Predigthörer*innen erleben während der Rezeption einer Predigt höchst Unterschiedliches. Die gehörte Predigt generiert Bildwelten, die sich aus Konventionen, Erinnerungen und inneren Sinnbildern zusammensetzen. Dieter Wittmann schlüsselt ein in der Homiletik noch wenig erforschtes Feld auf.

 

Am Abendmahlstisch des Leonardo da Vinci

Nicht selten hören Gottesdienstbesucher Predigten, die auf Texten basieren, deren Bild-Szenen im kollektiven Gedächtnis präsent sind. Zu diesen ikonischen Szenen gehören insbesondere die Darstellungen der Geburt Jesu, des Passahmahls/Abendmahls und der Kreuzigung. Ich beziehe mich an dieser Stelle auf eine Predigt über Mt. 26,20-29. Ein Predigthörer berichtet: „Ich sah mich wieder auf Hochzeitsreise nach Mailand, wo wir im Refektorium des Dominikanerklosters Santa Maria delle Grazie das Abendmahlsfresko von Leonardo da Vinci besichtigten. Zugleich sah ich das reproduzierte Abendmahlsbild, wie es zu meiner Konfirmandenzeit unserem Gesangbuch beigegeben war. Ich sah mich, wie ich die nebeneinander an einem Tisch sitzenden Jünger mit Jesus in ihrer Mitte von rechts nach links nach dem Spruch abzählte ‚Das ist der, der Je-sus ver-ra-ten hat‘ (jedes Wort bzw. jede Silbe war auf eine Gestalt zu beziehen), und gelangte auf diese Weise zu dem Verräter Judas. Mir fiel dann ein, dass der gegenwärtig praktizierte Ablauf der Abendmahlsfeier nur rudimentär eine Tischgemeinschaft abbildet. Ich fragte mich, ob dann wohl auch immer ein Verräter dabei sein wird und sah den Finger auf mich zeigen.“

Alle drei Szenen, die der Hörer im Verlaufe des Predigtvortrags imaginiert (das Secco Leonardo da Vincis gleichsam als Prototyp der Abendmahlsfeier, der den Verräter Judas suchende Konfirmand, die mit libidinösen Erlebnissen verbundene Hochzeitsreise), sind Sequenzen, die weder im manifesten Bibeltext enthalten sind, noch vom Prediger eingeführt wurden. Das gehörte Wort erweitert sich um unvorhersehbare Bilderlebnisse. Das ist das Thema meiner nachfolgenden Überlegungen.

 

Das Auftauchen von Bildwelten

Das Hören und Verstehen einer Predigt wird nicht nur durch die von dem Prediger gesprochenen Wörter, sondern auch durch die dem Text immanenten und die durch ihn wach gerufenen Bildwelten bestimmt. Unter Bildwelten will ich sowohl die manifesten Bilder als auch die Bilder verstehen, die als Imaginationen die Rezeption einer Predigt begleiten. Ich wähle den Begriff „Bildwelten“, weil Bilder immer auch Szenen wiedergeben, die von reicher Ausstattung (Personen, Tiere, Landschaften, Blumen, Symbole u.a.m.) sein, aber auch zu „leeren“ Räumen (geometrische Konstruktionen, monochrome Bilder) ikonoklastischer Art tendieren können. Die sich im Hören einer Predigt einstellenden Bildwelten, ähnlich wie bei Träumen, treten gleichsam gleichberechtigt neben das von dem Prediger ausgehende Wort und beide verlangen nach Bedeutung. Ich spreche hier von einem in den realen Raum der Predigt eindringenden virtuellen Raum, den die Bildwelten erschaffen. Hier vollzieht sich ein „Wechselspiel zwischen Textwelt und LeserInnenwelt“ (Grözinger 2008, 90) und dadurch wird die Rezeption einer Predigt „nicht nur durch die dargebotene Predigt gesteuert, … sondern auch durch andere Faktoren“ (Schwier und Gall 2008, 205). Zu diesen zähle ich neben Assoziationen, Einfällen und Emotionen vor allem die beim Hören auftauchenden fluktuierenden Bildwelten.

 

 

Wir stehen hier vor einem in der Homiletik noch wenig erforschtem Problem. Die Heidelberger Studie „Predigt Hören“ stellt fest: Die Rezeption einer Predigt „(wird) nicht nur durch die dargebotene Predigt gesteuert, … sondern auch durch andere Faktoren … Noch nicht erforscht wurde die unmittelbare bzw. ablaufsimultane Reaktion der Hörer. Erst dadurch entsteht jedoch ein schärferes Bild“ (Schwier und Gall 2008, 6). Ganz in diesem Sinne kann Grözinger feststellen: „Wir wissen z. B. sehr wenig darüber, was Metaphern oder Bilder in den Predigten bedeuten und wie sie das Hören der Predigt beeinflussen.“ Er folgert daraus: „Eine Erweiterung des Methodenarsenals der Predigtanalyse in Hinsicht auf die Rezeption durch die HörerInnen der Predigt ist ein dringendes Forschungsdesiderat“ (Grözinger 2008, 300). Einen Fortschritt in der Erkenntnis dieser Prozesse erhoffe ich mir, wenn ich das dem Hören und Verstehen begleitende Bilderleben von der Dynamik des individuellen und kollektiven Unbewussten, wie es in den tiefenpsychologischen Schulen verstanden wird, beeinflusst sehe. Bildwelten, insbesondere wenn sie spontan und autonom auftauchen, nehmen ihren Ursprung in archetypischen Prägungen, die in den libidinös und ­aggressiv getönten Wunschwelten der Hörer ihre Ausformung finden. Es stellt sich die Frage nach der Transformation der gesprochenen Predigt im Verlaufe ihrer Rezeption.

 

Die Wendung zu den Bildern

Die hermeneutische Frage nach dem Verstehen der Bildwelten, denen Hörer im Verlauf einer Predigt begegnen, will ich auf dem Hintergrund des aus der Literaturwissenschaft übernommenen „rezeptionsästhetischen Ansatzes“, der von Gerhard Marcel Martin (1984) in den homiletischen Diskurs eingebracht wurde, erörtern. Zum anderen werde ich die theoretischen Entwürfe der Bildwissenschaften (Boehm 1994, 2015) und deren theologische Rezeption (Stoellger 2008, 2013, Krüger 2017) heranziehen.

Der rezeptionsästhetische Ansatz

Der rezeptionsästhetische Ansatz basiert auf dem Grundgedanken, „dass der Sinngehalt eines Textes nicht am Text allein zu erheben ist, sondern dass dieser Sinngehalt erst dadurch entsteht, dass Leser und Leserinnen den Text rezipieren – deshalb Rezeptionsästhetik“ (Grözinger 2008, 89). Im Kontext der Prämisse des rezeptionsästhetischen Ansatzes in der Homiletik, dass eine Predigt „als offenes Kunstwerk“ (G.M. Martin 1984, 46ff) zu verstehen sei, kommt unabwendbar die Bilderfrage in den Blick. „Gottesdienst und Predigt wollen als ‚Kunstwerke‘ insofern verstanden sein, als sie jeweils einen Überschuss an Bedeutungen eröffnen, die durch die den Gottesdienst Erlebenden und die Predigt Hörenden auf sehr verschiedene Weise ausgelegt und subjektiv angeeignet werden können, sich diese Bedeutungen jedenfalls immer erst im subjektiven Aneignungsvorgang realisieren und vollenden. … Kunstwerke sind bedeutungsoffen. Sie … entwerfen ein szenisches Arrangement bildhafter Vorstellungen, eine Kombination von Worten, Farben oder Tönen, deren Sinnverweisungen in frei-spielerischen Assoziationsfolgen entschlüsselt, ausgelegt, subjektiv empfunden und angeeignet sein wollen“ (Gräb 1997, 209f). Die Predigt „besteht nicht allein im Text“. Sie „entsteht erst im Akt“ des Hörens und der Integration der auftauchenden Bildwelten. In diesem produktiven Vorgang entwickeln sich „Verstehens- und Sinnhorizonte“ (Grözinger 2008, 89f). Auf dem Hintergrund dieser homiletischen Vorannahmen darf die Frage nach der Rezeption der im Akt des Hörens auftauchenden Bilder nicht zur pädagogischen Hilfsfunktion im Dienst der Exemplifizierung von biblischen Texten herabgestuft werden, sondern wird zu ­einer hermeneutischen Aufgabe eigener Profilierung.

Bildtheoretische Ansätze in Theologie und Kunstwissenschaft

Die protestantische Theologie hat in den letzten Jahren „Die Macht der Bilder“ (Stoellger 2013, 23) entdeckt und Ansätze einer Theologie als Bildtheorie (vgl. Stoellger 2008, 4) oder als „kritische Bildreligion“ (vgl. ­Krüger 2017) im Blick auf die „bildtheoretischen Potentiale des Christentums“ (Stoellger 2008, 13) reflektiert. „Wenn der Logos Fleisch ist; wenn Schöpfung das Medium der Versöhnung ist – dann ist das Sichtbare der Raum der Wahrnehmung des unsichtbaren Gottes; dann sind Metaphern Wort-Gottes verdächtig; dann sind auch Bilder mindestens möglich, wenn nicht sogar nötig.“ (Stoellger 2008, 6)

Diese bildtheoretischen Überlegungen, im Rahmen der systematischen Theologie angesiedelt, sind noch nicht in die homiletischen Konzepte eingewandert, greifen auf die Arbeiten des Kunsthistorikers und Philosophen Gottfried Boehm (1995/2015) zurück, der unter der Fragestellung „Was ist ein Bild?“ (Boehm 1994/1995) eine Wende in der neueren kunsthistorischen Debatte um das Bilderverständnis einleitete. Das erkenntnisleitende Stichwort, unter dem diese Debatte geführt wurde, lautet „iconic turn“ in Anlehnung an den „linguistic turn“ (vgl. Boehm 1995, 13). Damit war eine Hinwendung zu den Bildern gemeint, die den Betrachter das Bild jenseits der Sprache verstehen lässt. Bild und Sprache sind verschiedene aber dennoch gleichwertige Verstehensweisen. „Bilder sind nicht Formen von Sprache oder Text, sondern sui generis: von anderer Art. Sie beanspruchen nicht Lektüre, sondern Wahrnehmung“ (Stoellger 2008, 9). Bilder müssen nicht versprachlicht werden, um sie zu verstehen.

 

 

Die Kunstwissenschaft beschäftigt sich mit Bildern (Gemälden), die Produkte künstlerischen Schaffens sind. Bildproduktionen, die nur einer flüchtigen Entstehung zu verdanken sind und denen keine materielle Dauer eignet, wie sie uns in den Bildwelten der Träume und der Imaginationen begegnen, finden weniger oder gar keine Beachtung. Aber gerade diesen Bildwelten gilt unser homiletisches Interesse. Insoweit ich diese Bildwelten in einen hermeneutischen Zusammenhang mit dem Verstehen beim Predigthören bringe, gehen sie über reine Abbilder hinaus. „… Abbilder in ihrer täglichen Rolle erschöpfen sich darin, existierende Dinge oder Sachverhalte nochmals zu zeigen, nämlich dem äußeren Sinn des Auges“ (Boehm 1994/1995, 16). Tatsächlich werden die Bildwelten, die im Verlauf assoziierender Prozesse beim Predigthören auftauchen, formal/thematisch Abbilder sein, die aber dennoch keine „Doubles“ sind, weil sie gleich Traumbildern Träger von noch zu erschließenden Bedeutungsinhalten sind.

Ich unternehme es, den „iconic turn“ auf meine homiletische Fragestellung zu beziehen. Die Bilderfrage hat in der Theologie wegen des Bilderverbots aus Ex. 20 mit den sich daraus ableitenden ikonoklastischen Interventionen (Bildersturm) im Laufe der Kirchengeschichte ihre Ausprägung gefunden. Jedoch spätestens auf dem dogmatischen Hintergrund, dass Gott in Jesus Mensch wurde, musste die Bilderfrage in der christlichen Theologie nicht mehr ikonoklastisch gelöst werden. „Bekanntlich diente (ex post) die Inkarnation als Lizenz zum Bild, gewissermaßen als ikonische Kehre der ­jüdisch-christlichen Religionsgeschichte …“ (Stoellger 2008, 6).

 

Differenzerfahrung

Bilder sind mehr als nur reine Abbildungen oder Informationen über biblische Geschichten. Sie vergegenwärtigen ein Geheimnis (numen inest). Wenn nun der Hörer im Verlaufe einer Predigt mit einer, woher auch immer stammenden, Bildwelt angesprochen wird, wird sich ein Differenzerleben einstellen. Neben den im Sprechakt der Predigt gegenwärtigen Wörtern konstelliert sich begleitend und überdeckend eine Bildwelt, die sich assoziativ beim Hören gleichsam als Antwort auf das Gehörte einstellt. Diese beiden Ebenen verhalten sich zueinander wie eine Oberfläche zum Untergrund oder wie das Bewusstsein zum Unbewussten. Dieses Spannungsverhältnis ruft eine Differenzerfahrung im Rezeptionsvorgang der Bildwelten einer Predigt hervor. Ich habe diesen Begriff in Anlehnung an Boehms bildtheoretische Überlegungen zur „ikonischen Differenz“ gewählt. Sie bezeichnet das „Spannungsverhältnis … zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem von thematisch ‚Identifizierbarem und unthematischem Horizont‘, der jedem Bild inhärent ist“ (Boehm 2015, 210f).

Diesen Vorgang kann ich jedoch nur dann auf das Spannungsverhältnis, das sich zwischen gepredigtem Wort und der sich im Hören manifestierenden Bildwelten ergibt, übertragen, wenn ich zugleich sehe, dass sowohl dem Bild eine je eigene ikonische Differenz als auch den Wörtern eine je eigene linguistische Differenz inhärent ist. Die Differenzerfahrung steht im Dienst des Verstehens. Sie weist auf die hermeneutische Herausforderung hin, der alle am Predigtprozess Beteiligten unterliegen, zumal wenn davon ausgegangen werden darf, dass das in einer Predigt aufscheinende Bilderleben dem Wortverstehen gleichwertig zuzuordnen ist.

Differenzerfahrungen öffnen und erweitern die Predigt über die vom Prediger intendierte Botschaft oder die exegetisch und dogmatisch erhobenen Fakten hinaus. Hermelink/Müske (1995) konnten in ihren Überlegungen zu „Predigt als Arbeit an mentalen Bildern“ aufzeigen, wie in der durch die Predigt angestoßenen mentalen Bilderfahrung beim Hörer ein Bedeutungszuwachs, der über die von der Predigt beabsichtigte Intention hinausgeht, generiert wird. Die Autoren gehen davon aus, dass man „sich die kommunikative Funktion eines bestimmten Textes, also auch einer Predigt, offenbar nicht so vorstellen darf, als sei sie gleichsam ein Behälter von Inhalten und Bedeutungen, die ihm dann einfach ‚entnommen‘ werden könnten. Der Text fungiert vielmehr als Auslöser einer höchst komplizierten Tätigkeit seiner Rezipient/inn/en, ohne die das Textverstehen gar nicht denkbar ist“ und wobei „das ausgelöste Bild gleichsam ‚umschlägt‘ in das Bild eines ganz anderen Sachverhalts“ (Hermelink/Müske 1995, 229).

 

Die Dynamik des Unbewussten in den Bildwelten

Die Differenzerfahrung weist auf die den Bildwelten inhärente Dynamik des Unbewussten hin. Ich will das Unbewusste als „die Gesamtheit der im aktuellen Bewusstseinsfeld nicht gegenwärtigen Inhalte …“ bezeichnen (Laplanche/Pontalis 1973, 564). Es besteht aus verdrängten Inhalten, denen der Zugang zum Bewusstsein eben durch die Verdrängung verwehrt wird. „Alles, was ich weiß, an das ich aber momentan nicht denke, alles, was mir einmal bewusst war, jetzt aber vergessen ist; alles, was von meinen Sinnen wahrgenommen, aber von meinem Bewusstsein nicht beachtet wird; alles, was ich absichts- und aufmerksamkeitslos d.h. unbewusst fühle, denke, erinnere, will und tue; alles Zukünftige, das sich in mir vorbereitet und später erst zum Bewusstsein kommen wird; all das ist Inhalt des Unbewussten“ (Jung 1967, 214). Das Unbewusste ist dem Bewusstsein zunächst unbekannt. Dem Bewusstsein wird das Unbewusste zugänglich in Gestalt von Bildern, Imaginationen, Einfällen, Träumen, Emotionen, Spannungszuständen etc.

Das Bild selbst aber ist nicht das Unbewusste. Dessen Dynamik wird vielmehr vom Bewusstsein als Differenzerfahrung wahrgenommen, als Resonanz auf die dem Bilderleben inhärente Botschaft. Damit eröffnet sich eine zweite Ebene im Aneignungs- und Verstehensprozess, der in eine autonome Amplifikation der gehörten Predigt durch den Hörer einmünden kann. Die im Hören der Predigt auftauchenden Bilder bzw. Imaginationen werden zur Brücke, die den leeren Raum zwischen den Textebenen (manifester Text und Subtext) der Predigt zu füllen vermögen. Dazu rechne ich insbesondere die Bildwelten, die wegen ihrer Nähe zu Symbolen, ihrer Unlogik oder abstrakten Reduzierung auf Formen und Farbe eine Nähe zur Traumlogik haben. Diese Bildwelten können durchaus gegenständliche Bildtableaus wiedergeben, die auf ihrer Oberfläche Gegenstände der Realität zeigen, aber die zu irrealen Szenen, Formen und Figuren (etwa die Arbeiten der Surrealisten, z.B. Max Ernst oder Salvador Dali) verfremdet wurden bis zur völligen Abstraktion und Einfarbigkeit. Alle diese Bildwelten können zum Ausgangspunkt numinosen Erlebens werden. Grundsätzlich wird man sagen können, dass es keine Bildwahrnehmung materieller oder imaginativer Provenienz ohne Beeinflussung durch das Unbewusste gibt. Das bewirkt die Macht der Bildwelten.

 

Die Begegnung der Hörer mit Bildwelten zwischen Materialität und Imagination

Für den Hörer ist der Nachvollzug von in Predigten auftauchenden Bildern am eindeutigsten, wenn diese Bezug nehmen auf die am Predigtort anwesenden Bilder und der Prediger sie zur Exemplifizierung seiner Ausführungen heranzieht. Diesem Bilderleben sind die Bilder verwandt, die in der Predigt verbal vermittelt werden und Szenen aus der Bibel oder anderer Herkunft beschreiben. Eine Predigt, die Bezug nimmt auf in der Kirche präsente Bilder, gibt den Hörern zunächst einmal eine Bildwelt vor, mit der sich der Prediger bewusstseinsnah auseinandersetzen kann. In nicht wenigen Predigten begegnen Hörer vielfältigen Szenen mit ihrer entsprechenden Bildwelt.

Alle diese im Text vorgegebenen und von der Predigt aufgenommenen szenischen Bilder führen beim Hörer über identifikatorische Prozesse zur Integrierung oder Abstoßung dieser Bilder. So können Predigthörer sagen: „ich war in Israel und habe alle diese Orte gesehen“, oder: „ich bin mit Jesus und den Jüngern in Gedanken von Galiläa nach Jerusalem gewandert“, oder: „auch ich hätte wie Petrus Jesus verraten“. Alle die damit verbundenen Bilder haben einen historischen und materiellen Hintergrund, können aber dann in eine imaginierte Szene einmünden, die den Hörer mit einer Entscheidung konfrontiert: „wandere ich mit Jesus“ (Nachfolge), und: „wie gehe ich mit Verrat um“? Die Bildszene, aus der Vergangenheit stammend, wird zu einer existentiellen Herausforderung des gegenwärtigen Hörers. Es gibt also eine Weise der Bilderfahrung, die sich gleichsam vor das vorgegebene/gehörte Wort schiebt bzw. an seine Stelle tritt.

Der Verstehensvorgang einer Predigt überschreitet bereits hier die Grenze eines nur an der Logik des Wortes ausgerichteten Predigthörens hin zu Imaginationen, die auf das individuelle und kollektive Unbewusste verweisen. Von einer Amplifikation des gegebenen Bildes spreche insbesondere dann, wenn sich beim Hörer Bilder einstellen, die der Mythologie, Mystik, Religion oder traumhaften Erlebnissen zuzuordnen sind. Auf diesem Wege brechen archetypische Bilder in das Bewusstsein ein.

Wenn ich Bilder, gleich welcher Provenienz, in einen Zusammenhang mit amplifizierenden Imaginationen bringe, verlasse ich die bloße Augenscheinlichkeit von Bildern. Ihre didaktische, informierende Intention oder ästhetischen Genuss vermittelnde Funktion sind sekundär. Man betritt den Bereich des Bilderlebens mit einer nicht gänzlich auslotbaren Tiefe. „Das Bild unterbricht durch den Einbezug menschlicher Einbildungskraft den gewohnten Weltbezug, indem es einer abwesenden Wirklichkeit mentale Anwesenheit verschafft“ (Krüger 2017, 266). Das betrifft insbesondere die Welt der Archetypen, die sich sowohl bei den materiellen Bildern als auch bei den durch die Dynamik der Imagination erweiterten Bildern zeigen können. Sie weisen über die individuelle Lebenswelt der Hörer hinaus und repräsentieren Grundkategorien menschlicher Existenz. Diese im Zusammenhang mit dem Hören einer Predigt auftauchenden archetypischen Bilder schöpfen ihre Vieldimensionalität und Lebendigkeit aus einem psychischen Impuls, gleichgültig ob „dieser veranlasst wird durch eine fest umrissene (sc. z.B. Predigt/Bibeltext) oder eine mehr oder minder vage Vorstellung, einen Zustand, ein Gefühl, eine Erinnerung, eine Phantasie, eine Traum- oder Wachvision, ein Geschehen usw., das wir in Worten nicht adäquat ausdrücken können, weil es in abstrakte Begriffe kaum zu fassen ist“ (Jacobi 1981, 34). Diese Vorgänge erlauben einen Einblick in seelische Prozesse, in die die Hörer hineingezogen werden können. „Aus seelischem Material wird also gewissermaßen eine andere Wirklichkeit geschaffen, eine Verstofflichung und Konkretisierung, die unser Gemüt und unser Wahrnehmungsvermögen direkt unter Umgehung intellektuellen Verstandes anspricht“ (Jung 1963, 612). Wenn dann solche Bilderfahrungen auftauchen, steuern sie das Hören und Verstehen, konturieren das Erleben, geben der Emotionalität ihre Ausprägung und generieren numinose Erfahrungen.

 

Dekonstruktion und Reformulierung

Die Theologin und Psychologin Schaap-Jonker (2007, 40) postuliert in ihrer Abhandlung unter dem Titel „Ohne den Hörer geht es nicht. Über die Rolle des Hörers und seiner psychischen Struktur im Predigtgeschehen“ eine Aufgabe an die Homiletik, der ich mich anschließen kann, weil sie meine Problemstellung tangiert: „Die Beachtung des Hörers innerhalb der Homiletik ist … eine psychische Notwendigkeit … Die eigene Aktivität der Hörer sollte durchdacht werden … Wenn aber Gottesdienstteilnehmer etwas anderes hören, als was der Prediger – nach seinem eigenem Bekunden – sagen wollte, weil sie nicht anders können, als von ihrem eigenen Bezugssystem und ihren eigenen psychischen Strukturen aus zu deuten, wie verhält sich das dann zu der Vorstellung von der Predigt als Wort ­Gottes?“

Eine mögliche Antwort auf diese Problemstellung habe ich mit meinem Hinweis auf die sich immer wieder einstellende Differenzerfahrung der Predighörer umkreist. Sie dekonstruiert eine Predigt und reformuliert sie zugleich. Der Hörer wird vor eine hermeneutische Herausforderung gestellt, nicht weniger als der Prediger in seiner Textauslegung. Der Hörer sucht nicht mehr allein den vom Prediger intendierten Predigtsinn. Die auftauchenden Imaginationen, Bilder, Einfälle und Assoziationen der Hörer werden gleichsam zu einem erweiternden „Text“ der manifesten Predigt. Auf dem Hintergrund der vorgegebenen Predigt fügen sich veränderte Bedeutungsnuancen ein, die nun nicht mehr für alle Predigthörer gleichermaßen gelten, sondern zu einem individuellen, autonomen Verstehensvorgang führen. Die biblischen Zeugnisse und ihre darauf basierenden Predigten werden aus dem Korsett der vom Predigttext und den vom Prediger vorgegebenen Festlegungen befreit, so dass die verdrängten und unbewussten Subtexte dem Bewusstsein fassbar werden können. Einen Indikator für diese Subtexte spiegeln die Bildeinfälle der Predigthörer. In meinem eingangs wiedergegeben Bericht darf vermutet werden, dass die beim Hörer auftauchenden Bilder ihn auffordern, sich zu fragen, ob er der Tischgemeinschaft Jesu angehören kann, eine ungelöste Schuldproblematik klären muss und inwieweit sein Sexualleben seinen gegenwärtigen Wünschen entspricht. Dem Hörer wird es nicht immer gelingen, einen Zusammenhang zwischen dem in der Predigt gehörten Wort und dem Bild, das er im Vollzug des zuhörenden Verstehens sieht oder imaginiert, herzustellen. Dann mag sich eine Irritation einstellen, die gleichsam als Echo einer Differenzerfahrung widerhallt und die dogmatische Frage, ob sich in der Predigt das Wort Gottes ereignet, offenlässt.

 

Literatur

Boehm, Gottfried (1994/1995): Die Wiederkehr der Bilder, in: Boehm, Gottfried Hg.) (1995), Was ist ein Bild ?, 2.Aufl. München, S. 12ff

Boehm, Gottfried (2015): Wie Bilder Sinn erzeugen, Die Macht des Zeigens, Berlin

Gräb, Wilhelm (1997): Der inszenierte Text, Erwägungen zum Aufbau ästhetischer und religiöser Erfahrung in Gottesdienst und Predigt, International Journal of Practical Theology Vol 1, S. 209-226

Grözinger, Albrecht (2008 ): Homiletik, Lehrbuch Praktische Theologie, Bd. 2, Gütersloh

Hermelink, J./Müske, E. (1995): Predigt als Arbeit an mentalen Bildern. Zur Rezeption der Textsemiotik in der Predigtanalyse in: Praktische Theologie 30, S.219-239

Jacobi, Jolande (1981): Vom Bilderreich der Seele, Wege und Umwege zu sich selbst, Freiburg im Breisgau

Jung, C.G. (1963): Zur Psychologie westlicher und östlicher Religionen, GW 11, Olten und Freiburg, S. 612

Jung C.G. (1967): Theoretische Überlegungen zum Wesen des Psychischen, in: Die Dynamik des Unbewussten, GW 8, Olten und Freiburg

Krüger, Malte Dominik (2017): Das andere Bild Christi, Spätmoderner Protestantismus als kritische Bildtheorie, Tübingen

Laplanche, J./Pontalis, J.-B. ( 1972): Das Vokabular der Psychoanalyse, Artikel: „Unbewusst, das Unbewusste“ Frankfurt, S. 562ff

Martin, Gerhard Marcel (1984): „Predigt als offenes Kunstwerk“? Zum Dialog zwischen Homiletik und Rezeptionsästhetik, in: Evangelische Theologie 44 /1984, S. 46ff

Schaap-Jonker, Hanneke (2007): Ohne Hörer geht es nicht. Über die Rolle des Hörers und seiner psychischen Struktur im Predigtgeschehen, in: Bitter,G./Heyen, H. (Hg.), (2007), Wort und Hörer. Beispiele homiletischer Perspektiven, LIT, Berlin

Schwier, Helmut/Gall, Sieghard (2008): Predigt hören – Befunde und Ergebnisse der Heidelberger Umfrage zur Predigtrezeption, Berlin

Stoellger, Philipp (2008): Iconic Turn – By Theology, Theologie als Bildtheorie – Avant la lettre- Zu den den bildtheoretischen Potentialen der Theologie, Https://kunst-Religion.de/wp-Content/uploads/2018/Iconic-_Turn_baTheology, S. 1-24

Stoellger, Philipp (2013): Die Macht der Bilder und die Kraft des Wortes, Vom Bild zur Schrift zum Bild, 1 – 2013 forum, S. 23–29

 

Über die Autorin / den Autor:

Prof. Dr. Dieter Wittmann, Jahrgang 1941, 1971 Promotion in Praktischer Theologie, Pfarrer in der Evang. Kirche der Pfalz, Pastoral­psychologe und Gruppenanalytiker, 1974-2007 Prof. an der Evang. Fachhochschule Ludwigshafen für Soziale Arbeit und Gesundheitswesen mit den Schwerpunkten Ethik und Krisen­intervention; Veröffentlichungen u.a. zum Gespräch zwischen Theologie und Tiefenpsychologie.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 4/2025

1 Kommentar zu diesem Artikel
23.04.2025 Ein Kommentar von Martin Ost Der Hinweis darauf, dass die Predigt erst in der Rezeption der Hörenden entsteht, dass es also mindestens so viele Fassungen einer Predigt gibt, wie es ihr Zuhörende gibt, ist sicher wichtig. Früher lernte man, eine Predigt zu gliedern wie einen Deutschaufsatz, meine Mutter musste in ihrer Schulzeit in einer kirchlichen Schule nach dem Gottesdienst die Gliederung der eben gehörten Predigt aufschreiben. Heute verlangen manche Gemeinden vor der Unterschrift als Bestätigung der Teilnahme am Gottesdienst ein "Thema" des Gottesdienstes: Das alles kommt aus der Erwartung, dass Predigt eine Schöpfung des Predigenden sei und die Hörenden möglichst nahe an dessen Texten bleiben. Mir scheint, davon haben wir inzwischen Abstand genommen - ein Gedanke, der Menschen bewegt und den sie mitnehmen ist in meinen Augen schon ein Erfolg einer Predigt, auch, wenn ich meine Predigt darin kaum wieder erkenne. Schwierig, wenn jemand eher das Gegenteil des Gemeinten gehört hat (Ist der Predigende dann schuld - in homiletischen Seminaren lehrte man uns das als Zeichen zu nehmen, dass man sich unklar ausgedrückt habe), schwierig vor allem, wenn jemand von dem so Gehörten bedrängt ist. Nun also Bilder - ich finde das einen interessanten Gedanken, schwierig, es näher zu erforschen; auch Traumbilder verschwinden mit dem Erwachen bei den meisten Menschen. Meine Erfahrung aber ist, dass ich weder beim Hören von Musik noch beim Hören einer Predigt Bilder sehe/erlebe (im Unterschied zu meiner Frau, die Musik in Bildern hört), sondern sprachlich angeregt werde, an eigenen Gedanken weiterdenke, manchmal einen Gedanken zu einem Text finde, an dem ich eben schreibe. Kurz: Bilder sehe ich nicht und ich vermute, dass das bei anderen Menschen zum Teil auch so ist. Ich finde mich um den Text der Predigt gedanklich kreisend, manchmal aussteigend und auf eigenen Wegen unterwegs, manchmal auch den gepredigten Text variierend und immer wieder zu den neu gesagten Worten zurückkehrend. Jedenfalls müssen wir damit rechnen, dass von unseren sorgsam überlegten Gedanken nur wenig wirklich im Kopf der Menschen ankommt und in ihrem Herzen bleibt. Was bleibt, haben wir wohl nicht wirklich in der Hand - gebe der Geist, es sei etwas Konstruktives und dem Leben Dienliches.
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