5. Die Bibel zeigt den Weg von der Sinnsuche zum Glaubensvollzug
Die Auswahl eines Textes wird im Unterrichtsgeschehen an der Zielgruppe orientiert. Lebensfragen sind als Ausgangspunkt religiöser Sinnsuche ernst zu nehmen. Schon bei der Wahl eines großen Textes aus der Bibel ist eine Auswahl nötig. Die Alternative zum reinen Bibelunterricht als Lektüre ist die thematisch bestimmte Auswahl eines Textes. Auch diese Methode ist durchaus sinnvoll, aber nur als Alternative und Ergänzung, sozusagen um nach einer breiten Lektüre mal an einer Stelle genauer hinzusehen. Da die Wahl der Themen auch durch Lehrpläne einigermaßen vorgegeben ist, ist es die Frage, was denn die Jugendlichen wohl in erster Linie interessiert, voraussetzend, dass der Unterricht auch Spaß machen soll. Hier bietet sich z.B. der Begriff des »Lebensstils« an. »Das religiöse Interesse ist vorrangig gerichtet auf eine integrale Lebensdeutung. Deshalb dokumentiert es sich in der Formierung von Lebensstilen. … Lebensstilfragen sind aktuell. ›Lifestyle‹ ist angesagt. … Die Suche nach einem Lebensstil ist die Suche nach einem gesteigerten Selbstverhältnis, nach einer vertieften Beziehung zu sich, nach einer Sinnperspektive, nach einer Lebensform. … Hinter der Suche nach dem Lebensstil, sei dies nun ein bewusst christlicher oder überhaupt nur der eigene, verbirgt sich die Suche nach Sinn, nach Religion somit auch, nach Kontakt mit einer umfassenderen Wirklichkeit und deren zeichenhafter Symbolisierung.« (Wilhelm Gräb)29 Dieser Lebensstil integriert bereits religiöse Aspekte. Das religiöse Bewusstsein der Jugendlichen, so schwach es auch ausgebildet sein mag, ist wichtiger als jede fertige Antwort. Der Unterricht ist ein gemeinsamer Suchweg, auf dem der Unterrichtende nicht nur als der Wissende erscheint. Dazu bietet es sich gerade zu an, einen neutralen Dritten hinzunehmen, was in unserem Fall der Bibeltext ist. Jede Selbst-Suche ist im Grunde davon geprägt, dass ein tragendes Fundament vorausgesetzt wird, es sei denn, es ist pathologisch gestört und die Person bedarf therapeutischer und seelsorgerlicher Begleitung.30 »Lies die Geschichten von Jesus, von dem, was er gesagt, getan und erlitten hat: Er hat sich denen zugewandt, die sich selbst nicht mehr helfen, nichts mehr aus sich machen konnten und auch nicht mehr wollten. Sieh den Gekreuzigten. In seiner Schwachheit, ja Ohnmacht liegt dein Heil. Wie das? Indem du dich dann gerade nicht mehr von deinem mehr oder weniger redlichen Bemühen her verstehen musst, etwas aus dir und einem Leben zu machen, dir Anerkennung zu verschaffen, dich in Szene zu setzen, ästhetisch, moralisch, religiös, ökonomisch. Die Perspektive deiner Selbst- und Weltdeutung kann eine andere werden. Du vertraust nicht mehr nur dir selbst, baust nicht allein auf deine Lebensleistungen. Du lebst aus der Tiefe eines Grundvertrauens, aus dem dir die Freiheit zur Selbstverantwortung für deine Lebensentwürfe wächst. Deine unwahrscheinliche Freiheit gründet im dir transzendenten, dich aber auf unbegreifliche Weise tragenden Lebensgrund, in Gott. Sie wächst dir von dort her zu. Das heißt christlich Glauben. Dann begreifst du dein ganzes Leben als unverdientes Geschenk.« (Wilhelm Gräb)31 Diese anthropologischen Grundfrage bestimmt also zunächst die Frage nach der Auswahl von Texten. Das kann auch in der Urgeschichte Genesis 1–11 auf alttestamentliche bestimmte Weise erarbeitet werden. Der Ursprung der Vielfalt des Lebens liegt in Gott. Der andere Mensch tritt als Konkurrent auf, die Gefahr der Gewalt kommt auf. Die Ergebnisse des menschlichen Trachtens sind oft sehr das Gegenteil von dem, was zunächst gewollt ist. Es gibt die Möglichkeit das gemeinsame Leben durch eine Ordnung zu sichern, die die Bibel auf die Bundesverheißung Gottes bezieht z.B. Regenbogen als Bundeszeichen. Methodisch ist darauf zu achten, dass der oder die Unterrichtende als Person vorkommt. Die geschieht natürlich vor allem im Gespräch. Doch auch die Form der freien Erzählung sollte wieder neu entdeckt werden, und das gerade nicht nur wie eine Märchenstunde für die Kleinen. Die Kunst der Bibel besteht ja darin hoch brisante Lebens- und Glaubensfragen in Erzählform zu transportieren, was ein literarischer Anspruch ist. Doch Erzählung eröffnet auf einzigartige Weise den Zugang zu Erfahrung und ist daher unverzichtbar.32 Erzählung ist immer ein kommunikativer Vorgang und vermittelt neben den explizit ausgesprochenen Worten immer auch implizite Informationen, die ebenfalls mit verarbeitet und behalten werden. Er wird nicht ohne Spannung und Überraschung auch auf spontaner Ebene auskommen und wird den Unterricht auf jeden Fall anregen und bereichern.33
6. Die Bibel und aktuelle Lebensfragen
Der Erfahrungshintergrund ist vielfältig, je nach den Kategorien, nach denen man fragt: Er ist entwicklungsbezogen zwischen Jugendalter und Partner-/Berufswahl (Freiheit und Bindung), gesellschaftsbezogen (Umgang mit Fremden, soziale Fragen, Politik) oder konkret auf den Zusammenhang der Lebenserfahrung im Bereich Arbeit und Wirtschaft. Für die Beantwortung solcher Fragen ist die Stellungsnahme exemplarischer Zeugen wichtig, die ihre Lebens-Themen als Christ bzw. Christin bewältigen. Diese Beispiele lassen sich über Medien präsentieren und auswerten oder aus dem örtlichen Umwelt heranziehen, indem man Personen des öffentlichen Lebens oder des Berufsalltags in den Unterricht einlädt. In manchen Unterrichtsformen sind in diesem Zusammenhang auch regelrecht Praktika möglich.
Die Teilnehmer des Unterrichts, die Unterrichtenden eingeschlossen, sind nach moderner/postmoderner Auffassung Menschen, die »versuchen ihre eigene Geschichte zu schreiben.«34 Das narrative Material der Bibel kann ein Fundus dafür sein. Die Unterrichteten werden sich dann natürlich auf die Frage einlassen müssen, ob sie den religiösen Kontext der biblischen Texte als für sie gültig akzeptieren, denn die meisten Texte der Bibel teilen implizit mit, dass die Bindung Gottes an die menschliche Lebenswelt das Grundverständnis des eigenen Lebens bedingt. Doch davon einmal ausgehend, dass die Bibel schlicht auch mit diesem Grundverständnis a priori identifiziert wird, sollte der Unterricht den Fragen entgegenkommen, die aus der Lebens- und Alltagswelt im Raum sind. Für den Religionsunterricht gilt, was Jürgen Habermas für die private Existenz der religiös gläubigen Menschen in der Gesellschaft postuliert, dass sie nämlich »ihre religiösen Überzeugungen in eine säkulare Sprache übersetzen müssen«, um dadurch indirekt dazu beizutragen, dass »sich auch die säkulare Seite einen Sinn für die Artikulationskraft religiöser Sprachen bewahrt«.35 Um dies genauer bestimmen zu können, ist ein Blick in die jeweiligen Lehrpläne und Richtlinien nötig. Dabei ist der Lebens- und Handlungsbezug des Unterrichts im Blick. Folgende Aspekte können z.B. dabei beim Unterricht in einem Berufskolleg im Blick sein:
– Mein Werdegang von der Kindheit bis heute.
– Einflüsse von Außen, bzw. aus dem Elternhaus zur Berufswahl.
– Die eigene Einschätzung der eigenen Leistungsfähigkeit, des eigenen Wertes, abhängig und/oder unabhängig von der Bewertung durch andere.
– Umgang mit Autoritäten, Umgang mit Gleichgestellten.
– Ethische Dilemmata.
– Mein Verhältnis zu Geld, Besitz und Einkommen.
– Sinn der Arbeit, Sinn des Lebens.
– Verhältnis von Arbeit und Freizeit.
– Lebensperspektive, Zukunftsperspektive.36
Diese lebenspraktischen Aspekte sind situationsbezogen und nicht ohne konkrete Beispiele denkbar. Diese wollen und können erzählt werden. In der Religionspädagogik wird der Wert solcher Erzählung sehr hoch angesehen: »Die Fähigkeit zu erzählen, Erzählungen anderer zu verstehen und sich selber als erzählendes Selbst wahrzunehmen, entwickelt sich aus der Geschichte lebenslangen Lernens. … Geschichten helfen uns, uns zu erinnern, und im Akt der Erinnerung verstärken wir unsere emotionalen und moralischen Verpflichtungen, die wir jenen Gruppen und Größen gegenüber empfinden, denen wir unser Selbst verdanken. Geschichten sind geradezu ein bevorzugtes Medium, in dem wir auch das »Anderssein des anderen« wahrnehmen, respektieren und ins einer Bedeutung für unser gemeinsames Verbundensein darstellen können.«37 Die Erfahrung der Jugendlichen ist im Unterricht präsent, sie wird erzählt, durchdacht und auf die Fragen des Lebens hin reflektiert. Von unserer Fragestellung her nach der Rolle der Bibel im Unterricht scheint es, als sei dies ohne Bibel zudenken. Doch was wäre dies dann mehr als Erfahrungsaustausch, bestenfalls als gegenseitige Beratung einer TZI-Gruppe vergleichbar. Dass die Bibel exemplarische Situationen und Diskurse für die betreffenden Lebensfragen bereit hält, dürfte außer Frage stehen.
Bei der Entdeckung eines Ganztextes ließe sich da gut auf Entdeckungsreise und auch ein aktueller Lebensbezug herstel-len. Andererseits könnte man natürlich auch gezielt Texte auswählen und etwa
mit der Methode der Rollenübernahme bearbeiten. Dabei werden die eigenen Probleme zunächst etwas distanzierter behandelt, zum anderen wird zu den aktuellen Lebensfragen der religiöse Bezug hergestellt. Interessant sind immer auch Beispiele aus der Werbung, die oft gerade dann, wenn sie religiöse Motive verwenden, einen bestimmten Produktbezug herstellen.38 Zum Abschluss möchte ich einige Bibeltexte zu aktuellen Lebensthemen nennen:
– Reichtum und Lebensstil: Vom reichen Jüngling (Markus 10, 17–27)
– Konflikte: 1. Korintherbrief
– Gewalt: Bergpredigt (Matthäus 5, 38–48), Kain und Abel (1. Mose 4, 1–16)
– Verständigung: Pfingstgeschichte (Apostelgeschichte 2)
– Erste Hilfe unter Fremden: Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lukas 10, 25–37)
– Stressbewältigung: Sturmstillung (Markus 4, 35–41)
– Vorurteile: Zachäus (Lukas 19, 1–10)
– Generationenkonflikt: Vom verlorenen Sohn (Lukas 15, 11–32)
– Ehebruch: David und Bathseba (2. Samuel 11, 1–12, 25)
– Sexualität: Das Hohelied
– Politik: Amos
– Besitz: Vom reichen Kornbauern (Lukas 12, 16–21), Gütergemeinschaft in der Urgemeinde (Apostelgeschichte 4,32–37)
– Marketing: Aussendung der Jünger (Matthäus 10, 5–15)
– Religion: Abendmahl, Taufe
– Tod und Krise: Hiob
– Tod und Trauer: Paulus im 1. Korinther 15.
Anmerkungen
1 Vgl. Bibeldidaktik in der Postmoderne. Hrsg. G. Lämmermann u.a. Stuttgart 1999, im Folgenden zitiert als »Bibeldidaktik«; zu »Religion« siehe besonders Gianni Vattimo. Die Spur der Spur. In: Die Religion. Hrsg. Jacques Derrida und Gianni Vattimo. Frankfurt/Main 2001. Auch Jürgen Habermas, der kein philosophischer Vertreter der Postmoderne ist, stellt in seinern Frankfurter Rede 2001 dar, unter welchen Voraussetzungen sich Religion in der modernen Gesellschaft artikuliert und dass es gerade die Leistung derer ist, die sich religiös orientieren, dass sie einen ständigen Übersetzungsprozess zwischen religiöser und säkularer Sprache zu vollziehen haben. Seine eigenen Formulieren zeigen die gebotene Spannung ebenfalls, z.B. in dem Satz: »Es gibt den Teufel nicht, aber der gefallene Erzengel treibt nach wie vor sein Unwesen.« Jürgen Habermas. Glauben und Wissen. Frankfurt/Main 2001 S. 24.
2 Suchen. Und Finden. Das Magazin zur Bibel. Herausgegeben von der Aktion »2003. Das Jahr der Bibel.« Stuttgart. S. 2.
3 Johann Hinrich Claussen. Stachel im Fleisch. Zeitzeichen. Berlin 1/2003 S. 32.
4 W. Gräb. Die Pluralisierung des Religiösen in der »Postmoderne« als Problem der »Bibeldidaktik«. In Bibeldidaktik A.a.O. S. 185.
5 Ulrich Wilckens. Irrwege der Vernunft. Zeitzeichen. Berlin 1/2003 S. 35
6 vgl. Johannes Lämmermann. Die Buch interreligiösen Lernens. In: Bibeldidaktik ... S. 281.
7 Vgl. dazu Ingo Baldermann. Einführung in die Biblische Didaktik. Darmstadt 1996.
8 Johannes Lämmermann. Die Bibel als Buch interreligiösen Lernens. Bibeldidaktik a.a.O. S. 281.
9 Martin Luther. Vom unfreien Willen. In: Luther deutsch. Der neue Glaube.1961, S. 163ff
10 Ingo Baldermann. Einführung … a.a.O. S. 2f.
11 ebd. S. 9.
12 zitiert von Chr. Morgentaler. Bibeldidaktik. A.a.O. S. 93.
13 Maurice Baumann. Bibeldidaktik als Konstruktion eines autonomen Subjekts. In Bibeldidaktik. A.a.O. S. 41.
14 Wilhelm Gräb. Die Pluralisierung des Religiösen …. a.a.O. S. 186.
15 Ernesto Cardenal. Das Evangelium der Bauern von Solentiname. Gütersloh 1979, Band 1–4.
16 Bibel – Teilen. Hrsg. Von Missio. Aachen 1986. auch: Das Ideenheft zum Jahr der Bibel 2003. Stuttgart 2002. S. 50.
17 Ingo Baldermann a.a.O. S. 168.
18 Klaus Wegenast. Glauben erfahren. In: Lern – Schritte. A.a.O. S. 164.
19 zu weiteren Methoden: Gottfried Adam, Rainer Lachmann. Methodisches Kompendium für den Religionsunterricht. Göttingen 1993, Franz Wendel Niehl, Arthur Thömmes, 212 Methoden für den Religionsunterricht. München 1998, Irmintraud F. Eckard. Bibel kreativ. Düsseldorf 2000.
20 Jugend 2000. Band 1. hg. Deutsche Shell. Opladen 2000, S. 20.
21 ebd. S. 164.
22 ebd. S.168.
23 ebd. S.171.
24 ebd. S. 176f.
25 Die Jugendarbeit selbst fristet ein Nischendasein. Sie kommt der Grundeinstellung der Jugendlichen weitestgehend entgegen, indem sie in der Hauptsache eher sozial als religiös agiert. Da sie aber mit Kirche als dem Raum ihrer Arbeit identifiziert wird, hat sie trotzdem wenig Zulauf. dazu: Johannes A. van der Ven. Das religiöse Bewusstsein von Jugendlichen und die Krise der Jugendpastoral. In: Bibeldidaktik … a.a.O. S. 150f. van der Ven unterscheidet: Intern-sozial ausgerichtete Aktivitäten, extern-sozial ausgerichtete Aktivitäten, moralische Aktivitäten, religiöse Aktivitäten und kirchlich ausgerichtete Aktivitäten.
26 Johannes Lähnemann. Die Bibel – ein interreligiöses Buch. In: Bibeldidaktik … a.a.O. S. 284.
27 Klaus Wegenast. Glauben erfahren. A.a.O. S. 158.
28 Wilhelm Gräb. Lebensgeschichten Lebensentwürfe Sinndeutungen. Gütersloh 1998. S. 112.
29 Wilhelm Gräb. In: Die Pluralisierung … a.a.O. S. 190f.
30 zu Depression im Jugendalter: Bei Verdacht auf Depression sollten die örtlichen Beratungsstellen oder ein Fachpsychiater für Kinder – und Jugendpsychiatrie herangezogen werden.
31 Wilhelm Gräb. In: Die Pluralisierung … S. 192f.
32 siehe Klaus Wegenast in: Glauben erfahren. A.a.O. S. 160f.
33 zur Kognitionspsychologie betreffend von Erzählungen: Matias Martinez, Michael Scheffel. Einführung in die Erzähltheorie. München 1999, S. 149ff.
34 Maurice Baumann. Bibeldidaktik. … a.a.O. S. 41.
35 Jürgen Habermas. Glauben und Wissen. Frankfurt am Main 2001. S. 21f.
36 vgl. dazu: Dietrich Horstmann. Berufsbezug im Religionsunterricht, hier: www.dihorst.de werkh1.htm, auch Werkheft für das Berufskolleg der Ev. Kirche im Rheinland 1999.
37 Christoph Morgenthaler. Subjekt, Story und Tradition. In: Bibeldidaktik a.a.O. S. 94 und 95.
38 Literatur zu Motiven der Werbung: Gerhard Buschmann. Die Bibel in der Werbung. In ru: Ökumenische Zeitschrift für den Religionsunterricht, 32. Jahrgang, Heft Nr. 2/2002, S. 67–70.
Bernd Beuscher. Blaues Wunder zum Verlieben. Über religiöse Motive in der Werbung und die Tragweite von Symbolen. In Zeitzeichen 1/2003 S. 5–52, siehe auch unter: www.glauben-und-kaufen.de
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 7/2004