In einem Fortbildungsprospekt der Evang. Kirche in Hessen und Nassau fiel mir ein Titel ins Auge, der mich interessierte: »Lyrik und Religion – Transzendenz im Gedicht«. »Die Lyrik ist eine Zwillingsschwester der Religion. Beide haben sich etwas aus den Augen verloren«, lese ich da. Und dann wird versprochen, dass sich in der Fortbildungsveranstaltung »die ›Schwestern‹ begegnen.«
Natürlich freue ich mich über ein solches Angebot. Einer wie ich, der sich seit 25 Jahren als Theologe und Schriftsteller begreift. Der es über all die Jahre geschafft hat, nicht nur zu predigen und zu unterrichten, sondern auch zu schreiben: Lyrik und Prosa und manchmal auch etwas für den Gebrauch in der Gemeinde. Ja, ich bin ganz unbedingt der Meinung, dass Lyrik und Religion viel miteinander zu tun haben. Die Theologie – so sagt sie es jedenfalls – rechnet mit der Wirkung des Wortes. Und die Lyrik muss sich womöglich in noch stärkerem Maße auf das Wort verlassen.1
Vielleicht könnte ich an dieser Stelle ein paar Worte über die eigene Lyrik verlieren, aber das will ich nicht. Muss nicht Werbung machen für die eigenen Gedichte. Wenn sie gut sind, werden sie sich irgendwann durchsetzen (sagen die Kritiker). Wenn nicht, nimmt der Fluss sie mit. So what? Aber plötzlich bin ich wieder in dieser elegischen Stimmung, aus der (meine) Gedichte entstehen. Auf einmal öffnet sich die Tür zu den eher verborgenen Räumen, die nicht immer offen stehen. Also beschließe ich, noch ein wenig zu flanieren. Mich reizt es, dem Wort auf die Spur zu kommen. Oder genauer gesagt: Dem Wort als Gedicht. Dem Wort, das mich verzaubert und manchmal schlicht wehrlos macht. Ich möchte wissen, was mich da eigentlich trifft. Und womöglich auch, ob Lyrik und Religion wirklich Zwillingsschwestern sind.
Und da stehe ich nun in einer endlosen Flucht von Räumen, sehe viele Türen abgehen, an jeder Tür ein anderer Name und muss mich entscheiden. In welche Tür trete ich ein? In die Tür, an der »Paul Celan« steht? Lieber nicht; der ist mir heute zu schwierig. In die andere Tür mit der Aufschrift »Ted Hughes«? Schon eher möglich. Aber zunächst flaniere ich vorbei. Zurückkommen kann ich immer noch. »Michael Krüger« lese ich an einer weiteren Tür und an den folgenden »Derek Walcott«, »Geoffrey Hill«, »Harald Hartung« und »Christoph Meckel«. Bei fast allen zögere ich. Soll ich eintreten? Aber dann sehe ich eine Tür, an der hängt das Schild »Wulf Kirsten.« In dem Moment weiß ich, die ist es. Dort werde ich gleich hineingehen. Mal sehn, was Wulf Kirsten mir zu sagen hat. Hier eines seiner Gedichte, das ich besonders mag.

Wetterwinkel

morgen schon oder heute, wer will wissen,
nimmt sich das brecheisen selbst
in die hand, dann wird die wahrheit, was
denkst du in vier teile zerschlagen,
nun singe im haus, sag was du willst,
spring über stoppeln, lauf barfuß,
der ährenkranz ist schon gebunden,
die garben gebracht und liegen zuhauf
vor dem altar, bald heult
ein wütender wind ins rohr und beutelt
die schiefer, wer weiß, ob dann
der himmel noch zu seinem wort
steht und die säulenschäfte der kumthalle
nicht im handumdrehn pappenstiele
sein läßt, was nicht alles hat er schon
leichtfertig zerbröselt, wenn er wild
auffährt mit siebenschneidigen
wolkengesichtern, wenn er zornig
auftrumpft und im feuereifer den grün-
geschuppten jammernestern ein vater-
unser nach dem anderen durch die sparren
bläst, jede bruchsteinmauer kalligraphisch
aufgemauert, mit weltgewichten schwer
behängt2

Wow, denkt man, wenn man den Parforceritt endlich hinter sich gebracht und nicht vom Pferd gefallen ist. Diese Sprache hat Kraft, sie schüttelt einen durch, und ob man nun will oder nicht: man kann nicht absetzen, sondern galoppiert über Stock und Stein, obwohl man über Worte wie »Kumthalle« oder »grüngeschuppte Jammernester« stolpert und erst einmal nachdenken will, was um des Himmels willen man da gerade gelesen hat. Aber dann reißt das Gedicht einen doch wieder fort und man kann erst am Ende wirklich aufhören.
Wulf Kirsten beschwört hier seine Kindheit im ländlichen Sachsen. »Wetterwinkel« heißt das Gedicht und ich empfinde es jedes Mal, wenn ich es lese, wieder wie ein fahrendes Wetter. Schon der dramatische Rhythmus lässt aufhorchen; nicht einen Punkt gibt es in dem Gedicht, sondern es besteht aus einem einzigen Satz. Ja tatsächlich, es kommt wie ein Unwetter daher, und man möchte sich ducken vor seiner Gewalt. Dabei scheint sich ja zunächst sogar so etwas wie ein idyllischer Ton einzuschleichen; »Heimat« kommt in den Blick mit Ährenkranz und barfuß über die Felder laufen. Aber man darf sich davon nicht täuschen lassen; schon der Anfang mit dem Brecheisen, das sich selbst in die Hand nimmt, lässt ahnen, dass wir hier keinen Spitzweg, ja nicht einmal einen Caspar David Friedrich zu erwarten haben. Eigentlich ein Naturgedicht, aber mit irritierenden Einsprengseln; warum, z.B. wird die Wahrheit in vier Teile zerschlagen? Und gleich darauf der Befehl: »nun singe im haus«.
Geradezu unglaublich, wie hier verdichtet wird. Wie hier Bilder gefunden werden für … ja, was eigentlich? Eine reale Landschaft? Eine Landschaft, die sich sogar zuordnen lässt? Vermutlich doch für Klipphausen, etwas westlich von Dresden, wo Wulf Kirsten seine Kindheit verbrachte. Aber die Worte gehen weit über die Beschreibung einer realen Landschaft hinaus. Eher schon sind es die Bilder einer Landschaft, eingewurzelt in einer Seele, die eine geradezu unglaubliche Ausdrucksfähigkeit besitzt. Einer Seelenlandschaft, die durch innere oder äußere Ereignisse stark bedroht ist.
Was könnten Theologen lernen von einem Lyriker wie Wulf Kirsten. Vor allem könnten sie lernen, wie weit Sprache reicht. Was für Möglichkeiten sie bietet, Mensch-Sein zu erforschen. Gut, es gibt die Christen, denen die Formeln reichen. Es gibt die, die Angst haben vor allem, was neu gesagt wird. Es gibt genug Gläubige, denen die Formeln des Glaubensbekenntnisses oder der Tradition reichen. »Ich glaube an Gott den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde.« »Jesus Christus – gestorben für unsere Sünden«. »Wahrhaftiger Gott, vom Vater in Ewigkeit geboren und wahrhaftiger Mensch von der Jungfrau Maria geboren«. An diesen Formeln halten sie fest – ein Leben lang. Wehe dem, der es wagt, sie zu hinterfragen. Der womöglich sogar andeutet, sie könnten mit der Zeit nicht nur eine dicke Patina angesetzt, sondern weitgehend ihren Inhalt verloren haben.
Sie wissen gar nicht, welcher Reichtum ihnen entgeht, wenn man sich unbefangen den biblischen Bildern und Geschichten aussetzt. Nur ein Beispiel: Ich habe vor einiger Zeit mit Schülerinnen und Schülern der 12. Klasse die Paradiesgeschichte besprochen. Es ging um die Frage, was eigentlich das so schwierige Wort »Sünde« bedeutet. Wir lasen den Text, ich ließ die Schüler unterstreichen, was sie nicht verstehen; anschließend schrieb ich ihre Fragen an die Tafel. Eine Frage hieß: Warum schafft Gott die Schlange und den Menschen? Und warum pflanzt er auch noch den »Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen« in den Garten? Ist er naiv? Kennt er die Neugier der Menschen so wenig? Im Anschluss ließ ich die beiden Fragen in Arbeitsgruppen bearbeiten. Eine Gruppe kam zu der Auffassung, Gott habe ein Experiment mit dem Menschen angestellt, und dieses Experiment sei leider schief gegangen. Dennoch sahen sie Gott nicht als Spieler an, sondern meinten, immerhin habe er dem Menschen die Freiheit gegeben zu wählen. Das rechneten sie ihm hoch an. Die andere Gruppe meinte, die Geschichte sei weniger aus der Perspektive Gottes als aus der der Menschen geschrieben. Sie solle erklären, warum es Leid und Tod in der Welt gebe.
Wohlgemerkt: Es war das erste Mal, dass wir die Geschichte vom »Sündenfall« behandelten und ich hatte außer dem Text keine weiteren Informationen gegeben. So weit kann man kommen, wenn man unvoreingenommen an einen Text herangeht, ohne den Ballast der vorgestanzten Begriffe.
Was das alles mit der Beschäftigung mit Lyrik zu tun hat? Nun, ich denke, diese Beschäftigung mit nicht ganz einfachen Texten lehrt nicht nur das geduldige Hinschauen sondern auch die Offenheit gegenüber einem Text. Man kann eine Menge aus ihm lernen, wenn man ihn nicht gleich in eine Schublade steckt. Nicht zuletzt über die Möglichkeiten des Mensch-Seins. An dieser Stelle reichen sich Lyrik und Religion die Hand.
Aber zurück zur Lyrik. In Kirstens Band »Wettersturz« habe ich ein Gedicht gefunden, das im Grunde selbst schon so etwas wie ein »Glaubensbekenntnis« ist und das m.E. mehr über das Verhältnis von Wort und Leben sagt als gelehrte Kommentare über Lyrik oder Glauben.

Poesie

wenn tod, wenn grab,
dann kommt uns nicht,
was ist das: poesie,
die hingabe ans wort
das feuer, das in den worten brennt,
der stachel, der schmerzhaft einsticht,
wenn er auch blindlings trifft,
die trauer aller dinge, auch
wenn sie gar kein gesicht haben,
aus dem zu lesen wäre, die aber tot
sind und leben und wie verrückt
anfangen zu leben, in jeder zeile
sich forttragen, in jeder faser
vibrieren und wissen, was es heißt,
schweigen in schwermut, schweigen
für immer, wenn tod, wenn grab,
viel zu jung sterben die dichter
in Polen.3

Auch wenn es vermutlich ein Zitat ist, das ich nicht zuordnen kann, so glaube ich Wulf Kirsten doch keine Sekunde, dass er nur die Dichter in Polen meint. Dieses Gedicht spricht mit einer solchen Lebendigkeit, dass man fast den Atem anhält. Poesie bringt »die trauer aller dinge auch wenn sie gar kein gesicht haben« zur Sprache. Wer sich ihr aussetzt, der spürt allerdings das »feuer, das in den worten brennt.« Ein Gedicht über die Intensität, die Leben haben könnte, die Leben manchmal hat, über die Vergänglichkeit, sogar über Auferstehung und was sie bedeuten könnte; dieses Gedicht vibriert geradezu von einer ungeheuren Energie. Wenn man so lebt, wenn man so leben kann, dann allerdings kommt der Tod immer zu früh, gleich ob man mit 23 oder mit 80 Jahren stirbt.
Ob man biblische Texte auch so deuten kann? Auch die Bibel spricht ja vom Leben angesichts des Todes. Ja sogar vom Leben, das durch den Tod hindurchgeht und von ihm nicht vernichtet werden kann. »Ewiges Leben« nennt das das Neue Testament. Hier könnte man nun auf die Texte des Johannes­evangeliums eingehen, die ja manchmal dogmatisch und formelhaft anmuten, und hinter denen doch – wenn man sich eingehender mit ihnen beschäftigt – so viel Leben steckt. »Das Wort ward Fleisch« heißt es dort. Oder man könnte über »Auferstehung« nachdenken und bekäme vielleicht ein ganz neues Gefühl dafür, welche Dimensionen ein solches Wort hat oder haben kann.
Aber das würde nun endgültig die Grenzen eines Essays über »Lyrik und Religion« sprengen. Deshalb hier nur so viel: Ich denke, dass die Theologen von den Lyrikern lernen können, was das heißt: »Das Wort ward Fleisch.« Manchmal sind unsere Predigten ja eher Stroh als Nahrung für die Seele. Dass sie lebendig werden, so lebendig wie Gedichte von Wulf Kirsten, kann man ihnen nur wünschen.
Womöglich wäre es also gar nicht so schlecht, wenn Theologen – seien es Professoren, Pfarrer oder Religionslehrer – sich mit anspruchsvollen Gedichten beschäftigen würden. Sie brauchen ja nicht gleich anzufangen, welche zu schreiben.


Anmerkungen:

1    An dieser Stelle werden zumindest die Pfarrerinnen und Pfarrer aufschreien, da sie doch gelernt haben, wie wichtig die Verkündigung des Wortes im Gottesdienst ist. Ich will hier das Thema nur streifen, aber als jemand, der Sonntag für Sonntag Gottesdienst hält und ansonsten auch Gedichte schreibt, wage ich zu behaupten, dass es den Lyriker ungleich mehr Anstrengung kostet, ein Gedicht zu schreiben als den Pfarrer, eine Predigt zu konzipieren. In der Predigt wird man schon mal fünf gerade sein lassen. Schon allein deshalb weil die Predigt am Sonntag ja »stehen« muss. Beim Gedicht wird jeder Lyriker, der etwas auf sich hält, den Kompromiss scheuen wie der Teufel das Weihwasser.
2    Wulf Kirsten, »Wettersturz«. Gedichte, Zürich 1999, S. 17.
3    Wulf Kirsten, a.a.O., S. 82.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 10/2008

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