Zahlreiche Antijudaismen belasten die christliche Rezeption des Johannesevangeliums. Insbesondere die Bezeichnung der Juden als „Teufelskinder“ in Joh. 8,44 verstört. Helmut Schütz verweist hier auf einen befreiungstheologischen Interpretationsansatz.

 

Beruht Johannes 8,44 auf Wahnvorstellungen oder auf einem erklärbaren Konflikt?

Ton Veerkamp,1 den man der politischen Richtung der Amsterdamer Schule2 zurechnen kann, begann vor 35 Jahren, sich mit dem Johannesevangelium auseinanderzusetzen, als der jüdische Philosoph Micha Brumlik im Jahr 1989 die These vertrat, dass mit ihm innerhalb des jüdisch-christlichen Dialogs „überhaupt nichts“ anzufangen sei. Ausdrücklich bezieht sich damals Brumliks Argumentation auf die in Joh. 8,44 zugespitzte Aussage, wenn er betont, dieses biblische Buch sei „eine Botschaft der Abgrenzung, der Furcht, der Angst und des Hasses … Im achten Kapitel des Evangeliums schließen sich religiöse Urmotive und nur politisch und sozialpsychologisch erklärbare Wahnvorstellungen zu einer konsequenten Satanologie zusammen, die den Juden in einer nicht anders als protorassistisch zu bezeichnenden Doktrin nicht mehr die geringste Chance läßt.“3

Dem widerspricht Veerkamp (TV 442) nicht, „um die These Brumliks zu entkräften“. Vielmehr ist seine Frage im Blick auf Johannes, „ob wir nach allem, was der christliche Antijudaismus in Laufe der Jahrhunderte angerichtet hat, erst recht nach dem Genozid an den Juden in den Jahren 1939-1945, diesen Text überhaupt noch in den Mund nehmen“ können. Denn (TV 1991, 16) der „Antijudaismus, den er zu rechtfertigen scheint, der auf alle Fälle mit ihm gerechtfertigt worden ist, gehört zum Wesen unserer christlichen Tradition, ob uns das nun paßt oder nicht“. Aber Veerkamp will nicht die Botschaft des Johannes auf „Wahnvorstellungen“ zurückführen, mit denen „man sich nicht auseinandersetzen“ kann. Stattdessen ist der „Text als rational verständliches Dokument eines Konfliktes zu betrachten“, der – abgesehen von seiner Wirkungsgeschichte – „vielleicht nicht mehr unser Konflikt sein muß.“

 

Johannes’ „Satanologie“: Kollaboration mit Rom

Welche Konfliktparteien sind in diesem innerjüdischen Streit voneinander zu unterscheiden? Veerkamp sieht „die führenden Kreise des judäischen Volkes auf der einen, die Gruppe um den Verfasser dieses Textes auf der anderen Seite“, wobei er diese Gegner Jesu hauptsächlich mit „den Pharisäern“ gleichsetzt, also der nach dem Judäischen Krieg einflussreichsten jüdischen Partei, aus der das rabbinische Judentum hervorgeht. Inhaltlich geht es in diesem Konflikt nicht um die religiöse Frage, welcher Heilsbringer überweltliche Erlösung vermitteln kann, sondern um die politische Frage der Überwindung der römischen Weltordnung, die im Joh. mit dem Stichwort kosmos houtos, „diese Welt“, umschrieben wird. Sie stellt für den Evangelisten ein neues, nunmehr weltweites ägyptisches Sklavenhaus dar, deren Schicksal mit der Erhöhung des Messias an das römische Kreuz besiegelt ist. Darum ist das Pessachfest nach Veerkamp (TV 81) „im Johannesevangelium immer ‚nahe‘“, jedoch wird es niemals gefeiert: „Pascha ist das aramäische Wort für das hebräische pessach, das große Fest der Befreiung aus dem Sklavenhaus. … Wenn der Messias, ‚das Mutterschaf von Gott her, das die Verirrung der Weltordnung aufhebt‘ (1,29), am Vorbereitungstag des Paschafestes getötet ist, wird das, was das erste Pascha wollte, zur Realität – zur endgültigen Befreiung von jedem Pharao.“

Der Konflikt zwischen messianischen und rabbinischen Juden spielt sich also nach Joh. vor dem viel entscheidenderen Hintergrund der Unterdrückung Israels durch die römische Weltordnung ab (TV1991, 17): „Wer den Rabbi Jeschua aus Nazareth nicht als Messias akzeptiert, gehört zum ‚System‘ (kosmos houtos). Und das ‚System‘ ist nicht die böse, fleischliche Materiewelt an-sich, sondern der (römische) Zustand, in dem die ‚Welt‘ als Raum menschliches Lebens sich befindet. Wenn ­Johannes den diabolos hebr. satan, d.h. also den politischen Gegner zum ‚Vater‘ (und das ist bei Johannes die Schreibweise für ˀelohim, Gott!) seiner judäischen Gegner erklärt und präzisiert: ‚Jener war ein Menschenmörder aus Prinzip, und in Treue hat er keinen Bestand, denn Treue gibt es nicht in ihm‘ (8,43ff), so sagt er nichts anderes als: ‚Ihr habt euch de facto jenem ­menschenmörderischen System wie einem Gott verschrieben …‘.“

So gesehen ist Ton Veerkamp zufolge (TV 442) das Johannes­evangelium „tatsächlich eine Satanologie. Und die ‚Juden‘ von Johannes 8,31-59 sind tatsächlich Kinder dieses Satans. Nur ist der Satan kein Hirngespinst einer krankhaften Metaphysik des Bösen, sondern eine sehr irdische Gestalt: der Kaiser Roms; die ‚Juden‘ sind in den Augen des Johannes diejenigen, die das Begehren dieses Satans … ausführen, indem sie den historischen Kompromiss mit Rom suchten. Sie sind deswegen für Johannes Kollaborateure der Römer. Genau das sah Johannes als Verrat.“

 

Dreht sich die johanneische „Satanologie“ um die Gestalt des römischen Kaisers?

Welche Argumente trägt Veerkamp für die Identifizierung des Satans bzw. Teufels im Joh. mit dem römischen Kaiser zusammen? Zunächst einmal kommt in Joh. 8,44 (TV 217f, Anm. 290) „alles darauf an, das Wort diabolos/ßatansachlich korrekt zu übersetzen. 32mal begegnet die hebräische Wurzel ßatan in der Schrift … 7mal ist der ßataneindeutig ein politischer Gegner (in 1/2 Samuel und 1 Könige); in den Psalmen bedeutet das Verb ßatan ‚befehden‘; die Widersacher sind samt und sonders irdisch. In Sacharja 3 und im Buch Hiob fungiert der ßatan als Vertreter der Anklage am Gerichtshof Gottes. … In diesen Fällen ist ßatan niemals das, was wir ‚Teufel‘ nennen.“

Auch „in den Evangelien und in den apostolischen Schriften“, lässt der Gebrauch der Worte satanas und diabolos an 33 bzw. 36 Stellen „nicht zwingend … auf die übernatürlichen Einwirkungen eines bösen Geistes“ schließen. „Vielmehr ist das Wort politisch zu deuten. ‚Begehren des diabolos‘ ist sachlich identisch mit der epithymia tou kosmou, 1. Johannes 2,17, der Raffgier der Weltordnung. Was Jesus seinen Gegnern vorwirft, ist die Komplizenschaft mit Rom, deswegen ist Judas diabolos, ‚Feind‘, 6,70; er ist der Prototyp eines Kollaborateurs.“

Wie klar sich nach Joh. die jüdische Führung dem römischen Gottkaiser unterwirft, wird später die Stelle Joh. 19,15 zeigen (TV 220f), „als die führenden Priester in der Szene vor dem Prätorium dem Pilatus versicherten: ‚Wir haben keinen König, es sei denn Caesar!‘ Sie erklären, wo ihre eindeutige politische Loyalität liegt, wer ihr ‚Gott‘ sei. … Diese Stelle 19,15 erklärt unsere Stelle 8,44 – und umgekehrt. Jesus wirft seinen Gegnern vor, sie machen die Politik Roms, Rom sei ihr Gott und ihr Vater … / Alle können wissen, dass dieser Satan, dieser diabolos, ein Menschenmörder ist, nach dem Massaker, das die Römer nach der Zerstörung Jerusalems anrichteten. In diesem Satan steckt keine Treue, er redet ‚Lug und Trug‘ (pseudos), ‚prinzipiell (ap‘ archēs)‘. Wer mit Rom Politik macht, ist ‚ein Betrüger (pseustēs) wie sein Vater‘.“

Auch in der Szene Joh. 11,46-53, tritt (TV 270) eine „nüchterne Einschätzung der politischen Lage“ zutage, denn die „vielen Zeichen“, die Jesus tut, lassen die „politische Führung und die offizielle Opposition der Peruschim“4befürchten, dass Jesu Auftreten „das Ende des Ortes und der Nation bringen könnte“, also genau das, worauf das Evangelium bereits zurückblickt, nämlich die Zerstörung des Tempels und die Aufhebung einer judäischen Nation mit begrenzter hohepriesterlicher Autonomie: „‚Wenn wir ihn so gewähren lassen‘, so sagen sie, ‚… dann kommen die Römer‘. Es ist das einzige Mal, dass das Wort Römer in den Evangelien vorkommt.“

Nach Veerkamp (TV 339) beziehen sich auch die drei Johannes­stellen (12,31; 14,30; 16,11) über den archōn tou kosmou toutou, den „Führer dieser herrschenden Weltordnung“, auf den römischen Kaiser. Der ist nach 16,11 in gleicher Weise „abgeurteilt, kekritai, Perfekt“ wie in der Menschensohnvision im Buch Dan. 7,8-14 der verhasste Gottkönig der Seleukiden des 2. Jh. v. Chr.: „Der Führer dieser herrschenden Weltordnung hat keine Zukunft, das Urteil ist endgültig, es entspricht genau dem Urteil über Antiochos IV., jenes zehnte Horn des Monstrums des politischen Hellenismus (Daniel 7). Gerade die Niederlage – am Kreuz und im Jahr 70 – bestätigt das. An dieser Weltordnung und ihrem Kaiser ist nichts gut.“

 

Der Messias hat am Kreuz Rom gerichtet

Beispielhaft (TV 339f, Anm. 472) für alle von ihm „konsultierten Kommentare“, die stattdessen „hier den ‚Teufel‘“ sehen, zitiert Veerkamp Siegfried Schulz5: „Nicht der Nazarener wurde am Kreuz von Jerusalem, also der Welt, und Rom gerichtet, sondern gerade in seinem Kreuzestod hat der vermeintlich Gerichtete und Gemordete über die Welt und ihren eigentlichen Herrscher, den Teufel, triumphiert“, und fügt kommentierend hinzu: „Die einfache Umkehrung wäre gewesen: nicht Rom habe den Messias, sondern der Messias habe Rom gerichtet. Aber die Teufelvorstellung ist seit Jahrhunderten so festgerostet, dass alle jenen eingebildeten Teufel sehen, aber natürlich niemals die faktische ‚weltliche Obrigkeit‘, den einzig wahren leibhaften ‚Teufel‘.“

Einzuräumen ist allerdings, dass auch Klaus Wengst in seinem Johanneskommentar (KW377) zu 12,31 hervorhebt, wie „unwahrscheinlich“ es ist, „dass Johannes bei der Bezeichnung ‚Herrscher der Welt‘ nur an den Teufel gedacht habe – und nicht auch an den, der in Rom tatsächlich die Macht über die Welt beanspruchte und dessen Repräsentanten überall im Imperium begegneten. Die lateinischen Übersetzungen bieten für ‚Herrscher‘ in Joh 12,31 princeps. Die Bezeichnung des römischen Kaisers als princeps konnte im Griechischen mit árchon wiedergegeben werden … Wie sollten die das Evangelium Lesenden und Hörenden in der Anfangszeit seiner Rezeption diese Dimension nicht wahrnehmen?“

Dass Jesus von Joh. bewusst den politisch-theologischen Ansprüchen der römischen Reichsideologie entgegengestellt wird, so dass eine Entscheidung zwischen Christus und Caesar zu treffen ist, vertritt auch der amerikanische Theologe Lance Richey,6 obwohl er anders als Veerkamp Jesu messianisches Königtum nicht von der jüdischen Tora her als den Prozess der Befreiung Israels und der Überwindung der römischen Weltordnung ­begreift.7

Die deutsche Althistorikerin Monika Bernett8 bestätigt zudem, wie allgegenwärtig der römische Kaiserkult bereits seit Herodes dem Großen in Palästina gewesen ist, so dass Erwähnungen und Anspielungen auf eine angemaßte göttliche Macht des römischen Imperators als Widersacher des Gottes Israels und seines Messias Jesus im Joh. definitiv nicht rein zufällig auftauchen.

 

In welche innerjüdischen Widersprüche ist Jesus nach Johannes verwickelt?

Unbeachtet bleibt der grundlegende Antagonismus zwischen dem Gott Israels und dem vergötzten römischen Kaiser in der gängigen Johannes-Auslegung vermutlich deswegen, weil Jesus mit seinen innerjüdischen Gegnern sehr viel härter ins Gericht zu gehen scheint als etwa mit dem Römer Pilatus. Nach Ton Veerkamp (TV 9) sind jedoch all diese innerjüdischen „Widersprüche“, in die Jesus verwickelt ist, vom „Hauptwiderspruch“ gegenüber der römischen Weltordnung „herzuleiten“ (TV 8): „Seine Gegner sind ‚die Juden‘, die Pharisäer, die Priester, Juden, die anfangs an ihn geglaubt hatten (8,31).“ Hinzu kommen militant agierende Zeloten.9

Die Vieldeutigkeit des von Joh. verwendeten Wortes ­Ioudaioi erschwert allerdings die Identifikation der im jeweiligen Zusammenhang gemeinten Gruppierung. Veerkamp gibt das Wort mit „Judäer“ wieder, um die Hörerin, den Leser aufhorchen zu lassen: „Johannes war Jude, Jesus war auch Jude. Wir übersetzen das griechische Wort Ioudaioi mit Judäerund nicht mit Juden. Jesus war Jude aus Galiläa, also Galiläer, er war kein Ioudaios, einer aus Judäa. Die Galiläer waren sehr orthodoxe Juden, die meisten von ihnen lehnten jegliche Zusammenarbeit mit den Römern ab. Anders die Juden aus Jerusalem; sie neigten zu Kompromissen, ihre Kultur war eher hellenistisch als jüdisch. Wohl auch deshalb wurden die Galiläer von den Menschen aus Jerusalem als Hinterwäldler angesehen. Sie waren im Judäischen Krieg die militante Speerspitze des Aufstandes gegen Rom.“

Von den anderen jüdischen Parteien hebt sich die johanneische Gruppierung Veerkamp zufolge nicht dadurch ab, dass sie ihre Hoffnungen auf ein nur durch den Glauben an Jesus erreichbares jenseitiges ewiges Leben richtet, sondern durch ihre Überzeugung, dass Rom durch die Ermordung des Messias Jesus sein wahres Gesicht gezeigt hat (TV 218) als „Menschenmörder aus Prinzip“ (8,44). Jedoch wird Jesus (TV 132, Anm. 172) zum Befreier der Menschenwelt von dieser Weltordnung, „die auf ihr lastet“ (4,42), nicht etwa durch gewaltsamen Kampf gegen Rom, sondern dadurch, dass er als Hirte Israels bewusst seine Seele, psychē, einsetzt (10,15.17.18), indem er zu einem neuen Pessach-Opfer am Kreuz erhöht wird (1,29 und 3,14) und die Inspiration oder Geistkraft oder den Geist der Treue Gottes seiner Nachfolgerschaft übergibt (19,30 und 20,22), damit sie in der Praxis einer weltverändernden Solidarität, agapē, das Leben der kommenden Weltzeit, zōē aiōnios, tätig erwartet (12,50 und 13,34-35). Was Veerkamp andernorts (TV 1991, 18) mit dem Stichwort „Thora der Liebe“ umschreibt, „die die Mitglieder der Gruppe zusammenhält“, zielt also ursprünglich „nicht zwangsläufig auf einen politischen Quietismus, auf einen wirklich verräterischen Frieden mit dem Weltzustand (kosmos)“, sondern darauf, dass diese irdische Welt unter dem Himmel Gottes anders wird, ganz im Sinne der jüdisch-prophetischen Erwartung, dass die gegenwärtige Weltzeit, hebräisch ˁolam ha-se, am zukünftigen Tag der Entscheidung durch die kommende Weltzeit, ˁolam ha-baˀ, zu einer immerwährenden Friedenszeit in Freiheit und Gerechtigkeit auf Erden überwunden und abgelöst wird.

 

Die Messiasgläubigen als die „wahren“ Juden

Es ist sehr gut vorstellbar, dass eine solche im Brustton der Überzeugung vorgetragene Botschaft, zumal wenn sie mit der Proklamation eines völlig unbekannten Mannes aus Nazareth, Galiläa, zum Messias und der Verkörperung des heiligen NAMENS des Gottes Israels verbunden war, bei anderen jüdischen Gruppierungen auf absolutes Unverständnis und erbitterten Widerstand stoßen musste (TV 8), zumal zwar „bei Johannes Jesus den bewaffneten Kampf strikt ablehnte“, er aber „unter den Militanten (Zeloten) Freunde“ hatte. „Petrus war Zelot (13,37; 18,10).“

Nachvollziehbar ist also (TV 1991, 17) sowohl die sich in Joh. 11,45-53 widerspiegelnde „Entscheidung der führenden Kreise, daß es ein Mindestmaß an Kooperation mit Rom geben muß, um zu verhindern, daß das Volk endgültig und vollständig aus dem Land schwindet“, als auch der Umstand, dass der „Begriff aposynagogos, ‚ein aus der Synagoge Ausgeschlossener‘, nur bei Johannes (9,22; 12,42; 16,2)“ auftaucht. Insofern stimmt Veerkamp dem jüdischen Johanneskritiker Brumlik zu (TV 1991, 18), „wenn er sagt, daß der Text ‚von außen‘ an die Judäer, an die Juden überhaupt, herantritt. Aber dieses ‚von außen‘ hat einen sehr speziellen Charakter. Es ist nicht das gleichgültig-feindselige ‚Außen‘ der römisch-hellenistischen Umwelt; es ist das ‚Außen‘ derer, die kurz vorher noch ‚Insider‘ waren, gerade eben vor die Tür gesetzt wurden. Jetzt sind sie draußen, aber sie sind noch ganz und gar von jenem Innen bestimmt. Ihnen geht es immer noch um Israel und um den Weg Israels unter den Völkern. Sie sind aber keine Christen, so Jesus-Messias-monoman dieser Text auch immer sein mag. Sie betrachten sich immer noch als Juden; gerade als Ausgeschlossene seien sie die eigentlich ‚wahren‘ Juden, die einzigen, die den richtigen Weg für ihr Volk zu kennen meinen.“

 

Muss die Auslegung des Johannesevangeliums in allem Partei für „Jesus“ nehmen?

Betrachtet man Ton Veerkamps Ausführungen als zureichend rationale Klärung der Gründe für die Verteufelung einer jüdischen Gruppierung durch eine andere, bleibt immer noch die Frage offen, wie damit umzugehen ist. Veerkamp erwägt eine ganze Reihe verschiedener Vorgehensweisen.

Strukturell ähnlich wie Ulrich Wendel argumentiert er (TV 8), wenn er betont: „Die Pharisäer waren Gegner, aber keine Feinde. Anders ist es mit den Abtrünnigen, Leute, die die Gruppe um Johannes verlassen hatten; in 6,66 wird noch neutral festgestellt, dass ‚viele seiner Schüler weggingen …,‘ aber in 8,44 sind sie ‚vom Teufel‘, wie traditionell übersetzt wird. Unsere Übersetzung weicht bewusst ab: ‚Ihr seid vom Vater, dem Feind.‘ Der diabolos ist nicht der böse Engel aus dem Jenseits, sondern der diesseitige Todfeind, Rom. Rom ist der Vater der Abtrünnigen, sie handeln in seinem Sinne, sie sind Kollaborateure, Verräter, kein Pardon für sie! Es geht also nicht um ‚die Juden‘, nicht einmal um die Einwohner Jerusalems, die Judäer, es geht um eine ganz bestimmte Gruppe von Judäern, die ursprünglich Angehörige der Gruppe um Johannes waren.“

An anderer Stelle macht Veerkamp darauf aufmerksam (TV 332), dass man zwar im Nachhinein versuchen kann, den Konflikt der johanneischen Messianisten mit dem rabbinischen Judentum zu verstehen, dass es aber damals (vergleichbar vielleicht mit heutigen verhärteten Fronten zwischen Israel und Palästina) faktisch unmöglich war, „eine rationale Diskussion über politische Wege zwischen Ekklesia und Synagoge“ zu führen.

Eine Antwort auf die Frage, warum Joh. die jüdischen Gegner schärfer kritisiert als den römischen Feind, ist nach Veerkamp (TV 328 mit Anm. 456) im Übergang von Joh. 15,18-19 zu den V. 20-25 zu finden. Dass die römische Weltordnung diejenigen „mit Hass bekämpft“ (V. 18), die der Messias Jesus „aus der Weltordnung herausgewählt“ hat (V. 19), versteht sich nämlich für den Evangelisten Johannes von selbst. Eine Unterdrückermacht hat dafür nachvollziehbare Gründe. Das gilt der johanneischen Gemeinschaft zufolge jedoch nicht für diejenigen, von denen sie sich nach 15,20-16,3 verfolgt wissen. Denn ab V. 20 „wechselt das Subjekt“. Hier ist „das rabbinische Judentum gemeint“, dem Jesus vorwirft, dass seine Vertreter aufgrund ihrer Kenntnis der Tora und aller Zeugnisse über den Messias und die Zeichen, die er getan hat, wider besseres Wissen handeln und „keine Ausrede“ für „ihre Verirrung“ (V. 22) haben.

Entscheidend sind die V. 23-25, hier übersetzt von Ton Veerkamp: „Wer mich mit Hass bekämpft, der bekämpft mit Hass auch meinen VATER. Wenn ich unter ihnen nicht die Werke getan hätte, die niemand anders getan hat, wären sie nicht in ihrer Verirrung. Nun haben sie sie gesehen, und haben voller Hass sowohl mich wie meinen VATER bekämpft. Aber damit das Wort erfüllt werde, das in ihrer Tora geschrieben ist: grundlos haben sie mich gehasst.“

Nach Veerkamp (TV 331) ist dieses Stichwort „[g]rundlos, chinnamdōrean, … in Israel immer ein sehr ernster Vorwurf. So wirft das Buch Hiob dem Gott seines Schicksals vor, er verschlinge den Gerechten grundlos.“ In Joh. hat dieser Vorwurf schwerwiegende Folgen. Veerkamp fährt fort (TV332): „Wir sind hier nicht parteilich. Wir müssen nur feststellen, dass mit dem Vorwurf ‚grundlos‘ ein Gespräch, geschweige denn eine Verständigung, unmöglich wird. Wir stellen fest, dass Johannes nicht nach Gründen bei seinen Gegnern suchen will – und die Suche nach Gründen auf beiden Seiten wäre die Grundbedingung für ein Gespräch zwischen beiden Seiten. Johannes setzt seinerseits grundlos (!) voraus, dass das rabbinische Judentum keine Gründe haben kann. Er gibt sich hier erst gar keine Mühe. Die Auslegung muss das Irrationale, das in der Vokabel chinnamdōrean, steckt, feststellen, ohne in diesem Konflikt Partei sein zu können.“

 

Rationale Gründe auf beiden Seiten

Konkret äußert sich nach Joh. der Hass der jüdisch-rabbinischen Gegner auf die Anhänger Jesu im Ausschluss aus der Synagoge, von der in Joh. 16,2 die Rede ist (TV 332): „Sie werden euch zu Leuten ohne Synagoge machen, ja, es kommt die Stunde, dass jeder, der euch tötet, meint, er erweise GOTT Staatsdienst.“

Ein solcher Ausschluss konnte lebensgefährliche Folgen haben (TV 334f): „Die Synagoge war keine Kirche, keine Glaubensgemeinschaft. Sie war vielmehr gleichermaßen Ort der Versammlung und Organ der Selbstverwaltung, wo die Kinder Israels im Rahmen des von den Römern anerkannten Status’ einer Ethnie mit ihrem zugelassenen Kult (religio licita) ihre Angelegenheiten selber regeln konnten … Das bedeutete einen nicht unbedeutenden Schutz vor behördlichen Maßnahmen und behördlicher Willkür. … / Wenn andererseits eine Gruppe aus der Synagoge ausgeschlossen wird, verliert sie Status und Schutz, und die Mitglieder dieser Gruppe müssen sich einzeln mit den römischen Behörden auseinandersetzen. Das bedeutete Lebensgefahr. Die Hinrichtung staatsfeindlicher Elemente war ein Akt politischer Loyalität, und eine solche Loyalität war damals ipso facto religiöser Natur. Wer sich an solcher Verfolgung beteiligt, leistet einen ‚öffentlichen Dienst‘ (latreia) jenem Gott, der Staatsgott war. … / Jedenfalls erklären die politischen Folgen des Ausschlusses die Schärfe, mit der Johannes sich gegen das rabbinische Judentum wendet, und sie erklären auch, weswegen Johannes bei seinen Gegnern keine rationalen Gründe für ihre Haltung finden konnte.“

Gleichwohl äußert Veerkamp ebenfalls Verständnis für den Standpunkt der rabbinischen Führung der Synagoge, denn ihr Status innerhalb der römischen Gesellschaft war immer prekär (TV 334): „Die Synagoge musste also darauf achten, dass Gruppen, die staatsfeindliche Anschauungen vertraten, nicht die Überhand gewannen. / Offenbar war die Führung der Synagoge an dem Ort, wo sich Johannes und seine Gruppe aufhielten, zu dem Schluss gekommen, diese stellen eine Gefahr für die Synagoge dar. Deswegen war es ihre Pflicht, solche Gruppen vor die Tür zu setzen. Die Führung der Synagoge, in deren Zuständigkeitsbereich die Gruppe um Johannes gehörte, vertrat die Richtung des rabbinischen Judentums, Johannes dagegen machte aus seiner Abneigung gegen diese Richtung keinen Hehl. Der Ausschluss war ein legitimer und politisch nachvollziehbarer Akt der synagogalen Führung. Das ist der Grund, den wir sehen können und sehen müssen, und deswegen ist das Wort ‚grundlos‘ (chinnamdōrean) fehl am Platze. Es gehört zur selbstverständlichen Pflicht nicht-jüdischer Exegeten, den Konflikt einmal von der Warte der Synagoge her nachzuvollziehen und nicht von vornherein Partei für ‚Jesus und die Apostel‘ zu ergreifen. Wie gesagt, Johannes hält sich erst gar nicht bei der Suche nach den Gründen für den Ausschluss auf. Hier müssen wir keine Schüler des Johannes sein.“

Im Epilog seiner Johannes-Auslegung (TV 442) betont Veerkamp nochmals, „dass der politische Vorwurf des Johannes“ gegenüber dem rabbinischen Judentum „zwar verständlich, aber dennoch unredlich war. Deswegen versuchten wir, bei der Auslegung nicht parteilich zu sein; wir waren und sind nicht von vorneherein ‚für Jesus‘ und ‚gegen die Juden‘. Wir versuchten zu verstehen, worum es ging und wie ernst der Konflikt damals war – für beide Seiten.“

Auch für die Reaktion der Pharisäer (Peruschim) auf Jesu Heilung des Blindgeborenen wirbt Veerkamp (TV 231f) um Verständnis: „In ihren Augen reißt Jesus den Zaun um die Tora weg, indem er am Schabbat heilt. … / Die Erzählung ist so komponiert, dass die ganze Sympathie der Lesenden dem Blindgeborenen, ihre ganze Antipathie den Peruschim gilt. Wir müssen aber auch die andere Seite sehen. Wenn der Zaun um die Tora niedergerissen wird, ist es um Israel geschehen, das die Rabbinen erhalten wollen. / Nach der Zerstörung der großen Synagoge in Alexandrien im sogenannten Diasporakrieg 115-117, nach der Vernichtung des assimilationsfreudigen und selbstbewussten Judentums Alexandriens gab es keine andere jüdische Option als die des rabbinischen Judentums. ‚Zaun um die Tora machen‘ heißt, innerhalb der Völkerwelt die Sicht Israels auf eine Gesellschaft von Autonomie und Egalität10 zu bewahren.“

In meinen Augen macht Ton Veerkamp mit Recht darauf aufmerksam (TV 335), dass wir „aus dem sicheren Abstand von zwei Jahrtausenden rationale Gründe auf beiden Seiten entdecken“ können. „Aber für die damals Betroffenen war eine rationale Auseinandersetzung offenbar nicht möglich.“

 

Das Johannesevangelium als Steilvorlage für christlichen Antisemitismus

An dieser Stelle geht Ton Veerkamp in seiner Beurteilung des innerjüdischen politisch-theologischen Streits zwischen den johanneischen Jesusanhängern und rabbinischen Juden noch einen Schritt weiter, indem er – allerdings aus anderer Richtung – sich der im ersten Teil erwähnten Kritik von Adele Reinhartz annähert (TV 336): „Für Johannes stellt sich die Synagoge außerhalb Israels: ‚Sie erkennen weder den VATER noch mich.‘ ‚Gott nicht erkennen‘ ist die Aufkündigung des Bundes, den der Gott Israels mit den Vätern und mit den Kindern Israels geschlossen hat. Anders als der Tötungsvorwurf ist dieser Vorwurf, das rabbinische Judentum habe seine Bindung zum Gott Israels aufgegeben, sehr wohl haltlos, wir müssen ihm widersprechen. Wenn dem rabbinischen Judentum dieser Vorwurf gemacht wird, wenn das Schule macht, und es hat Schule gemacht, wird Israel vom Christentum enterbt werden. Der Vorwurf ist strikt analog zum Atheismusvorwurf, den die römischen Behörden den Christen machen werden. Nur hatte Johannes keine Macht, und man konnte den Vorwurf als lächerlich zurückweisen. Aber als das Christentum zur Staatsreligion und die christliche Kirche zu einer staatlichen Institution wurde, hatte der Vorwurf weitgehende politische Folgen.“

Auch wer mit Veerkamp den erbitterten Streit des johanneischen Jesus mit seinen rabbinischen Gegnern als innerjüdische Auseinandersetzung betrachtet, muss sich also inhaltlich nicht alle Argumente des Evangelisten zu eigen machen. Schärfstens zu kritisieren ist jedenfalls die Art und Weise (TV 442f), in der die schon bald heidenchristlich dominierte Kirche die Steilvorlage der „maßlosen Aggressivität“ benutzte, mit der der „Jude Johannes … bestimmte Juden – möglicherweise Überläufer der Messianisten zum rabbinischen Judentum (8,31)“ bekämpfte: „Das Christentum hat aus dem diabolos, hebräisch ßatan – Buber übersetzt mit ‚Hinderer‘ – einen übernatürlichen ewigen bösen Geist gemacht, folglich aus den Juden ‚Kinder dieses Vaters‘, also Teufelsbrut. Wo für Johannes jener ßatan bzw. Rom ein ‚Menschenmörder von Anfang an‘ (oder: ‚… aus Prinzip‘) war, machte das Christentum aus den Juden Gottesmörder. … / Das Christentum produzierte mit Johannes eine nicht nur proto-, sondern originalrassistische Doktrin des Antisemitismus, die den Juden tatsächlich keine Chance mehr ließ, als Menschen überleben zu können. Johannes auslegen heißt, sich dieser Wirkungsgeschichte ständig bewusst zu sein.“

Dennoch plädiert Ton Veerkamp dafür (TV 443f), „Text und Wirkungsgeschichte zu unterscheiden …, denn sonst können wir den Text gar nicht bearbeiten. … Johannes als jüdische Gestalt kann tatsächlich nichts für unseren späteren Antisemitismus, Johannes als Grundtext des Christentums sehr wohl.“ So zu unterscheiden, hat Veerkamp zufolge (TV 444f) jedoch nichts mit „Wiedergutmachung“ zu tun: „Für das, was geschehen ist, gibt es keine ‚Wiedergutmachung‘ und keine Vergebung. Den Versuch, Antisemitismus zu überwinden, unternehmen wir für uns, denn er ist eine Verstümmelung unserer Seelen. Gerade weil wir durch Antisemitismus und Rassismus zutiefst entstellt sind, sind wir eine Gefahr für die Juden, für die gesamte Menschheit und nicht zuletzt für uns selbst. Dass Christen und Juden und andere miteinander darüber sprechen müssen, wie die Pest des Antisemitismus und des Rassismus in unserer Gesellschaft zu bekämpfen ist, ist eine Selbstverständlichkeit. Dieser Dialog ist schiere Pflicht.“

Allerdings ist es Veerkamp durchaus bewusst (TV 443), dass es nicht viel mehr als ein „Trick“ ist, wenn „wir in unserer Übersetzung statt Juden Judäer schreiben, statt Pharisäer Peruschim,“ um dadurch „dem Umstand Rechnung“ zu tragen, „dass die Worte Juden und Pharisäer antisemitische Assoziationen wecken. Wenn wir in einem beliebigen christlichen Gottesdienst bei der Verlesung eines einschlägigen Johannestextes Jesus gegen die Juden und die Pharisäer wettern lassen, dann setzt sich der antisemitische Mechanismus gegen unseren Willen und gegen unsere political correctness in Gang. Keiner von uns kann einem jüdischen Menschen mit der gleichen Unbefangenheit begegnen, die wir bei der Begegnung mit nichtjüdischen Menschen an den Tag legen.“

 

Können wir Johannes noch „predigen“?

So angemessen Ton Veerkamps politische Auslegung des Joh. sein mag, gelten nicht auch für sie die erwähnten Bedenken von Gerd Theißen, dass sie letzten Endes die gesamte Aussage des Evangeliums in ihrer Verbindlichkeit als Gottes Wort relativiert? Veerkamp selbst weist darauf hin (TV 443), dass wir in der Exegese zwar so tun müssen, als ob es „nur ein merkwürdiger Text aus der Peripherie des Judentums des 1. Jahrhunderts ist“, zugleich aber ist „für das Christentum … Johannes nicht nur ein historischer Text. Die Lehre, die es heute in ihm zu entdecken meint, fasst es als Wort Gottes auf, als ein Gebot Gottes, sich so und nicht anders in die Diskurse unserer Tage einzubringen. Der Text ist mit seiner Wirkungsgeschichte unlöslich verbunden, die darin besteht, ihn auch als Wort Gottes gegen die Juden aufzufassen.“

Offen lässt Veerkamp die Frage (TV 444), ob „wir Johannes noch predigen – d.h. verkünden – können“, stellt jedoch fest: „Viele Pfarrerinnen und Pfarrer können das nicht mehr oder lassen die anrüchigen Stellen weg und machen aus Johannes einen Steinbruch, aus dem sie erhabene, platonisch angehauchte und recht wirklichkeitsfremde Weisheiten herausbrechen.“

In meinen Augen können wir Joh. dann predigen, wenn wir seinen Impuls aufnehmen, den Messias Jesus als die Verkörperung des befreienden NAMENS des Gottes Israels zu proklamieren, und zugleich ernst nehmen, dass der vierte Evangelist – anders als Paulus und die anderen Evangelisten – keine generelle Völkermission im Sinn hat, sondern zunächst die Sammlung ganz ­Israels einschließlich Samarias und der jüdischen Diaspora. Nur an einer einzigen Stelle (12,20) erwähnt Joh. „einige Griechen“, die Jesus sehen wollen, allerdings mit so großer Zurückhaltung, als ob er geahnt hätte, dass ein großer Zustrom von Menschen aus den Völkern schon bald zur Enterbung Israels statt seiner Sammlung und Befreiung führen würde. Es mag eine Kränkung für uns Christen sein, dass für Jesus im Joh. Israel an erster Stelle steht. „Und wir Menschen aus den anderen Völkern können nur hinzukommen, wenn wir nicht etwa Israel beiseite schubsen und aus dem Weg räumen wollen.“11

 

Anmerkungen

1 Aus folgenden Werken des Autors zitiere ich mit den jeweils angegebenen Kürzeln: Ton Veerkamp, Auf Leben und Tod. Eine Auslegung von Joh 10,40 – 11,54, in der exegetischen Zeitschrift „Texte & Kontexte“ Nr. 49, 1991, 16-44 (TV 1991). Ton Veerkamp, Solidarität gegen die Weltordnung. Eine politische Lektüre des Johannesevangeliums über Jesus Messias von ganz Israel, Gießen 2021, zitiert mit dem Kürzel TV nach der auf meiner Internet-Seite bibelwelt.de veröffentlichten pdf-Version „Veerkamp-Johannes.pdf“ (https://bibelwelt.de/veerkamp-johannes/), die ursprünglich in mehreren Ausgaben der Zeitschrift „Texte & Kontexte“ (2006/2007 und 2015) erschienen war.

2 Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Amsterdamer_Schule_(Theologie)#Politische_Richtung.

3 Micha Brumlik, Johannes: Das judenfeindliche Evangelium, in: Kirche und Israel 4, 1989, 102-113, hier 111.103.104.

4 Zur Wahl dieses Wortes als Übersetzung des griechischen Wortes Pharisaioi schreibt Veerkamp (TV 50, Anm. 70): „Um die unerfreulichen Assoziationen, die das Wort ‚Pharisäer‘ bei den Deutschen und nicht nur bei ihnen aufruft, zu vermeiden, schreiben wir das ideologisch-emotional belastete Wort ‚Pharisäer‘ nicht, sondern wählen das aramäische Äquivalent Peruschim.“ Zur ehrwürdigen Tradition dieser Partei führt Veerkamp aus (TV 50f): „Ihre Ursprünge liegen in der Zeit des Kampfes der judäischen Bevölkerung gegen die hellenistischen ­Monarchen des Nordens (Syrien-Mesopotamien), d.h. um 170 v.u.Z. Sie formierte sich als Opposition gegen die Politik der Staatsführer und späteren Könige aus dem Haus der Hasmonäer (Makkabäer), die sich immer mehr als hellenistische Monarchen zu erkennen gaben. Der Kampf der Peruschim war ein Kampf um die Tora in schriftlicher und mündlicher Überlieferung als dem Zentrum des gesellschaftlichen Lebens, unter welcher Oberhoheit auch immer. Der Gegner des Jesus ben Joseph ist das sich formierende rabbinische Judentum, das zwar nicht identisch mit den Peruschim, ihnen politisch aber doch sehr verwandt war. Viele der führenden Lehrer Israels nach dem Jahr 70 kamen aus dem ­Milieu der Peruschim.“

5 Siegfried Schulz, Das Evangelium nach Johannes (NTD 4), Göttingen 1987, zu Joh. 16,11.

6 Lance Byron Richey, Roman Imperial Ideology and the Gospel of John, Washington 2007.

7 Vgl. dazu meine Buchbesprechung: Christus und Caesar. Eine politische Auslegung des Johannesevangeliums, kritisch gelesen (https://bibelwelt.de/christus-und-caesar).

8 Monika Bernett, Der Kaiserkult in Judäa unter den Herodiern und Römern: Untersuchungen zur politischen und religiösen Geschichte Judäas von 30 v. bis 66 n. Chr., Tübingen: Mohr Siebeck, 2007.

9 So Ton Veerkamp (TV 172, Anm. 227): „Die Schwierigkeit bei Johannes ist immer die Heterogenität der Gegner: mal das entstehende rabbinische Judentum, mal die Zeloten, mal enttäuschte Anhänger, oft mit dem gleichen Wort IoudaioiJudäer, bezeichnet.“

10 Nach Ton Veerkamp (TV 2013, 53) ist die jüdische Tora als „Grundordnung“ Israels „die Ordnung der befreiten Sklaven, die Ordnung von Autonomie und Egalität, und sie ist einmalig und einzigartig. Sie verträgt sich mit anderen Ordnungen, soweit sie Ordnungen von Herren und Sklaven sind – und das waren sie damals alle –, grundsätzlich nicht.“

11 Diese Formulierung stammt aus meiner Predigt im Gottesdienst am 23. April 2023: „Der gute Hirte: Befreier Israels und der Welt“ (https://bibelwelt.de/guter-hirte), die ich mit folgendem doppelten Fazit beendete: „Erstens: Jesus ist kein Hirte, der allein uns Christen den Himmel garantiert. Wir gehen im Tode nicht verloren, diese Hoffnung teilen wir mit Juden wie auch Muslimen. Zweitens: Wer auf Jesus zu vertrauen wagt, der gibt die Hoffnung auf Frieden für diese Welt nicht auf. Zwar wird überall, wo Gewaltherrscher über Leichen gehen und Menschenrechte verachten, Gottes Ehre immer wieder in den Dreck getreten, oft sogar von Menschen, die sich Christen nennen. Aber genau dieser gedemütigte Gott, der in Jesus den Tod erlitt, dessen Liebe ist dennoch stärker als Terror und Gewalt. Er bleibt unser guter Hirte. Er lässt uns immer wieder innehalten, wenn wir meinen, dass Probleme nur mit Gewalt zu lösen sind. Er gibt Mut und Kraft zur Solidarität mit Menschen, die Hilfe brauchen. Er macht uns stark, den Dialog mit Andersdenkenden und -glaubenden nicht aufzugeben.“

 

Über die Autorin / den Autor:

Pfarrer i.R. Helmut Schütz, Jahrgang 1952, ­ehemals als Gemeindepfarrer in der Wetterau und in Gießen sowie als Klinikseelsorger in Rheinhessen tätig, im Ruhestand Beschäftigung mit der befreiungstheologischen Auslegung des Johannesevangeliums (https://bibelwelt.de/johannesevangelium).

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 4/2025

Kommentieren Sie diesen Artikel
Regeln und Hinweise


Pflichtfelder sind mit * markiert. Ihre E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.
Spamschutz: dieses Feld bitte nicht ausfüllen.