlich unbeachtete – Kirchenwirklichkeit genutzt werden, um individualisierte Profile für die Zukunft zu entwickeln.
Dabei müssen nicht alle bisherigen Aufgaben verändert werden. Es reicht häufig aus, ca. 20% der Ressourcen zielgerichtet zu bündeln. Ein Profil ist immer nur die Spitze eines Eisberges, das dem ganzen Gebilde eine Außenprägung gibt. Für Gemeinden wäre somit die Frage zu beantworten, welche Leit-Prägung (Profil) diese konkrete Kirchengemeinde in den nächsten Jahren erhalten soll. Die mit diesem Profilierungsverfahren erarbeitete konkrete (räumliche und innere) Struktur einer Pfarrstelle ermöglicht eine konkrete Stellenausschreibung, in der das notwendige Kompetenzprofil der gesuchten Pfarrperson beschrieben wird.

5.2 Gabenprofilierung der jeweiligen Pfarrperson
Eine Profilierung der Pfarrpersonen versucht, deren Eignungen sowie Kompetenzen zu erfassen und zu entwickeln. Dazu wäre eine IST-Analyse aller Pfarrpersonen vorzunehmen und eine persönliche (Berufs-) Entwicklungsplanung zu erstellen. Diese Profilierung der Pfarrpersonen hätte den Vorteil, dass sich persönliche Gabenkompetenz mit der Gabenanforderung der Stelle verbinden könnte. Für die Zukunft der Landeskirche bedeutet dies, die richtigen Personen in die jeweiligen Stellen zu bringen. Dies gilt im Besondern für die Kirchengemeinden! Es geht darum, das Anforderungsprofil der jeweiligen Stelle mit einer Person entsprechenden Profils zu besetzen. Durch eine profilorientierte Stellenausschreibung könnten zukünftig Kirche und Beruf neu präzisiert werden. Zudem würden die empirischen Anforderungen der Stelle einerseits und die Neigungen der Berufspersonen andererseits aus Sicht des Gesamtprofils der Kirche angemessen aufeinander bezogen werden. Dadurch wäre ein Zusammenspiel von Praxiswirklichkeit und Berufstheorie möglich.


Anmerkungen:

1    Der Artikel ist ein Surrogat aus einer umfassenden wissenschaftlichen Arbeit, die methodologisch, reformationsgeschichtlich und zeitgeschichtlich der Frage zwischen Theorie und Praxis bei pastoralen Berufsmodellen nachgeht: Dieter Becker: Pfarrberufe zwischen Praxis und Theorie, Frankfurt 2007. Verwiesen sei auch auf: Dieter Becker/Richard Dautermann (hg.), Berufszufriedenheit im heutigen Pfarrberuf, Frankfurt 2005. Der Artikel für das Deutsche Pfarrerblatt ist gegenüber der ursprünglichen Fassung stark gekürzt. Den gesamten Artikel können Sie als PDF Datei unter http://www.agentur-aim.com/Pfarrberufe-zwischen-Praxis-und-Theorie.pdf downloaden.
2    Das Amt des Pfarrers und der Pfarrerin in der modernen Gesellschaft, Eine Studie der EKKW, Didaskalia 53, Kassel 2004, oder im Internet unter http://www.ekkw.de als Download erhältlich. Zitate aus den Modellen werden mit Seitennummer in Klammern angegeben.
3    »Die Profession des Pfarrers und der Pfarrerin bildet sich daher schon immer in der Gegenwart des so verstandenen ewigen Heils aus« (22). In einer interessanten Konklusion werden im kurhessischen Pfarrbild das ewige Heil in Jesus Christus und die pastorale Profession über die Funktion der Verkündigung aufeinander bezogen und gegenseitig zugeordnet. (23)
4    Perspektiven des Pfarrberufs. Ein Diskussionspapier zur Konsultation in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, im Auftrag erarbeitet von der Projektgruppe »Berufsbild des Pfarrers/der Pfarrerin« unter dem Vorsitz von Dr. Sigurd Rink, Propst für Süd-Nassau, Darmstadt 2005 (Konsultationspapier im Internet unter http://www.ekhn.de als Download erhältlich).
5    Die Auswahl und Darstellung der Modelle erfolgte unter dem Gesichtspunkt, unterschiedliche Zugangsvoraussetzung zum Pfarrberufstheorie darzustellen. Die tabellarische Übersicht bildet insofern die Landschaft der Theoriemodelle des Pfarrberufs ab. Es sind sieben pastorale Berufmodelle ausgewählt. Je drei Modelle von Landeskirchen (Kurhessen, Hessen-Nassau, Berlin-Brandenburg-oberschlesische Lausitz) und von Einzelpersonen (Isolde Karle, Michael Klessmann und Uta Pohl-Patalong) werden in einer tabellarischen Kurzfassung dargestellt. Ergänzt werden diese sechs Modelle durch das Leitbild der Interessenvertretung der Berufsgruppe (Verband der Vereine evangelischer Pfarrerinnen und Pfarrer).Die Darstellung der Modelle erfolgte in der Untersuchung nicht lediglich tabellarisch, sondern ausführlich in Textform. Die Quellenangaben der Modelle sind folgende:
    - Professionsmodell: Isolde Karle, Der Pfarrberuf als
Profession, Gütersloh, 2. Aufl. 2001
    - Generalisten-Amt: Das Amt des Pfarrers und der Pfarrerin in der modernen Gesellschaft, Eine Studie der EKKW, Didaskalia 53, Kassel 2004, oder im Internet: http://www.ekkw.de
    - Locusmodell: Uta Pohl-Patalong, Ortsgemeinde und übergemeindliche Arbeit im Konflikt. Eine Analyse der Argumentationen und ein alternatives Modell, Göttingen 2003
    - Verband-Leitbild: Leitbild – Pfarrerinnen und Pfarrer in der Gemeinde, hg. von Verband der Vereine Evangelischer Pfarrerinnen und Pfarrer in Deutschland e.V., Beilage zum DtPfrBl 2001
    - EKBO-Leitbild: Pfarrerin und Pfarrer als Beruf. Ein Leitbild für die Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg mit einer Musterdienstvereinbarung für den Pfarrdienst, hg. von Wolfgang Huber, Berlin 2. Aufl. 2004
    - Personales Modell: Michael Klessmann: Pastoralpsychologie. Ein Lehrbuch, Neukirchen-Vluyn 2. Aufl. 2004, S. 538-575
    - EKHN-Berufsbild: Perspektiven des Pfarrberufs. Ein Diskussionspapier zur Konsultation in der Evangeli-schen Kirche in Hessen und Nassau, im Auftrag erarbeitet von der Projektgruppe »Berufsbild des Pfarrers/der Pfarrerin« unter dem Vorsitz von Dr. Sigurd Rink, Propst für Süd-Nassau, Darmstadt 2005 (Konsultationspapier im Internet: http://www.ekhn.de).
6    Die detaillierte Analyse findet sich in Dieter Becker (2007), vgl. Anm. 1, Kap. 4, S. 135-186.
7    Als federführender Initiator der EKHN Befragung, sowie als ausführender Kooperationspartner der beiden anderen Befragungen liegen mir die Rohdaten aller Befragungen vor. Daten und deren Quellen finden sich: 1. EKHN unter http://www.pfazi.de, Dieter Becker/Richard Dautermann: Pfarrberuf im Wandel, Frankfurt, 2. Auflage 2001 sowie dies. (hg.), Berufzufriedenheit im heutigen Pfarrberuf, Frankfurt 2005; 2. EKKW unter http://www.ekkw.de/pfarrerausschuss/images/Pfarrerbefragung%20EKKW.pdf; 3. Hannoverschen Landeskirche unter http://www.evlka.de/media/texte/befragung2005.pdf.
8    Peter Höhmann, Professionsbrüche im Pfarrberuf, in: Dieter Becker/Richard Dautermann (hg.): Berufszufriedenheit im heutigen Pfarrberuf, Frankfurt 2005, S. 53–75, S. 57.
9    Volkhard Krech/ Peter Höhmann: Die Institutionalisierung religiöser Kommunikation: Strukturprobleme der kirchlichen Organisation theologischer Professionalität, in: Thomas Klatetzki/Veronika Tacke (hg.), Organisation und Profession, Opladen 2005, 199–220.
10    Zum Konflikt zwischen Parochie und Funktionsämtern siehe Uta Pohl-Patalong, Ortsgemeinde und übergemeindliche Arbeit im Konflikt, Göttingen 2003.
11    Vgl. auch Dieter Becker: Die weibliche EKHN – Beobachtungen zu einem Systemwechsel, in: Hessisches Pfarrblatt 3/2007, S. 79f.
12    Vgl. Becker/Dautermann (2005), vgl. Anm. 1, 138ff.
13    Die Untersuchung der pastoralen Arbeitszeit erfolgte im Frühjahr 2004 im Kirchenkreis Barmen unter Federführung von Karl-Wilhelm Dahm und mir. Über drei Wochen wurden in 15 Minuten-Takten die Arbeitszeiten von 18 Pfarrpersonen (ca. 4200 Stunden gesamt) erfasst und ausgewertet. Die Präsentation der Auswertung ist im Internet unter http://www.agentur-aim.com/Pastorale-Arbeitszeit.pdf verfügbar. Dieter Becker, Karl-Wilhelm Dahm, Friedericke Erichsen-Wendt (Hg.): Arbeitszeiten im heutigen Pfarrberuf, Frankfurt a.M., erscheint vorr. am 17.12.2008
14    Höhmann/Krech (2005), vgl. Anm. 8, S. 205f.
15    Vgl. Astrid Dinter, Hans-Günter Heimbrock, Kerstin Söderblom (Hg.), Einführung in die Empirische Theologie, Göttingen 2007; Ingolf Dalferth, Evangelische Theologie als Interpretationspraxis – Eine systematische Orientierung, Leipzig 2004; Dieter Becker (2007), Anm. 1, Kap.2, S. 23-88.
16    Wolfgang Marhold u.a.: Religion als Beruf, Band 1: Identität der Theologen, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1977; Band 2: Legitimation und Alternativen, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1977, S. 10. Diese damals so exklusive Betonung der Besonderheit des Berufstandes des »Theologen« mutet im Horizont heutiger Mitarbeitermodelle für Unternehmen antiquiert an. Diese Identifikationsfrage hat heute für jeglichen Beruf und jegliche berufliche Betätigung Allgemeingültigkeit.
17    Wolfgang Marhold: Die soziale Stellung des Pfarrers. Eine sozialgeschichtliche und empirisch orientierte Skizze, in: Martin Greiffenhagen (Hg.): Das evangelische Pfarrhaus. Eine Kultur- und Sozialgeschichte, Stuttgart, 2. Aufl. 1984, S. 175-194, 192.
18    Dieter Becker, Kirchentheorie – Geschichte und Anforderungen eines neueren theologischen Begriffs, in: Pastoraltheologie 2007, Heft 7, S. 274-290.        ■

Über die Autorin / den Autor:

Dr. Dieter Becker, Jahrgang 1963, Pfarrer der EKHN und freier Strategieberater für Wirtschaftsunternehmen, Promotion an der Evang.-Theol. Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster mit einer Arbeit über kirchliche Personalplanung für den Pfarrberuf (»Pfarrberufe zwischen Praxis und Theorie«, Frankfurt/M. 2007).

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 10/2008

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