So gut wie jeder Kirchenraum verfügt über sie, doch selten finden sie wirklich Beachtung: Paramente in evangelischen Kirchen. Stephan Lüttich erläutert die Geschichte und Bedeutung eines zum Nischenprodukt gewordenen religiösen Kunstwerks, das weit mehr ist als bloße Dekoration gottesdienstlicher Orte.*
Ein aktuelles Thema: Drei Beispiele
Ähnlich wie in vielen Diakonissenmutterhäusern und anderen evangelischen Frauenklöstern wird auch im Hannoverschen Kloster Marienwerder1 die Tradition der evangelischen Paramentik gepflegt. Träger der Arbeit ist seit 1956 ein Verein. Er verbindet Menschen, die sich für liturgische Textilien interessieren, die historische Kulturtechnik des Klosterstichs erlernen wollen und gemeinsam an der Erstellung neuer Paramente arbeiten.
Im Rahmen einer Mitgliederversammlung war vor einigen Jahren ein neuer Vorstand gewählt worden, der ins Vereinsregister eingetragen werden musste. Der damit beauftragte Notar ist in verschiedenen Zusammenhängen immer wieder für die Klosterkammer Hannover tätig und deshalb eigentlich auch mit kirchlichen Fragen und Themen vertraut. Nach einem Blick in die Satzung schaute er die anwesenden Vorstandsmitglieder mit großen Augen an und fragte, was denn das wohl sein mochte: Paramente …
Die Anekdote macht deutlich: Das Thema dieses Beitrags ist nicht nur in der breiten Öffentlichkeit völlig unbekannt. Auch in Kreisen, die trotz der allgemeinen Säkularisierungsentwicklungen in unserer Gesellschaft noch eine Nähe zu Kirche und Gottesdienst bewahrt haben, ist es nicht sehr populär. Um es einmal vorsichtig auszudrücken.
Wer sich dennoch mit dem Schmuck der Altäre beschäftigt, befindet sich trotzdem nicht in schlechter Gesellschaft. Das mögen drei Beispiele aus jüngerer und jüngster Zeit illustrieren.
Ein QR-Code als Antependium
Das erste Beispiel stammt aus der traditionsreichen von Veltheim-Stiftung im Kloster St. Marienberg in Helmstedt. Die dortige Werkstatt wurde schon 1862 gegründet und ist einer der ältesten Orte evangelischer Paramentik in Deutschland.2 Im Zugehen auf das Reformationsjubiläum entstand dort 2016 ein ganz besonderer Altarbehang, ein Antependium. In klassischer Handwerkstechnik wurde ein rot-weißer QR-Code, wie er heute an vielen Stellen des Alltags zum Einsatz kommt, auf einen weiß-schwarz krakelierten Hintergrund gestickt.
Schon 1994 hatte der japanische Entwickler Masahiro Hara den QR-Code erfunden, um die Fertigung der Automobilindustrie zu optimieren. Mittlerweile hat er fast überall den klassischen Strichcode abgelöst, weil er viel mehr Informationen auf engstem Raum transportieren kann. Die Vorlage für das Marienberger Reformationsparament stammt von dem Bremer Künstler Michael Weisser, der sich schon seit vielen Jahren künstlerisch mit diesem digitalen Code auseinandersetzt.3 Er versteht den QR-Code als Schnittstelle zwischen analoger und digitaler Welt und will seine künstlerisch-kulturellen Dimensionen erschließen.
Ergebnis der Arbeit zum Reformationsjubiläum ist ein QR-Code, den der Künstler selbst als „eine digitale Ordnung“ deutet, „die dem analogen Chaos entsteigt. Dabei steht weiß symbolisch für das Licht und für die Wahrheit Gottes und rot für die Farbe des Blutes Christi“.4
Die besondere Pointe ist, dass der QR-Code auf dem Antependium wie jeder andere mit dem Smartphone gelesen werden kann. Nach der ursprünglichen Intention des Künstlers sollte der Code auf eine eigens für diesen Zweck komponierte Vokalmusik verlinken, die das oft vertonte lateinische Gebet „Pie Jesu“ mit den Mitteln der zeitgenössischen Musik interpretiert. Leider funktioniert der Link nicht mehr, sondern führt nach der Schließung der Paramentenwerkstatt in die unbestimmte Weite des Internets.
Dennoch: Das Parament als Schnittstelle von traditioneller Handwerkskunst und moderner Computer-Technologie, von digitalen Bildwelten und religiösen Inhalten, von klassischen Gebetstexten und zeitgenössischen künstlerischen Interpretationen – ein sehr aktueller Fokus!
Upcycling für ausrangierte liturgische Textilien
Das zweite Beispiel ist ein Lichtbild des Künstlers Gerhard Bär. Seit 2021 ist es im Erzbischöflichen Ordinariat, der Hauptverwaltung des katholischen Erzbistums Berlin zu sehen. Sein Titel lautet „Parament I“. In einem Leuchtkasten hat der Künstler ausrangierte liturgische Textilien aus Kunststofffasern mit einer speziell hierfür entwickelten Upcycling-Technik bearbeitet zu einem Bild arrangiert. Aus plastifizierten Stoffresten entsteht die überraschende, sehr ästhetische Anmutung eines hinterleuchteten Kirchenfensters. Ganz ähnliche Arbeiten hat Bär auch in seiner Serie „Holy Garns“ verwirklicht.
Seit 1992 beschäftigt sich der Künstler mit Objekten aus wiederverwerteten Kunststoffen. Die Botschaft dieser Arbeiten ist oft politisch und mahnt einen nachhaltigen Umgang mit den Ressourcen an. In diesem Sinn interpretiert der Jesuit und Künstlerseelsorger Georg Maria Roers das Werk von Gerhard Bär. „Parament I“ versteht er vor allem als ein gelungenes Beispiel für künstlerisches Upcycling und die kreative Transformation von Materialien. Auch Paramente seien dem Wandel des Zeitgeistes unterworfen. Bärs Schaffen mache daher „aus Mode, die aus der Mode gekommen ist, ein Werk, das über eine Saison hinaus bewundert werden kann.“5
Vielleicht wird man hier aber noch eine weitere Bedeutungsebene entdecken dürfen. Denn es sind ja nicht umsonst gerade nicht mehr verwendete liturgische Textilien, die zu einem neuen, ansprechenden Ganzen zusammengefügt werden. Überträgt man diese künstlerische Aussage auf die aktuelle kirchliche Situation wird hier ein Fragehorizont berührt, der sicherlich viele umtreibt: Was kann aus den Resten und Trümmern dessen, was wir bisher als unsere Kirchen gekannt haben, Neues entstehen – ganz anders, aber interessant, attraktiv und auf eine seltsame Weise vielleicht auch schön?
Ein Salbungsschirm als Sichtschutz
Ein drittes Beispiel stammt ebenfalls aus jüngerer Zeit. Millionen von Menschen allein in Deutschland haben es am 6. Mai 2023 im Fernsehen beobachten können: der liturgische Wandschirm, der bei der Krönung Charles III. in der Westminster Abbey verwendet wurde. Der Höhepunkt der Krönungsliturgie der englischen Könige vollzieht sich trotz des dicht gefüllten Kirchraums unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Während der Salbung durch den Erzbischof von Canterbury wird der Monarch den Blicken der Gottesdienstgemeinde durch den „Anointing Screen“, den Salbungsschirm, entzogen.6
Dieser Sichtschutz besteht aus drei miteinander verbundenen, mit Stoff bezogenen Rahmen.7 Die aufgestickten Motive wurden von dem griechisch-orthodoxen britischen Ikonenmaler Aidan Hart entworfen und von der Royal School of Needlework mit Hand- und Digitalstickerei umgesetzt. Während die beiden seitlichen Rahmen ein schlichtes Kreuz zeigen, ist auf dem mittleren Schirm ein prächtig gestalteter Baum zu sehen, dessen 56 Blätter die Mitgliedsstaaten des Commonwealth repräsentieren. Am Fuß des Baums finden sich das königliche Monogramm und ein Schriftband mit einem Wort der heiligen Juliane von Norwich. Eine Friedenstaube und zwei Posaunenengel krönen das Bild, das von einem goldenen Stern überstrahlt wird, der die göttliche Gegenwart symbolisieren soll. Der Entwurf inspiriert sich an einem Glasfenster, das 2002 anlässlich des Goldenen Thronjubiläums von Königin Elizabeth II. für die Kapelle des St. James’ Palace geschaffen wurde. Besonders wichtig war dem König, dass bei der Herstellung des Wandschirms ausschließlich nachhaltige Materialien, unter anderem wiederverwendete Stickwolle, eingesetzt wurden.
Auch wenn es einer Weltöffentlichkeit bekannt geworden ist: Künstlerisch ist dieses Objekt sicherlich am wenigsten spannend. Die Ästhetik entspricht der des ausgehenden 19. Jh. Für Großbritannien und das Commonwealth ist die auf dem Parament dargestellte Motivik aber natürlich von allerhöchster politischer und gesellschaftlicher Bedeutung.
Drei Beispiele, die zeigen, dass Paramente alles andere als von gestern sind, sondern ganz aktuell Künstlerinnen und Künstler zur Auseinandersetzung anregen – obwohl sie im alltäglichen kirchlichen Leben kaum eine Rolle spielen. Vielleicht ist das eins der Probleme der Kirchen heute: Sie sind verstrickt in Struktur- und Finanzdebatten und verlieren die Schätze aus dem Blick, die das kirchliche Leben jahrhundertelang geprägt haben. Wobei es manchmal gerade diese Dinge sind, die für Menschen attraktiv sind, die nicht zur traditionellen kirchlichen Klientel gehören, aber dennoch religiös nicht unmusikalisch sind.
Ein Thema mit Geschichte: Drei Jahreszahlen
Aber woher stammt denn diese heute vielen Menschen fremd gewordene Tradition der Paramente, der liturgischen Textilien in den Kirchen der Reformation? Eine Antwort lässt sich im Blick auf drei Jahreszahlen formulieren: 313, 1577 und 1858.
313: Erste öffentliche Gotteshäuser
Das Jahr 313 markiert mit dem so genannten Mailänder Edikt eine weltgeschichtliche Wende, die mit dem Namen des römischen Kaisers Constantin verbunden ist. Das Christentum wird nun nicht mehr nur geduldet, sondern kann sich langsam aber sicher zur Staatsreligion des römischen Reiches entwickeln. Damit kommt die christliche Kirche aus einer Nischenexistenz im Halbdunkel von Hauskirchen und Katakomben ins Licht der großen Welt. Waren Gottesdienste vorher fast ausschließlich in Privathäusern gefeiert worden, werden nun öffentliche Gotteshäuser nach dem Modell der römischen Markthalle, der Basilika, errichtet.
Im Osten des Reiches entsteht mit Konstantinopel eine neue Hauptstadt. Hier entwickelt sich ein von den orientalischen Kulturen beeinflusstes Hofzeremoniell, das auch auf den Stil des christlichen Gottesdienstes Einfluss ausübt. Eine wichtige Rolle spielen dabei kostbare Stoffe.
Auch wenn sie aus einer ganz anderen Zeit stammt: Die Darstellung kostbarer Vorhänge im Palast des Ostgotenkönigs Theoderich des Großen auf einem Mosaik des 5. Jh. in der Basilika Sant’Apollinare in Ravenna8 kann vielleicht eine Anmutung davon geben, wie ein Raum im kaiserlichen Palast in Konstantinopel wohl mit Stoffen geschmückt war.
Allmählich werden die Alltagsgegenstände, die bislang zur Feier des Gottesdienstes verwendet wurden, veredelt und nur noch im liturgischen Rahmen verwendet. Nach und nach entstanden so bestimmte, klar abgegrenzte Formen von Textilien für verschiedene liturgische Funktionen und Ämter – der Beginn der Paramente.9
1577: Liturgische Textilien als „Adiaphora“
Als zweites, für die Entwicklung der evangelischen Paramentik wichtiges Datum kann das Jahr 1577 verstanden werden, in dem die so genannte Konkordienformel veröffentlicht wurde.
Als 1548, zwei Jahre nach dem Tod Martin Luthers, Kaiser Karl V. mit dem so genannten Augsburger Interim die Einheit der Kirche durch Wiedereinführung katholischer Riten wiederherstellen wollte, formulierte Luthers Schüler Philipp Melanchthon mit dem Leipziger Interim einen Gegenvorschlag: In den „Adiaphora“10 könnten sich die Protestanten der katholischen Kirche gegenüber kompromissbereit verhalten, nicht jedoch in den zentralen Glaubensartikeln. Und liturgische Textilien wurden eindeutig unter diese Adiaphora eingeordnet.11
Dieser Vorschlag löste heftige Diskussionen aus. Letztlich setzte sich die moderate Position durch: 1577 wurde in Artikel X der Konkordienformel festgelegt, dass Kirchengebräuche, „die in Gottes Wort weder geboten noch verboten sind, sondern mit gutem Vorsatz in die Kirche eingeführt werden um guter Ordnung und guten Gelingens willen oder damit die christliche Zucht zu erhalten“12, fortgeführt werden dürften – aber nur, wenn sie nicht als verpflichtend vorgeschrieben werden. Ohne diesen Kompromiss im so genannten Adiaphoristischen Streit gäbe es im Luthertum heute keine Paramente. Anders als in den lutherischen Kirchen des Nordens, wo auch die liturgischen Gewänder bis heute üblich sind, verschwanden farbige Paramente in Deutschland dennoch allmählich aus der lutherischen Praxis.13
1858: Die „Hülle“ des Sakraments
Das sollte sich erst im 19. Jh. wieder ändern. Pastor Wilhelm Löhe hatte 1854 die Diakonissenanstalt Neuendettelsau gegründet, einen der ersten und bis heute größten diakonischen Träger in Deutschland, der seit 2019 unter dem Namen „Diakoneo“ firmiert.
Wilhelm Löhe war aber nicht nur an der diakonischen Sorge um die Armen und Benachteiligten interessiert. Sein theologisches Interesse galt auch der Kirche und den Sakramenten. Aus Vorträgen, die er für die Diakonissenschülerinnen gehalten hatte, entstand 1858 eine Schrift, die unter dem Titel „Vom Schmuck der Heiligen Orte“14 weite Verbreitung fand.15
Löhe geht davon aus, dass die ästhetische Gestaltung des Kirchenraums keine Nebensache ist, sondern dass der Raum die gottesdienstlichen Vollzüge und das Gebet der Gläubigen unterstützen kann. Dazu gehören auch und gerade liturgische Textilien. Hintergrund für Löhes Gedanken ist eine altlutherische Theologie, die er für sich auch in Abgrenzung zu den vor allem politisch begründeten Unions-Bewegungen der Zeit wiederentdeckt hatte. Das ist eine durchaus konservative Position. So formuliert er 1865 in einem Brief: Alle „christliche Paramentik […] gründet […] ganz und gar im Sakrament des Altars. Das Sakrament ist die Fülle und das gesamte Paramentenwesen die Hülle.“16
Löhe bleibt nicht bei diesen theoretischen Überlegungen stehen, sondern gründet 1858 auch eine Werkstatt, in der die Diakonissen Paramente herstellen. Bis heute besteht diese älteste evangelische Paramentenwerkstatt als Teil des Diakoneo-Konzerns.
Mit Blick auf die aktuelle Situation der Kirchen könnte man besonders hervorheben, dass am Anfang der modernen Diakonie neben dem tätigen Einsatz zur Bewältigung der sozialen Fragen der Zeit auch und mit gleichem Recht eine tiefe Begeisterung für Gottesdienst und Gebet und deren ästhetische Gestaltung stehen. Kirchliches Leben lässt sich niemals auf Sozialarbeit oder zivilgesellschaftliches Engagement reduzieren. Wenn und wo das geschieht, schafft sich die Kirche selber ab und wird ihrem eigentlichen Auftrag nicht gerecht.
313, 1577 und 1858: Ohne die konstantinische Wende, ohne das Durchsetzen einer moderaten Position beim Adiaphoristischen Streit, ohne Wilhelm Löhe und ähnliche Vertreter eines Altluthertums Mitte des 19. Jh. würde es heute keine evangelische Paramentik geben.
Ein Thema mit Relevanz: Theologische Gedankensplitter
Nach dem einleitenden Blick auf die Aktualität des Themas und einem kurzen Gang durch die Geschichte der Paramentik stellt sich natürlich auch die Frage, ob und wenn ja welchen Sinn Paramente in unseren Kirchen heute überhaupt noch haben können.
Ich bin überzeugt davon, dass sie einen Sinn haben und dass dieser Sinn über die bloße Dekoration des Gottesdienstraumes hinausgeht. Eine mögliche Begründung dieser Überzeugung lässt sich aus der Semiotik, der philosophischen Lehre von den Zeichensystemen, ableiten. Das ist zunächst eine ganz einfache Sache: Zeichen spielen eine zentrale Rolle in der menschlichen Kommunikation. Sie sind Grundlage für den Austausch von Informationen und die Gestaltung von Beziehungen. Das gilt z.B. für Verkehrszeichen, die das Miteinander der verschiedenen Verkehrsteilnehmer regeln, indem sie gemeinsam vereinbarte Bedeutungen transportieren. Oder die mittlerweile scheinbar unverzichtbaren Emoticons, die in der oft nur rudimentären digitalen Kommunikation Stimmungen und Gefühlsnuancen vermitteln.
Paramente als Zeichen
In diesem Sinne sind natürlich auch Paramente Zeichen. Sie stehen etwa mit ihren unterschiedlichen Farben für bestimmte Inhalte: das festliche Weiß der Christusfeste, das kräftige Rot der göttlichen Liebe des Heiligen Geistes oder das melancholische Violett der Passionszeit.
Auch die auf Paramenten gezeigten Symbole tragen eine jeweilige Bedeutung. Zum historischen Bestand des Hannoverschen Klosters Marienwerder gehört z.B. ein violettes Antependium mit einem kunstvoll gestickten Pelikan, der mit dem Schnabel seine Brust öffnet, um seine Jungen mit seinem eigenen Blut zu ernähren.17 Der Physiologus, eine frühchristliche Naturlehre, meinte dieses Phänomen in der Natur nachweisen zu können und nahm es als Metapher für die Liebe Christi, der die Menschen durch sein Blut erlöst habe, und als Sinnbild für die Eucharistie. Nicht zufällig schmückt dieses Motiv einen violetten Altarbehang, der vor allem in der Passionszeit verwendet wird.
Besonders deutlich wird diese Informations- und Kommunikationsbedeutung der Paramente, wenn Texte aus der Heiligen Schrift zu sehen sind. Und so korrespondiert die symbolische Bedeutung des Antependiums aus Marienwerder auch mit der hier eingestickten Inschrift: „Wer mein Fleisch isset und trinket mein Blut der hat das ewige Leben.“18
„Innere Bereitung“
Die Zeichentheorie kennt aber noch weitere Dimensionen: Zeichen und Symbole, die wir wahrnehmen, haben auch einen Einfluss auf die Betrachterin oder den Betrachter, die über ihre reine inhaltliche Bedeutung hinausgehen. So berichtet der Theologieprofessor Jörg Neijenhuis von der folgenden Begebenheit: „Eine Forscherin besucht einen Domschatz, um einen mittelalterlichen Kelch zu betrachten. Sie hat viel über diesen Kelch gelesen und Bilder von ihm gesehen – nun sucht sie das Original auf. Beim Anblick des ausgestellten Kelches empfindet die Forscherin höchste Sakralität und tiefste Ehrfurcht. Auf der Rückfahrt schaut sie in den Ausstellungskatalog und liest voller Entsetzen: Das Ausstellungsstück ist ein Duplikat – den echten Kelch will man nicht zeigen, weil er viel zu wertvoll ist. Das hat sie nicht gewußt – und so hat sie Sakralität und Ehrfurcht vor einem Duplikat empfunden! Ja, noch viel schlimmer: Hätte sie den Hinweis im Katalog nicht gelesen, hielte sie das Duplikat noch heute für das Original.“19
Was heißt das für unsere Fragestellung? Neben der Bedeutung, die ein Zeichen oder Symbol transportieren kann, weil sie ihm sozusagen von außen mitgegeben wird, gibt es etwas, was die Begegnung mit dem Zeichen in der Person auslöst, die das Zeichen wahrnimmt. Dabei spielt nicht die Materialität des Zeichens, sondern vor allem das eine Rolle, was schon in uns ist, was durch ein Zeichen berührt, hervorgerufen oder auch in Frage gestellt werden kann.
Nicht zuerst das Zeichen, sondern mein Inneres ist entscheidend – das wird in dieser kleinen Begebenheit deutlich. Das äußere Zeichen löst einen Prozess in der betrachtenden Wissenschaftlerin aus – unabhängig von seiner tatsächlichen materiellen Qualität: Sie fühlt sich erhoben und empfindet Ehrfurcht. Voraussetzung für dieses innere Berührtsein ist aber ein Minimum an Vorwissen, um in diesen Prozess des Austausches einzutreten.
In diesem Sinne können Paramente ihrem Namen eigentlich gerecht werden. Denn das Wort hat seinen Ursprung im lateinischen Verb „parare“ – bereiten. Vermutlich ist hier zuerst an die konkrete Vorbereitung des Gottesdienstes gedacht, zu dem die Textilien ausgebreitet, angelegt oder an Altar und Kanzel angebracht werden – „parare mensam“. In einem weiteren und vielleicht tieferen Sinne kann man hier aber auch an die innere Bereitung des Menschen denken, der sich im Gottesdienst von Gott und seinem Wort berühren lassen will.
Textilien, die den Gottesraum schmücken und zu verschiedenen Kirchenjahreszeiten ganz unterschiedliche gestalterische Akzente setzen, können den Betenden helfen, sich innerlich zu bereiten. Die konkreten Auswirkungen können dabei sehr unterschiedlich sein.
Vielleicht löst eine Farbe, eine besondere Materialität oder ein konkretes Symbol, eine Erinnerung an Kindheit oder Jugend, eine bestimmte Gottesdienst- oder Predigterfahrung und die damit verbundenen Inhalte aus. Vielleicht führt ein bestimmtes Motiv, z.B. das archaische Bild des sich selbst verletzenden Pelikans auf dem Marienwerder Parament oder der sicher etwas akademische QR-Code der Helmstedter Werkstatt aber auch zu einer Irritation, weil sie mit der eigenen Disposition und dem eigenen Gottesbild nur schwer zusammenzubringen sind. Vielleicht entstehen auch völlig freie Assoziationen, die die Psyche der Betenden in Bewegung bringen.
Wie dem auch sei: Wenn wir den Paramenten Raum in unserer Wahrnehmung geben, bleiben sie nicht reine Zeichenträger, sondern beginnen, in eine Art Dialog mit uns zu treten. Deshalb macht es Sinn, liturgische Textilien nicht in den Schubladen verstauben zu lassen, sondern sie zu zeigen, sie zu erklären, von ihnen zu reden, sie zu betrachten und sich von ihnen berühren zu lassen. Wenn diese Überlegungen ihren Beitrag dazu leisten können, dann ist viel gewonnen.
Anmerkung
* Es handelt sich um den geringfügig überarbeiteten Text eines Vortrags zur Eröffnung einer Paramentenausstellung im Kloster Marienwerder in Hannover am 29. Oktober 2023. Der Vortragsstil wurde weitgehend beibehalten.
1 Das Kloster Marienwerder ist als eines der fünf Calenberger Klöster Teil des von der Klosterkammer Hannover, einer Sonderbehörde des Landes Niedersachsen verwalteten Allgemeinen Hannoverschen Klosterfonds. Ende des 12. Jh. als Augustiner-Chorherrenstift gegründet, später von Chorfrauen besiedelt und in der Reformation nicht aufgelöst, ist Marienwerder wie die anderen Calenberger Klöster bis heute der Lebensort für einen Konvent evangelischer Frauen, die sich kirchlichen, kulturellen und sozialen Aufgaben widmen. Zur Geschichte des Klosters vgl. Uwe Hager, Art. Marienwerder, in: Josef Dolle (Hrsg.), Niedersächsisches Klosterbuch, Bielefeld 2012, 1036-1044.
2 Vgl. Miriam Gepp, Tradition mit Zukunft. Textilrestaurierung in der Paramentenwerkstatt der von Veltheim-Stiftung beim Kloster St. Marienberg, Helmstedt, Braunschweig, 2008. Wegen wirtschaftlicher Schwierigkeiten musste die Werkstatt 2023 ihre Arbeit einstellen.
3 Zum Künstler und seinem Werk vgl. Isabelle Azoulay/Rolf Sachsse/Michael Weisser (Hrsg.), All about Sehnsucht. Das mediale Gesamtwerk von Michael Weisser am Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe, Berlin 2011.
4 https://www.qr-lab.de/DOC/K/Index.html (20.11.2024).
5 Vgl. Georg Maria Roers, Soziales Plastik. Parament I von Gerhard Bär, in: Stimmen der Zeit 148 (2023), 666-668, Zitat: 668.
6 Zu sehen als „Anointing Screen“, z.B. unter https://www.alamy.com/anointing-screen-in-westminster-abbey-that-was-used-on-may-6th-2023-for-the-most-sacred-moment-of-the-coronation-the-anointing-of-king-charles-iii-in-london-uk-image551244274.html?imageid=E892DEF6-5DDF-443D-A5E8-64F588F2009E&p=147489&pn=1&searchId=5d440fd7d7aaf2f3421c91026e60279b&searchtype=0.
7 Vgl. https://www.royal.uk/news-and-activity/2023-04-29/the-anointing-screen (10.12.2024).
8 https://www.alamy.de/mosaik-von-justinians-schloss-sant-apollinare-nuovo-ravenna-italien-image2038113.html?imageid=B29E2A42-A5DE-4145-85B5-79E973D7EDC4&p=6710&pn=1&searchId=04ff2e20641d82dea26c9ad79ad38943&searchtype=0.
9 Einen nach wie vor grundlegenden Überblick bietet Joseph Braun, Handbuch der Paramentik, Freiburg i.Br. 1912.
10 Wörtlich übersetzt meint ἀδιάφορα „nicht Unterschiedenes“, „Mitteldinge“, d.h. gleich gültige Dinge.
11 Zum so genannten Adiaphoristischen Streit vgl. Friedhelm Krüger, Art. Adiaphoristenstreit, in: Lexikon für Theologie und Kirche. Freiburg i.Br. ³1993, Sp. 158. Oder ausführlich und mit Quellen: Irene Dingel (Hg.), Der Adiaphoristische Streit (1548-1560), Göttingen 2012.
12 Unser Glaube. Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Ausgabe für die Gemeinde, Gütersloh 2013, 882.
13 Zur Geschichte der evangelischen Paramentik insgesamt vgl. Peter Poscharsky, Art. Paramentik, in: Theologische Realenzyklopädie. Bd. 25, Berlin 1995, 747-750.
14 Wilhelm Löhe, Vom Schmuck der Heiligen Orte, Leipzig 2008. Diese kommentierte Neuedition ist leider vergriffen.
15 Zur Entwicklung und inhaltlichen Konzeption evangelischer Paramentik bei Wilhelm Löhe vgl. Klaus Raschzok, Die Kunst der Bereitung: Paramentik, in: Karl Günther Beringer/Klaus Raschzok/Hans Rößler, Paramente im Wandel der Zeit. Textile Kirchenkunst aus Neuendettelsau 1858-2004, Neuendettelsau 2004, 19-36.
16 Wilhelm Löhe, Gesammelte Werke. Bd. 7, Teilbd. 2: Die Kirche in der Anbetung, Neuendettelsau 1960, 580.
17 Zum Motiv vgl. Oskar Holl u.a., Art. Pelikan, in: Lexikon der christlichen Ikonographie. Bd. 3, Freiburg i.Br. 1971, Sp. 390-392.
18 Durch den Einfluss des Schriftkünstlers Rudolf Koch wurde die prominente Darstellung von Texten seit Ende der 1920er Jahre in der evangelischen Paramentik zur vorrangigen Ausdrucksform. Zusammen mit der vielfachen Verwendung der von Koch geschaffenen Vorlagenbücher mit christlichen Symbolen führte dies auch zu einer gewissen Engführung.
19 Jörg Neijenhuis, Paramente in der Welt moderner Kommunikationsmedien, in: Quatember 65 (2001), 23-33, Zitat: 26. Diesem Aufsatz folgen zu einem guten Teil auch die hier vorgetragenen systematischen Gedanken.
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 4/2025