Kein anderer deutscher evangelischer Theologe des vergangenen Jahrhunderts ist im In- und Ausland heute so bekannt wie Dietrich Bonhoeffer (1906–1945). Dazu trug sicherlich sein Martyrium bei, das er am 9. April 1945 im KZ Flossenbürg in der bayerischen Oberpfalz erlitt. Bonhoeffers Mitarbeit im militärischen Widerstand gegen Hitler war aus seinem christlichen Glauben heraus motiviert. Peter Zimmerling erinnert an den Theologen und Widerstandskämpfer.
Dietrich Bonhoeffers Mitarbeit im militärischen Widerstand gegen Hitler war aus seinem christlichen Glauben heraus motiviert. Immer deutlicher hatte Bonhoeffer in den Jahren seit der Machtübernahme der Nazis erkannt, dass sich das kirchliche Engagement nicht auf die eigenen Belange der Kirche beschränken durfte. Es gab für ihn keine Erneuerung der Kirche mehr ohne ihren selbstlosen Einsatz für die Juden. Bereits 1935 scheint in diesem Zusammenhang sein bekannter Ausspruch gefallen zu sein: „Nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen.“1
Mit der Rückkehr aus Amerika im Sommer 1939 begann Bonhoeffers aktive Teilnahme an der Verschwörung im Rahmen der sog. Abwehr unter Admiral Canaris, eines Amtes, das der Wehrmacht unterstand. Die Verbindung kam durch seinen Schwager Hans von Dohnanyi zustande.2 Bonhoeffer bemühte sich fortan darum, das Handeln der Verschwörer theologisch zu legitimieren. Mehr und mehr wurde er zum geistlichen Gewissen und zum Seelsorger der am militärischen Widerstand gegen das Nazi-Regime beteiligten Männer.
Kriterien verantwortlichen Handelns
In der erst posthum nach dem Krieg erschienenen „Ethik“3 arbeitet Bonhoeffer heraus, dass sich verantwortliches Handeln eines Christen durch vier Merkmale auszeichnen sollte: durch Stellvertretung, Wirklichkeitsgemäßheit, Schuldübernahme und Wagnis. Auf dem Hintergrund der Verschwörung gegen Hitler gelesen, erweisen sie sich als politisch hochbrisant.
1. Stellvertretung
Das stellvertretende Handeln ergibt sich aus dem Vorbild Jesu Christi: „Weil Jesus, – das Leben, unser Leben, – als der Menschgewordene [sic!] Sohn Gottes stellvertretend für uns gelebt hat, darum ist alles menschliche Leben durch ihn wesentlich stellvertretendes Leben.“4 Genau wie Jesus ist jeder Mensch dazu berufen, stellvertretend für andere zu wirken. Das zeigen etwa die Aufgaben, die das Handeln eines Vaters gegenüber seinen Kindern kennzeichnen: Er arbeitet für sie, sorgt für sie, tritt für sie ein, kämpft für sie und leidet für sie.5 Auf das Engagement im Widerstand gegen Hitler angewendet, bedeutet dieser Gedanke: Die Verschwörer haben stellvertretend für andere Verantwortung für Deutschlands Geschick übernommen.
2. Wirklichkeitsgemäßheit
Was versteht Bonhoeffer unter dem Gedanken der „Wirklichkeitsgemäßheit“ verantwortlichen Handelns? Wirklichkeitsgemäß heißt, dass es keine Prinzipien gibt, nach denen verantwortliches Handeln ein für allemal feststünde. „Der Verantwortliche ist an den konkreten Nächsten in seiner konkreten Wirklichkeit gewiesen. Sein Verhalten liegt nicht von vornherein und ein für allemal, also prinzipiell fest, sondern es entsteht mit der gegebenen Situation. Er hat kein absolut gültiges Prinzip zur Verfügung, das er fanatisch gegen jeden Widerstand der Wirklichkeit durchzuführen hätte, sondern er sucht das in der gegebenen Situation Notwendige, ‚Gebotene‘ zu erfassen und zu tun.“6Mit diesen Überlegungen verhilft Bonhoeffer der jeweiligen Situation bei ethischen Entscheidungen zu ihrem Recht. Allerdings unterscheidet sich sein Ansatz von einer reinen Situationsethik darin, dass die Situation bei der ethischen Urteilsfindung nur ein Kriterium unter anderen darstellt. Bonhoeffer will z.B. gleichzeitig unter allen Umständen an der unbedingten Gültigkeit von Gottes Geboten festhalten. „Die gegebene Situation für den Verantwortlichen ist nicht einfach der Stoff, dem er seine Idee, sein Programm aufzuzwingen, aufprägen wollte, sondern sie wird als die Tat mitgestaltend in das Handeln mit einbezogen.“7
Auch die Wirklichkeitsgemäßheit verantwortlichen Handelns begründet Bonhoeffer von Jesus Christus her. Wirklichkeitsgemäß ist ein Handeln nur dann, wenn es „mit der Welt als Welt rechnet und doch niemals aus den Augen lässt, dass die Welt in Jesus Christus von Gott geliebt, gerichtet und versöhnt ist“.8 Darüber hinaus gilt: Wirklichkeitsgemäß ist verantwortliches Handeln, wenn es „in der Begrenzung durch unsere Geschöpflichkeit steht“.9Warum? „[…] weil Gott in Christus Mensch wurde, weil er zum Menschen Ja sagte und weil wir als Menschen, in menschlicher Begrenztheit des Urteils, der Erkenntnis vor Gott und dem Nächsten leben und handeln dürfen und sollen.“10 Unverantwortliches Handeln offenbart sich gerade dadurch, dass es die dem Menschen durch sein Geschaffensein gesetzten Grenzen missachtet.11
Warum das Kriterium der Wirklichkeitsgemäßheit für verantwortliches Handeln gerade im Widerstand unverzichtbar ist, wird auf dem Hintergrund der nationalsozialistischen Diktatur deutlich: Damals versagten alle bis dahin mehr oder weniger fraglos gültigen bürgerlichen Moralvorstellungen und Tugenden. Angesichts des von den Nazis geplanten Völkermords an den Juden konnte die Berufung auf die Einhaltung der Moral nur zynisch wirken, nämlich als Legitimation für das eigene Wegsehen dienen. Nur in freier Verantwortung für das eigene Tun vermochten einzelne Männer und Frauen gegenüber dem staatlichen Unrecht Widerstand zu leisten.
3. Schuldübernahme
Im Hinblick auf verantwortliches Handeln ist ein weiterer Gedanke wichtig: Ein solches Handeln kommt nicht ohne Schuldübernahme aus.12 Auch diesen Aspekt begründet Bonhoeffer vom Tun Jesu Christi her: Christus hat als der Sündlose die Schuld seiner Brüder und Schwestern auf sich genommen und sich gerade unter der Last dieser Schuld als der Sündlose erwiesen. Verantwortliches Handeln besteht für Bonhoeffer darin, in Freiheit das Richtige zu tun – auch wenn es dabei nicht ohne Schuld abgehen kann: dies aber im Bewusstsein der Zusage der Vergebung durch Jesus Christus.
Der Gedanke der „Schuldübernahme“ gewann besonders im Hinblick auf ein mögliches Attentat auf Hitler, aber auch schon im Vorfeld angesichts der angewandten konspirativen Methoden, große Bedeutung. Es war für die Männer des 20. Juli ein schweres Gewissensproblem, in ihrem Widerstand gegen Hitler unweigerlich ständig an den Geboten Gottes schuldig zu werden. In Bonhoeffers „Rechenschaftsbericht nach 10 Jahren“, den er für die Mitverschworenen Eberhard Bethge, Hans von Dohnanyi, Hans Oster verfasste, brachte er Weihnachten 1942, also kurz vor seiner Verhaftung, dieses Dilemma eindrucksvoll zum Ausdruck: „Wir sind stumme Zeugen böser Taten gewesen, wir sind mit vielen Wassern gewaschen, wir haben die Künste der Verstellung und der mehrdeutigen Rede gelernt, wir sind durch Erfahrung misstrauisch gegen die Menschen geworden und mussten ihnen die Wahrheit und das freie Wort oft schuldig bleiben, wir sind durch unerträgliche Konflikte mürbe oder vielleicht sogar zynisch geworden – sind wir noch brauchbar?“13
Die Verschwörer wurden also nicht nur am Tötungsverbot schuldig, sondern übertraten auch eine Reihe anderer Gebote Gottes. Trotzdem gab es für sie keine andere Möglichkeit, wenn sie verantwortlich handeln wollten. Die Lösung, die Bonhoeffer aufging, sah folgendermaßen aus: Unter allen Umständen musste die Gültigkeit der Gebote Gottes gewahrt bleiben. Nach seiner Überzeugung konzentriert sich nämlich Gottes Wort in dessen Geboten. Es konnte daher keine menschliche Entschuldigung für das Übertreten der Gebote geben. Lüge und falsches Zeugnis im Zusammenhang mit der Verschwörung, auch der geplante Mord an Hitler, widersprachen den Geboten Gottes. Derjenige, der die Gebote übertrat, wurde unweigerlich vor Gott schuldig.
Dass Bonhoeffer auch im Rahmen seines konspirativen Handelns an der Gültigkeit der Gebote Gottes festhielt, wird besonders an seinem Schuldbekenntnis erkennbar, das er angesichts der größten militärischen Erfolge Hitlers im Herbst 1940 verfasste. Darin hielt er Hitler-Deutschland anhand der Zehn Gebote einen Spiegel vor – in dem Bewusstsein, dass Deutschland allein durch das Bekenntnis seiner Schuld nach dem Krieg die Chance eines Neuanfangs haben würde.14
Damit ist der Weg angedeutet, auf dem Bonhoeffer die Lösung aus dem Dilemma zwischen der bleibenden Gültigkeit der göttlichen Gebote und der Verpflichtung zu verantwortlichem Handeln sah: Nur im Eingeständnis der Schuld und in der gleichzeitigen Hoffnung auf Gottes Vergebung, auf die Rechtfertigung durch das Leiden und Sterben Jesu Christi, ist Schuldübernahme im Rahmen verantwortlichen Handelns möglich. „Wer in Verantwortung Schuld auf sich nimmt – und kein Verantwortlicher kann dem entgehen – der rechnet sich selbst und keinem anderen diese Schuld zu und steht für sie ein, verantwortet sie […]. Vor den anderen Menschen rechtfertigt den Mann der freien Verantwortung die Not, vor sich selbst spricht ihn sein Gewissen frei, aber vor Gott hofft er allein auf Gnade.“15
4. Wagnis
Das vierte und letzte Kriterium verantwortlichen Handelns besteht im Wagnis.16 Das Kriterium ergibt sich konsequenterweise aus der Freiheit des menschlichen Handelns. Denn ohne die Voraussetzung der Freiheit ist verantwortliches Handeln nicht denkbar. Zudem kann kein verantwortlich Handelnder sämtliche Folgen seiner Entscheidung von vornherein absehen. Schon Nikolaus Ludwig von Zinzendorf hat deshalb die aus dem Glauben folgende Tat folgendermaßen charakterisiert: „… denn es muß immer ein bißchen Treue, immer ein bißchen Wagen dabei seyn, daß es gegläubt heiße.“17
Wirkungen bis in die Gegenwart
Als „guter Deutscher“ wurde Bonhoeffer nach dem Zweiten Weltkrieg zum Brückenbauer zwischen den ehemals verfeindeten Völkern Europas. Seine Teilnahme an der Verschwörung gegen Hitler half verbitterten Ausländern, ihren Hass gegen alles Deutsche zu überwinden. Bonhoeffers theologische Überlegungen zum Widerstand gegen staatliches Unrechtshandeln haben die Widerstandsbewegungen gegen das Apartheidregime in Südafrika18 genauso wie das Engagement der Solidarnosc gegen den Staatskommunismus in Polen19 inspiriert.
Dass Bonhoeffer bis heute in der weltweiten Christenheit Beachtung findet, liegt nicht zuletzt daran, dass für ihn die Verantwortung der christlichen Gemeinde für die Gesellschaft immer zwei Brennpunkte besitzt, die nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen. Der eine liegt in der Christusverkündigung: „Eine Verkündigung an die Welt ohne Christuszeugnis, d.h. ohne den allein tragfähigen Grund einer solchen Verkündigung ist für das Neue Testament undenkbar. So ist die entscheidende Verantwortlichkeit der Gemeinde für die Welt immer die Christusverkündigung.“20Der andere Brennpunkt besteht im Engagement für den Nächsten, das im Extremfall bis zum Widerstand gegen ein staatliches Unrechtsregime gehen kann. Auffällig ist dabei der Realismus von Bonhoeffers Überlegungen. Die christliche Gemeinde wird ihre Verantwortung gegenüber der Welt je nach ihrer Stellung und ihren Möglichkeiten sehr unterschiedlich wahrnehmen: „anders wird sie es tun in der Missionssituation, anders in der Situation staatlicher Anerkennung der Kirche, anders in Verfolgungszeiten. Die Missionsgemeinde in der Minorität wird durch volle Konzentration auf die Christuspredigt als Ruf zur Gemeinde sich erst die Bahn brechen müssen, um irgendwie weltlich mitverantwortlich arbeiten zu können; für die staatlich anerkannte Kirche und für die Christen in weltlichem Amt und Verantwortung gehört die Bezeugung des Gebotes Gottes über Staat, Wirtschaft etc. zum Christusbekenntnis. Je mehr die Christen in die Situation nach Apokalypse 13 nicht die am Unrechttun der Welt Verantwortlichen, sondern selbst die Unrecht Leidenden sind, desto mehr wird sich ihre Verantwortung für die Welt nur noch in gehorsamem Leiden und in ernster Gemeindezucht bewähren.“21
Was ist davon zu halten, dass die Anhänger des alten und neuen amerikanischen Präsidenten Trump sich für den Versuch, das Kapitol in Washington gewaltsam zu erstürmen, auf Bonhoeffer berufen? Bei seinem letzten Gespräch mit Bischof George Bell im Mai 1942 in Schweden sagte Bonhoeffer im Hinblick auf die Teilnehmer am Widerstand: „Wir wollen uns nicht der Buße entziehen. Unser Handeln muß als ein ausgesprochener Akt der Buße verstanden werden. Christen wollen sich nicht der Buße oder der Vernichtung entziehen, wenn es Gottes Wille ist, sie über uns zu bringen. Wir müssen das Gericht als Christen ertragen. Wir nehmen das Geschehen als Teil der Buße; bedeutend ist ein Schuldbekenntnis …“22. Schon Bonhoeffers Dringen auf Buße belegt, dass sich Trumps Anhänger zu Unrecht auf sein christlich motiviertes Engagement im Widerstand gegen Hitler berufen. Die Trumpisten missbrauchen Bonhoeffers Widerstand für egoistischen Nationalismus und für die Legitimation von Gewalt gegen eine demokratische Ordnung. Sie übersehen dabei völlig, dass Bonhoeffers Widerstand die Wehrlosen und Schwachen vor dem Unrechtshandeln einer menschenverachtenden Diktatur schützen wollte, und er dabei bereit war, auch die Folgen des Gerichts Gottes über das eigene Handeln zu ertragen.
▬ Peter Zimmerling
Anmerkungen
1 Bethges Vermutung, dass der Ausspruch Bonhoeffers erst im Zusammenhang mit der Reichspogromnacht 1938 gefallen ist, hat sich inzwischen als nicht korrekt herausgestellt (Eberhard Bethge, Dietrich Bonhoeffer. Theologe, Christ, Zeitgenosse. Eine Biographie, Gütersloh 82004, 506, Anm. 28; vgl. auch 685).
2 Bethge, Dietrich Bonhoeffer, 702-705 u.ö.
3 Dietrich Bonhoeffer, Ethik, hg. von Ilse Tödt u.a., Dietrich Bonhoeffer Werke (DBW), Bd. 6, Gütersloh 21998.
4 A.a.O., 257.
5 A.a.O.
6 A.a.O., 260.
7 A.a.O.; Hervorhebungen von P.Z.
8 A.a.O., 263.
9 A.a.O., 267.
10 A.a.O., 268.
11 A.a.O., 269.
12 A.a.O., 275ff.
13 Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg. von Christian Gremmels u.a., DBW, Bd. 8, Gütersloh 1998, 38.
14 DBW, Bd. 6, 125-133. Dieses von Bonhoeffer formulierte Schuldbekenntnis wirkt gerade darin so provozierend, dass es den Dekalog zur Grundlage sozialethischer Reflexion macht, während heute die Normativität des Dekalogs in der sozialethischen Diskussion kaum eine Rolle spielt.
15 A.a.O., 283.
16 Vgl. dazu Wolfgang Huber, Dietrich Bonhoeffer. Auf dem Weg zur Freiheit. Ein Porträt, München 2019, 221.
17 Nikolaus Ludwig von Zinzendorf, Pennsylvanische Reden, Teil 1, 1742, 137, wieder abgedruckt in: ders., Hauptschriften, Bd. 2, hg. von Erich Beyreuther/Gerhard Meyer, Hildesheim 1963.
18 Vgl. Ralf K. Wüstenberg, Bonhoeffer and Beyond. Promoting a Dialogue Between Religion and Politics, International Bonhoeffer Interpretations (IBI) 2, Frankfurt/M. 2008.
19 Vgl. Anna Morawska, Dietrich Bonhoeffer. Ein Christ im Dritten Reich, aus dem Polnischen übertragen und herausgegeben von Winfried Lipscher, mit einem Vorwort von Tadeusz Mazowiecki, Münster 2011.
20 Dietrich Bonhoeffer, Konspiration und Haft (1940-1945), hg. von Jørgen Glenthøj u.a., DBW, Bd. 16, Gütersloh 1996, 454.
21 A.a.O., 555.
22 Zit. nach Jørgen Glenthøj, Tarnung, Konspiration und Haft 1939-1945, in: Rainer Mayer/Peter Zimmerling (Hg.), Dietrich Bonhoeffer: Beten und Tun des Gerechten. Glaube und Verantwortung im Widerstand, Gießen/Basel 1997, 104 (dort auch der englische Text aus dem Tagebuch Bischof Bells im Original).
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 4/2025