Theodizee ist nach allgemeinem Verständnis die Rechtfertigung Gottes angesichts seiner Zulassung des Übels und des Bösen in der Welt, das mit dem Glauben an seine Allmacht, Weisheit und Güte in Einklang zu bringen gesucht wird. Günter Scholz hat sich im Blick auf die Theodizeefrage auf eine interessante Spurensuche zu Dietrich Bonhoeffer und dem Propheten Hosea begeben.
Gisela Kittel zum 85. Geburtstag
Das Theodizeebekenntnis Dietrich Bonhoeffers
Am Anfang theologischen und philosophischen Denkens in Hinsicht auf die Theodizeeproblematik steht die Frage, die Antwort kann am Ende immer nur die Form des Bekenntnisses haben; denn sie bezieht sich auf Gott, der nicht bewiesen, nur bekannt werden kann. So bekennt Dietrich Bonhoeffer an der Wende 1942/43:
„Ich glaube, daß Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen.
Ich glaube, daß Gott uns in jeder Notlage soviel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen. In solchem Glauben müßte alle Angst vor der Zukunft überwunden sein. Ich glaube, dass auch unsere Fehler und Irrtümer nicht vergeblich sind und daß es Gott nicht schwerer ist, mit ihnen fertig zu werden, als mit unseren vermeintlichen Guttaten.
Ich glaube, daß Gott kein zeitloses Fatum ist, sondern daß er auf aufrichtige Gebete und verantwortliche Taten antwortet.“1
Das Theodizeebekenntnis impliziert, dass Gott sich aus sich selbst heraus rechtfertigt und sich nicht rechtfertigen muss. Die übliche Theodizee-Terminologie „tries to justify God in the world. But for Christian thinking God justifies the world, and that has been done in Christ“.2
Das Bekenntnis gliedert sich in ein vierfaches Credo. Das vierte kann als Zusammenfassung der ersten drei gehört werden: Gott wird geglaubt als Ansprechpartner; personal, d.h. als ein Wesen, zu dem ich kommunikativ in Beziehung treten kann, das sich bewegen lässt durch Anrede, Gebet und verantwortliche Taten. Gott wird geglaubt als „antwortendes“ Wesen, d.h. offen für menschliche Anrede und entsprechend handelnd in Macht, Weisheit und Güte. Gedanken etwa an eine dunkle Schicksalsmacht oder einen unbewegten Beweger, die die Theodizeefrage von vornherein unbeantwortet ließen, sind abwegig.
Im ersten Credo geht es um das Böse schlechthin, im zweiten um Notlagen, im dritten um unsere Fehler und Irrtümer. Diese Dreiteilung ist eine Stufenfolge vom verhängnisvollsten zum kleinsten Übel. Das Böse ist Folge der Emanzipation von Gott und hat eine eindeutig existentielle Qualität. Es ist dem Menschen seit seiner freiwilligen „Entzweiung“ mit seinem „Ursprung“ eigen3 und zugleich als Schuld vor Gott zu verantworten.4 Es gebiert fortzeugend Böses,5 Zertrümmerung aller christlichen Werte,6 letztendlich den Tod.7 Demgegenüber ist die Notlage ein situatives Übel, das veränderbar ist, wenn auch „mit Gottes Hilfe“. Schließlich tragen „Fehler und Irrtümer“ keine moralischen Wertungen in sich. Sie entspringen allenfalls dem Menschen als Mangelwesen. Man kann ihnen sogar noch etwas Positives abgewinnen, insofern sie „nicht vergeblich“ sind, sondern man aus ihnen vielleicht gar lernen kann.
Aufhaltung des Bösen
In Bonhoeffers „Ethik“ finden sich dafür ein exegetisches und ein zeitgenössisches Beispiel:
Als exegetisches Beispiel kann seine Auslegung von 2. Thess 2,7 gelten. Bonhoeffer deutet den, der den totalen Frevel, den Sturz in den Abgrund und damit die Herrschaft des Teufels noch „aufhalten“ kann, als eine von Gott geführte, staatliche Ordnungsmacht. Die Kirche habe die Aufgabe, das „Wunder“ zu verkündigen, welches Gott eintreten lassen kann und will: das sich entfaltende „Böseste“ aufzuhalten, durch jene Ordnungsmacht – oder gar durch eine neue Glaubenserweckung.8
Wer der „Aufhalter“ ist, der die totale Ausbreitung des Bösen (noch) verhindert, wird sich nicht mit letzter Eindeutigkeit sagen lassen. Eine verkündigungsorientierte Exegese kann darin den Staat als Werkzeug Gottes sehen (Bonhoeffer), sie kann aber auch die Wirkkraft der Gläubigen in der Welt namhaft machen, kann den Heiligen Geist meinen oder aber auch einen verborgenen Rest dessen, was uns gesagt ist (Mi. 6,8), in der Vernunft, die sich dem Chaos widersetzt. Die Uneindeutigkeit des Textes ermöglicht einer verkündigungsorientierten Exegese eine Übersetzung in die Verstehensweise ihrer Zeit.
Eine zeitgeschichtliche Verifikation von Bonhoeffers erstem und zweitem Glaubenssatz findet sich im zweiten Teil seiner „Ethik“: „… als sich unter dem Druck antichristlicher Gewalten klare bekennende Gemeinden sammelten, die … eine klare Entscheidung für oder wider Christus suchen mußten, … da empfing sie (scil. die Gemeinde) gerade durch die Konzentration auf das Wesentliche eine innere Freiheit und Weite, die sie vor ängstlichen Grenzziehungen bewahrte, … da fragte das verletzte Recht, die unterdrückte Wahrheit, die erniedrigte Menschlichkeit, die vergewaltigte Freiheit nach ihr oder vielmehr nach ihrem Herrn, Jesus Christus … .“9
Das „Böseste“ stellt sich dar in Gestalt der antichristlichen Gewalten, die aktuell in der Lage sind, Druck auszuüben: die Wahrheit zu unterdrücken, das Recht zu verletzen, Menschen zu erniedrigen, Freiheit zu vergewaltigen und zunichte zu machen. In dieser verzweifelten Situation ist Gott in der Lage, aus dem Bösesten Gutes entstehen zu lassen: Gemeindenmit einem klaren Bekenntnis zu Christus als dem Herrn über alle Mächte und Gewalten (Barmen I und II). Dieses Werk kann Gott freilich nur mit Menschen vollbringen, die für sich eine Entscheidung für diesen Herrn getroffen haben bzw. treffen, d.h. mit „Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen“. Ausschließlichkeitsanspruch Christi und Totalitätsanspruch der weltlichen Gewalten führen in eine „Notlage“. In ihr „empfängt“ die Gemeinde die „innere Freiheit und Weite“, d.h. die Kraft, den Kampf um die Wahrheit aufzunehmen. Der Empfang der Kraft ist essentiell. Die Kraft kommt nicht aus menschlicher Konstitution, sondern aus Gottes Hand. Sie wird je und je gegeben, nicht im Voraus, sondern der Situation angepasst; denn Gott weiß, was wir brauchen. In solchem Glauben müsste alle ängstliche Grenzziehung vor den antichristlichen Gewalten überwunden sein.
„dass aus Bösem Gutes werden kann“
In dem Bekenntnis, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will, ist die Theodizeefrage für immer beantwortet. Nicht mehr und nicht weniger wird bekannt, dass Gott die bösen, zum Tod führenden Werke der Menschen in der Lage ist umzukehren. Sicherstes Zeichen dafür ist das Kreuzesgeschehen, in welchem der Verstoßene und Geächtete durch seinen Tod alle Schuld der Menschen auf sich genommen und so die Versöhnung des Menschen mit Gott bewirkt hat.10 Gott selbst ist in diesem Geschehen reversibel wirksam und hat es durch das Geschenk des neuen Lebens für Christus und uns besiegelt. Insofern gilt: In Jesus Christus ist die Theodizeefrage beantwortet.
Dieser Glaubenssatz wird untermauert durch den Hinweis auf Gottes Können und Wollen. Darin spiegeln sich seine Allmacht und seine Güte, die sich für die Beantwortung der Theodizeefrage von jeher als konstitutiv erwiesen haben. Zugleich stellt sich damit die Frage nach der Rolle des Menschen in diesem Geschehen. Würde sie vernachlässigt, wäre von Gottes Gnade zu leichtfertig die Rede. Würde sie überbetont, bestünde die Gefahr der Selbstüberschätzung, wie sie in Bonhoeffers zweitem „Glaubensartikel“ angesprochen ist. Bonhoeffer löst das Problem durch den Gedanken der Perspektivität: „Gerade der in der Freiheit eigenster Verantwortung Handelnde sieht sein Handeln einmünden in Gottes Führung. Freie Tat erkennt sich zuletzt als Gottes Tat, Entscheidung als Führung, Wagnis als göttliche Notwendigkeit. In der freien Preisgabe des Wissens um das eigene Gute geschieht das Gute Gottes.“11 In diesem Sinn ist der frei handelnde Mensch in Gottes Handeln einbezogen.
Wer oder was wirkt das Gute?
Menschen, die Gott sich für die Umwandlung des Bösen in Gutes erwählt, werden näher beschrieben als solche, „die sich alles zum Besten dienen lassen“. Bonhoeffer zitiert Röm. 8,28. Das ist kein Zufall. Denn Röm. 8,28 enthält alles, was über die Kooperation Gottes mit dem Menschen zur Überwindung des Bösen zu sagen ist. Der Text liegt uns in zwei Varianten vor, ohne bzw. mit „Gott“ in der 3. Zeile:
Im ersten Fall ist „alles“ Subjekt: Alles zusammen wirkt hin zum Guten, ohne dass eindeutig gesagt wäre, wer oder was die Wirkursache ist. Nur das Ziel ist unmissverständlich das Gute. Wirkursache kann Gott oder der Mensch sein oder beide zusammen. Aber darauf legt diese Textfassung keinen Wert; denn alles wirkt zum Guten hin. Wer oder was dies veranlasst, bleibt offen und eine Frage der Perspektive. Indes lässt sich die Frage nach der Wirkursache noch einmal stellen, denn Zielperson ist ja der Mensch. Wirkt sich das Gute bei Menschen aus, die Gott lieben, dann wäre die Haltung des Menschen Wirkursache. Wirkt sich das Gute aber aus bei denen, die nach Gottes Ratschluss berufen sind, dann wäre Gott die Wirkursache. Beides steht hier nebeneinander, was auf eine perspektivische Betrachtungsweise des Verfassers schließen lässt. Darum ist es kein Zufall, dass Bonhoeffer diesen Vers hier zitiert.12
Im zweiten Fall ist „Gott“ Subjekt: Gott wirkt mit zum Guten. In dieser Version, offensichtlich eine spätere Variante, die bis ins frühe Mittelalter hinein zu verfolgen ist, ist Gott eindeutig Wirkursache eines Synergismus zwischen Gott und Mensch. Die ursprünglich rhetorisch bewusst geschaffene Perspektivität verliert dabei an Wirkung.
Die Perspektivität aufrecht zu erhalten, ist aber wichtig, weil nur dadurch ein Licht auf die dritte „Eigenschaft“ Gottes, die Weisheit, fällt. Gottes Weisheit verbindet sich in Bonhoeffers Bekenntnis mit der Widerstandskraft. Nicht nur, dass sie uns gegeben wird, Gott weiß auch, wieviel wir davon brauchen, und er gibt sie uns zu dem von ihm bestimmten Zeitpunkt. Das Wissen um das Wieviel und das Wann ist Gottes Vorherwissen. Seine Weisheit gibt uns die nötige Kraft zum rechten Zeitpunkt, stärkt dadurch unser Vertrauen auf ihn und lässt uns mit der uns zugeeigneten Kraft alle Not bestehen und überwinden.
Gegenüber dem ersten und zweiten Glaubenssatz, der jeweils eine theologische Schwere mit sich bringt, ist der dritte von einer erfrischenden Leichtigkeit. Er strahlt eine fröhliche Gelassenheit gegenüber unseren Fehlern und Irrtümern aus, nicht weil sie uns egal sein können, sondern weil auch Gott wohl darüber lacht, ebenso wie über unsere „vermeintlichen Guttaten“.
Aus Dietrich Bonhoeffers Bekenntnis lässt sich für die Theodizeefrage ableiten: Gottes Handeln ist von seinem Können und von seinem Wollen bestimmt. Im Können wird seine Allmacht offenbar, im Wollen seine Güte. Sein Können ordnet er seiner Güte ein. So wird er zur alles wandelnden Macht. Er wandelt die unheile Welt durch Kreuz und Auferweckung um zum Ort des sich realisierenden Heils, er wandelt den Sünder zum Gerechtfertigten, er gibt von seiner Kraft ab, damit auch wir Kraft zum Verwandeln haben.13
Wechselseitige Erschließung von biblischem Hoseabuch und Theodizeebekenntnis Bonhoeffers
An der Theologie Hoseas kann sich Bonhoeffers Glaubensbekenntnis bewähren. Es kann als hermeneutischer Schlüssel für die Prophetenschrift dienen, wie umgekehrt Bonhoeffers Bekenntnis durch das Buch Bewahrheitung erfährt. Hinzu kommt, dass Hosea der Umwandlung des Bösen in Gutes noch die dazu nötige innere Wandlung Gottes hinzufügt: Reue Gottes über zugedachtes Unheil führt zu unverbrüchlicher Treue gegenüber seinem „Sohn“ und „Volk“ (Hos. 11).
Hinsichtlich der theologischen Erschließung des Hoseabuches mithilfe von Bonhoeffers Theodizeebekenntnis werden die Kap. 1-3, 6,1-6 und der Zusammenhang der Kap. 11 und 14 betrachtet.
Hosea 1-3: Treue und Abwendung
Die Kap. 1-3 bilden in ihrer jetzigen Form eine symboldidaktische Einheit: Hosea soll durch seine Handlungen (zweimalige Heirat einer Ehebrecherin) Israel eine Lehre erteilen. Die Heirat mit der Kultdirne soll die Treuebeziehung Jahwes mit dem seit dem Bundesschluss immer wieder von ihm abfallenden Volk abbilden. Dieses Zeichen umfasst 1,2-3a. Es ist Indikativ und Imperativ, also indirekter Umkehrruf, zugleich. Ganz natürlich schließt sich die Schwangerschaft an, wodurch das Zeichen seine ganze Fülle erhält: Die Namengebung der Kinder zeigt, dass auf dem zerrütteten Treueverhältnis kein Segen liegt, sondern Liebesentzug die Folge ist (1,3b.4.6.8-9).
Die Zeichenhandlung des 1. Kap. umfasst anhaltende Treue Jahwes und seine Abwendung zugleich. Insofern spiegelt sie den Inhalt der authentischen Prophetenworte, wobei man an dieser Stelle der Zeichenhandlung noch nicht sagen kann, wohin sich Jahwes Herz neigt. Das ist indes auch nicht notwendig; denn eine Zeichenhandlung spiegelt den augenblicklichen Zustand wider, sie muss nicht die gesamte Prophetie in nuce enthalten.
Die Symbolhandlung wird von Jahwe weiter erklärt in 2,7-17: Israel hat sich durch den Baalskult prostituiert (2,7-17). Jahwe strengt daher ein Gerichtsverfahren gegen Israel an. Anklagepunkte, entsprechende Verurteilungen und Reuegedanken Israels sind in diesem Textabschnitt zu erkennen und in ein Format eingepasst, das es erlaubt, einerseits den vollen Gerichtsernst zu verdeutlichen (2,7-9a; 2,10-15), andererseits die fortdauernde Liebe Jahwes zu Israel zur Geltung kommen zu lassen (2,9b; 2,16-17).14
Gerade darin zeigt sich eine innere Wandlung Jahwes (2,16.17), die zwar noch nicht als herzzerreißendes Mitleid beschrieben werden kann, die dem (11,8.9) aber zuspielt und die auch eine Umkehr Israels möglich macht (2,18). Innere Wandlung Jahwes und Israels Umkehr sind in der Symbolhandlung verborgen angelegt und werden sich – so die Prophetenworte – mit Sicherheit entfalten (vgl. „Spruch des Herrn“ in 2,15.18.23). Gott wird Böses in Gutes wandeln, aus Liebe und Gnade. Er wird es tun, weil er es will.
Den machtvollen Willen spricht auch Bonhoeffer Gott zu, den Willen, aus dem Bösesten Gutes entstehen zu lassen. Der unbändige Wille zur Heimsuchung und Verwüstung wird sich verkehren zum unbedingten Willen, sein Volk nie und nimmer fallen zu lassen (vgl. 2,12-15 mit 2,16-25). – Nicht Israel ist es, das sich aus eigener Kraft vom Baalskult losreißen kann, sondern der Herr selbst ist es, der Israel auf den rechten Weg lockt (2,16), der Herz und Mund von den Baalsbekenntnissen reinigt (2,18f). Der Herr ist es, der einen neuen Bund schließen wird mit Israel, der Frieden mit der Umwelt und mit den Nachbarn einschließt (2,20), einen ewigen Ehebund auf der Grundlage von Gerechtigkeit und Recht, von Liebe und Erbarmen (2,21) und von Treue (2,22).
In diesem Zusammenhang wird auch der Fluch von den Nachkommen genommen sein: „fruchtbares Jesreel“, „Erbarmen“, „mein Volk“. Gott selbst evoziert mit der Anrede „mein Volk“ die Erkenntnis: „Du bist mein Gott“ (2,25; vgl. 2,22). Sie kommt nicht aus eigener Einsicht, sondern weil Gott sein Volk in ungebrochener Treue anspricht. Ein solcher Glauben befreit von religiösem Leistungsdenken, schützt vor Überschätzung menschlicher Kraft und gibt dem Walten Gottes Raum. Ein solcher Glaube wird auch von Bonhoeffer in seinem zweiten Glaubensartikel bekannt: Gott gibt uns Kraft nicht im Voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst verlassen, sondern allein auf ihn.
Insgesamt gesehen stellen Symbolhandlung (1,3b.4.6.8-9) und sie entfaltende Prophetenworte (2,7-25) eine Einheit dar; denn die Fluchnamen von 1,9 wandeln sich in Segensnamen (2,25). Der Wille Gottes zum Heil, der auch das Böseste zum Guten zu wandeln vermag, findet hier proleptisch seinen Ausdruck.
In Kap. 3 wird eine weitere Symbolhandlung von Hosea gefordert. Sie scheint der in Kap. 1 ähnlich, hat jedoch eine etwas andere Zielrichtung. Während die Ehe mit einer Dirne in Kap. 1 zwar einen symbolischen Eigenwert hat (Gott liebt Israel immer noch und trotz allem), jedoch auf Nachkommenschaft zielt, die ihre Identität aus fremden Kulten und Kulturen bezieht, ist die erneute Ehe in Kap. 3 eine Symbolhandlung in sich, gedeutet in 3,1b: „(Liebe sie) so, wie der Herr die Söhne Israels liebt, obwohl sie sich anderen Göttern zuwenden … .“ Ziel ist die totale Isolierung Israels von seiner religiösen und politischen Umwelt, damit es in dieser Situation zur Besinnung komme (3,4.5). Kap. 3 scheint trotz des Ich-Stils eine jüdisch-messianische Ergänzung aus der Zeit des zweiten Exils zu sein (vgl. in 3,4f die Daviderwähnung, die Zeitangaben „lange Zeit“, „danach“, „in der letzten Zeit“ und das Verb „umkehren“, auch mit Blick auf den Zion).15
Hosea 6,1-6: Aufruf zur Umkehr
Formal unterscheidet sich Hos. 6,1-6 vom Kontext. Hier erhält das gescholtene Volk das Wort. Es handelt sich um einen Aufruf zur Umkehr, die Grundlage, auf der Jahwe auch seinen inneren Wandel und die Wende für das Volk vollziehen kann. Kohortativ und Gottes Aktivität gehören zusammen (6,1). Unserem „Streben“ entspricht das „Kommen“ Gottes. Man strebt/kommt sich entgegen. Der Aufruf zur Umkehr hat – typisch Hosea – die Aufforderung zur „Erkenntnis“ Gottes zum Inhalt (immer in doppeltem Sinn: Einsicht und Eheverhältnis) (6,3) und knüpft somit an 2,22; 4,6; 5,4 an. 6,1-3 passt von daher in das prophetische Gesamtkonzept des Hoseabuches. Inhaltlich ist es ein Vertrauensbeweis, der der Kraft und der Treue des Herrn gilt. Die Nähe zum Gebet ist erkennbar (Ps. 60).
Jahwe ist ansprechbar. Er ist kein zeitloses Fatum, sondern er hört auf aufrichtige Gebete und antwortet auf verantwortliche Taten (Bonhoeffer). Zugleich ist er in seinem Handeln, auch in seinem Strafhandeln, verunsichert: „Was soll ich mit dir tun, Ephraim? Was soll ich mit dir tun, Juda?“ (6,4).
Jahwes Suchen nach einem wie auch immer gearteten Verhältnis zu seinem Volk findet sein Ziel in 11,8.9: „Wie könnte ich dich preisgeben, Ephraim …?“ Hier allerdings ist Jahwe noch nicht zur inneren Wandlung durchgedrungen. Er will sich vielmehr „suchen“ lassen, bevor er sich wieder seinem Volk zuwendet (5,15). Aber er weist die Richtung. Er antwortet auf aufrichtige Bekenntnisse: „Ich habe Lust an der Liebe und nicht am Opfer, an der Erkenntnis Gottes und nicht am Brandopfer“ (6,6). Aber der Weg zu seinem inneren Wandel ist noch weit und aus seinen Worten noch nicht zu erkennen (9,15; 10,10).
Hosea 11 und 14: Ein Blick ins Herz Gottes
Der Zirkel von Gottes innerer Wandlung und Ephraims Umkehr wird durch das Nebeneinander der Kap. 11 und 14 beschrieben:
Kap. 11 zeigt eine in sich geschlossene Struktur von Anklage (11,1-5b), Begründung (11,5c-7) und Reue (11,8-9). Die V. 10 und 11 sind sekundär. Sie sind reine Prophetenworte (V. 10-11a) aus der Zeit nach der Katastrophe von 722, verstärkt durch ein hinzugefügtes Herrenwort (V. 11b), das stilistisch nicht zu den V. 8 und 9 passt, weil hier von Ephraim nicht in der 2. Person Singular, sondern in der 3. Person Plural die Rede ist.16
Das Kap. 11 und darin V. 8 und 9 sind die theologische Mitte des Hoseabuches. Es ist eine Selbstreflexion Jahwes und lässt uns in seine Gedanken und in sein Herz schauen. Es zeichnet das Bild Jahwes als eines von Liebe und Zorn zerrissenen Gottes, damit das Bild eines menschlichen Gottes, der emotional ansprechbar ist und bleibt, der aber zugleich „Gott und nicht ein Mensch ist“, darum als der Heilige seinem Volk die Treue durch alle Verwerfungen hindurch bewahrt. Darum führt die Revolution im Herzen Jahwes zum Mitleid(en) mit seinem Volk, zum Erbarmen und zum Wiederaufflammen der Liebe, aus der Israel nie herausfallen kann und wird (vgl. 2,18-25).17
Kap. 14 ist das theologisch notwendige Pendant zu Kap. 11: Der inneren Wandlung Gottes entspricht die Umkehr Israels. Umkehr geschieht durch Bußgebet (V. 3) und Sündenbekenntnis, welches hier die Form des Gelöbnisses von Besserung hat (V. 4). Innerhalb dieses Kapitels folgt darauf Jahwes Heilungsversprechen auf der Grundlage der Abwendung des Zorns. Man kann die formale Folge als sachliche Folge ansehen; aber das „denn“ in V. 5b deutet auf eine vorausgegangene Wandlung Jahwes.18 Diese könnte man auch in der formalen Folge von Kap. 11 und 14 erkennen. Aber formale Folgen sollten nicht überbewertet werden, ist doch anders ein fortlaufender Text nicht zu erstellen.
Auf jeden Fall hat ein Redaktor die beiden Kapitel (mit oder ohne Einschub von 12,1-14,1) bewusst zusammengebunden durch 14,9. Hier wird Ephraim, das in 14,2-8 nicht vorkam, wieder aufgenommen und so auf 11,3 rückverwiesen.
Die bleibende Bedeutsamkeit von Bonhoeffers Theodizeebekenntnis und biblischem Hoseabuch
Die beiden Kapitel belegen noch einmal exemplarisch Bonhoeffers Glaubensbekenntnis:
Gott kann aus dem Bösesten Gutes entstehen lassen. Das Böseste, was Ephraim tun kann, ist die Abkehr von Jahwe, die Aufkündigung des Treuebundes, und die Hinwendung zu „Baal, dem Hohen“, der aber nichts vermag (vgl. auch 9,10). Aus dieser Ursünde resultieren alle möglichen Schlechtigkeiten, die Ephraim in den Abgrund führen (4,1-3; 6,7-7,7). – Aber Gott kann das wenden: „Wie kann ich dich preisgeben …“ (11,8). Gott kann Israel nicht seinem Schicksal ausliefern. Dann aber kann er das Gegenteil; denn er ist Gott und nicht ein Mensch. Er kann Israel „heilen“ (14,5; vgl. 6,1) und wieder zum Blühen bringen. Er kann es, weil er es will: „Ich will nicht tun nach meinem grimmigen Zorn …“ (11,9); „Ich will für Israel wie der Tau sein …“ (14,6). Gott kann und will wenden, weil er selbst eine umwälzende Wandlung in sich vollzogen hat: vom vernichtenden Zorn zurück zur heilenden Liebe (11,8.9).
Dazu braucht er Menschen, die sich alles zum Besten dienen lassen. Es sind die Menschen, die dem Ruf des Propheten folgen: „Bekehre dich, Israel …“ (14,2). Es sind die Menschen, die zur rechten Gotteserkenntnis gefunden haben: „… bei dir finden die Verwaisten Erbarmen“ (14,4). Die Götter der Macht (Assur, Streitrosse, monumentale Werke) sind für sie nicht mehr relevant, sondern einzig der Gott des Mitleid(en)s (11,8) und des Erbarmens (14,4).
In der religiösen Umwelt Israels ist es nicht leicht, den Jahweglauben in seiner Exklusivität durchzuhalten, zumal Israel/Ephraim wie auch Juda politischem Druck der angrenzenden Großmächte ausgesetzt sind, der nicht zuletzt auf die vermeintliche Stärke der Staatsgötter verweist. Hier ist Widerstandskraft vonnöten, die letztlich durch das Prophetenwort, sei es eigenes oder eingegebenes, verliehen wird.
Widerstandskraft wächst auch durch Kommunikation mit Jahwe, durch Gebet und verantwortliche Taten. Der Prophet legt dem bußfertigen Volk ein Gebet in den Mund („Vergib uns alle Sünde …“, 14,4), das in ein Gelöbnis mündet. Dieses Gelöbnis hat Taten der Barmherzigkeit zur Folge (14,4), so wie sie Jahwe schon immer fordert (6,6). Dieses Gebet wird ganz offensichtlich erhört, und die Antwort Jahwes folgt unmittelbar.
Darin besteht die bleibende Bedeutsamkeit sowohl des Hoseabuches als auch von Bonhoeffers Glaubensbekenntnis: Es gibt Perspektiven der Hoffnung nach einer politischen, gesellschaftlichen, religiösen Katastrophe. Für Hosea waren es die 720er Jahre v. Chr., für Bonhoeffer die 1940er Jahre n. Chr. Es gibt die Aussicht auf einen Neuanfang, weil Gottes Versöhnungsbereitschaft stärker ist als jedes Preisgeben in den freien Fall.
Anmerkungen
1 D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung (E. Bethge [Hg.]), Berlin 21961, 19f.
2 D. Bonhoeffer, „The Theology of Crisis and its Attitude Toward Philosophy and Science“, in: Ders., Gesammelte Schriften Bd. 3 (E. Bethge [Hg.]), München 21966, 110-126, hier: 125f. – Vgl. auch K. Busch Nielsen, Die gebrochene Macht der Sünde. Der Beitrag Dietrich Bonhoeffers zur Hamartiologie, Leipzig 2010, 318f.
3 D. Bonhoeffer, Ethik, (E. Bethge [Hg.]), München 1966, 19-22.
4 Verantwortung führt durch die Gnade Christi in die Schulderkenntnis und von da ins allumfassende Schuldbekenntnis. Schuld ist einzig aufgehoben in der Rechtfertigung durch die volle Schuldübernahme Jesu Christi, wodurch mir Erneuerung widerfährt in der Teilgabe an der Gestalt des gekreuzigten (gerichteten) und auferstandenen (zu neuem Leben erweckten) Christus (Bonhoeffer, Ethik, 117-127). – Vgl. auch Busch Nielsen, a.a.O., 349-352.
5 Bonhoeffer, Ethik, 119f.
6 Sie zeigt sich in pseudoreligiösen Ideologien (ebd., 109) und führt zur Antastung des individuellen Lebensrechts zugunsten des angeblichen Vorrechts der Volksgemeinschaft und der Bewertung des individuellen Lebens allein unter utilitaristischen Gesichtspunkten (ebd., 158-176). – Die Judenfrage kann in der 1940 entstandenen Ethik nur mit Hinweis auf Jesus, den Juden, aufgenommen werden, außerdem mit dem Satz: „Eine Verstoßung der Juden aus dem Abendland muß die Verstoßung Christi nach sich ziehen“ (ebd., 95).
7 Der durch das Wissen um Gut und Böse von Gott getrennte Mensch „ist dem Tode überantwortet“ (ebd., 22).
8 Ebd., 114f.
9 Ebd., 62 (kursiv von mir).
10 „… der Abgrund der Liebe Gottes umfaßt auch noch die abgründigste Gottlosigkeit der Welt“ (Ebd., 75). – Zu Bonhoeffers Versöhnungsverständnis vgl. Busch Nielsen, a.a.O., 71-76, hier: 79: Im Kreuzesgeschehen wird die „Verdrängung und … Abwesenheit [Gottes] zur Anwesenheit gewendet.“ Zur Überwindung des Bösen am Kreuz vgl. a.aO., 316, 341 u.ö.
11 Bonhoeffer, Ethik, 265.
12 Bonhoeffers Paraphrase „die sich alles zum Besten dienen lassen“ zeigt genau die aktive Passivität jenes Menschen, der das Wissen um das eigene Gute an die Güte Gottes preisgibt. – Im Übrigen kommt auch die paulinische Einleitung „Wir wissen aber …“ Bonhoeffers Denken entgegen; denn unser Wissen als solche, die wir durch Christus in die Einheit mit Gott hineingenommen sind, kann einzig darin bestehen, dass wir nur Gott wissen (Bonhoeffer, Ethik, 19f).
13 Vgl. dazu auch den Schluss von Bonhoeffers Antrittsvorlesung „Die Frage nach dem Menschen in der gegenwärtigen Philosophie und Theologie“ (Berlin, 31. Juli 1930) in: Bonhoeffer, Gesammelte Schriften Bd. 3, 62-84, hier: 81f.
14 2,1-3 ist als Summarium von 2,18-25 sekundär; 2,4-6 fällt in seiner Schärfe aus der Symbolhandlung und deren Deutung heraus. Es gehört zum scharfen Gerichtston von 12,1-14,1.
15 Anders J. Jeremias, Der Prophet Hosea, ATD 24/1, Göttingen 1983, 52-58.
16 Jeremias, a.a.O., 147.
17 12,1-14,1 wirkt eingeschoben. Es sind späte Sprüche, die die Niederlage von 722 reflektieren (vgl. 13,8-10). – Zum Einzelnen vgl. M. Schott, „Die Jakobpassagen in Hosea 12“ in: ZThK 112/2015, 1-26.
18 E. Bons, Das Buch Hosea, NSK.AT 23/1, Stuttgart 1996, 169, spricht von „doppelte(r) Umkehr, d.h. Jahwes und Israels“, um den Zirkel zu beschreiben. A. Deissler, Zwölf Propheten. Hosea, Joël, Amos, Würzburg 1981, sieht das Handeln Gottes nur wirksam durch „eine einschwingende Mitbewegung des menschlichen Partners“ (62).
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 4/2025