Kirchenbauten gelten gegenwärtig als eine Erblast, deren sich die an Personen und Finanzen schmäler werdende Organisation Kirche rasch zu entledigen habe. Dabei wird häufig übersehen, dass Kirchenbauten neben ihrer „liturgischen Präsenz“ auch noch ganz anderen strukturellen Bedürfnissen einer demokratischen gesellschaftlichen Öffentlichkeit dienen können. Karin Berkemann führt dies im Blick auf vier Funktionsaspekte näher aus.

 

Dass das demokratische Zusammenleben an Selbstverständlichkeit verloren hat, ist nicht zu übersehen. Dabei könnte es so einfach sein, meint der Soziologe Rainald Manthe, denn für ihn findet Demokratie in alltäglichen Begegnungen statt – bei der U-Bahnfahrt zur Arbeit, beim Schlangestehen im Supermarkt oder beim Besuch der Dorfkneipe.1 Hier begreifen wir quasi im Vorbeigehen, dass Menschen sehr unterschiedlich sind und dennoch alles am Ende irgendwie funktioniert. Diese „demokratische Irritation“ vollzieht sich an Alltagsorten, so Manthe, in vier Schritten: in der zufälligen Beobachtung, im sprachlichen Austausch, in der wiederkehrenden Begegnung und in der gemeinsamen Aktivität. Eben jene vier Stufen lassen sich auf Kirchen übertragen und gliedern daher den folgenden Beitrag, der nach Sinn und Wert einer christlichen Infrastruktur fragt: Kirchenbauten sind Zeichen im Stadtbild, Orte der Öffentlichkeit, Räume der Begegnung und Auslöser von Engagement.

 

Zeichen im Stadtbild

Auf die Frage, worin genau der Wert eines Kirchenbaus liegt, gibt es keine einfache Antwort, denn sie hat in Zeiten knapper Kassen weitreichende Folgen. Liegt die Bedeutung ausschließlich im geistlichen Bereich, dann verliert ein Gottesdienstraum ohne liturgische Nutzung seine Daseinsberechtigung. Ist eine Kirche aber auf mehreren Ebenen von Belang, dann ist sie es auch nach ihrer Entwidmung oder Profanierung. Um Bestandsbauten allgemein als materielle wie immaterielle Werte zu beschreiben, prägte die Bundesstiftung Baukultur den Begriff der Goldenen Energie. Dies meint zum einen ganz handfeste Ressourcen – 90% der Rohstoffe werden bundesweit im Bau- und Gebäudesektor verbraucht, 55% der Abfälle und 40% der Emissionen stammen aus Bau und Abriss. Zum anderen umfasst die Goldene Energie auch immaterielle Werte wie die kreative Kraft, die in die Gestaltung dieser Architekturen geflossen ist. Nicht zu vergessen, dass sie sich „oftmals durch die gewachsene Einbindung in den städtebaulichen Kontext“ und „zugleich ein besonderes Identifikationspotenzial“2 auszeichnen. Genau in diesem Punkt haben Kirchenbauten ihren profanen Anrainern oft eine Turmlänge voraus.

Entgegen einer gattungsübergreifenden Umbaukultur, wie sie sich zumindest in der Architekturdebatte breit etabliert hat, werden Gottesdiensträume von Landeskirchen und Bistümern zunehmend als rein finanzielle Werte behandelt.3 Die beiden großen christlichen Konfessionen verlieren rasant an Finanz- und Mitgliederstärke und sehen sich gezwungen, ihren Baubestand deutlich zu reduzieren. Um diese jüngsten Veränderungen der Kirchenlandschaft nachzuvollziehen, werden sie von der Verfasserin dieses Beitrags seit acht Jahren im Online-Magazin moderneREGIONAL dokumentiert. Die partizipative Open-Access-Datenbank „invisibilis“ macht verlorene Kirchenbauten wieder sichtbar. Hier sind bereits 2331 Einträge verzeichnet, die über eine virtuelle Karte und nach verschiedenen Kategorien durchsucht werden können.4

Deutschlandweit rechnet man mit rund 45.000 Kirchenbauten der beiden großen christlichen Konfessionen. Über den kompletten Bestand wurde bislang kein repräsentativer, nach Nutzungsformen aufgefächerter Überblick veröffentlicht, denn die Landeskirchen und Bistümer rechnen nach unterschiedlichen Kriterien und gehen mit ihren Zahlen unterschiedlich transparent um. Vor diesem Hintergrund bildet invisibilis die größte publizierte Datensammlung zum Thema. Der Schwerpunkt liegt hier auf dem Verzeichnis von 1997 geschlossenen, abgerissenen, bedrohten oder neu genutzten Kirchen, die in Deutschland seit 1850 errichtet wurden. Hinzu kommen Klein- und Serienkirchen, dieinvisibilis mit 334 zusätzlichen Einträgen und einer Podcast-Reihe vorstellt.

 

 

Alle auf invisibilis verzeichneten Standorte, die Veränderungen unterworfen sind, unterteilen sich in zwei Gruppen: Eine Hälfte (45%) befindet sich noch in der Schwebe, denn die Bauten stehen entweder zur Disposition oder sind geschlossen im Wartestand. In der zweiten Hälfte (47%) haben die Räume ihre Wandlung bereits durchlaufen, weil sie in eine gemischte bzw. profane Nutzung überführt oder abgerissen wurden. Es verbleibt ein geringer Anteil (8%) von Kirchen, die man an andere religiöse Gruppen abgegeben hat. Bei diesen Zahlen spielt die ursprüngliche Konfession kaum eine Rolle, ganz im Gegensatz zum Entstehungsjahr: Auf drei Bauphasen (1850-1918, 1919-1945, 1976-2024) kommt je nur je ein Zehntel (9-15%) der Kirchen im Wandel. Dem gegenüber entfallen die verbleibenden zwei Drittel (67%) auf die Boomjahre 1946 bis 1975. Kurz gesagt, die meisten der betroffenen Bauten stammen aus der Nachkriegszeit.

Schaut man genauer auf die Art der Veränderung, ­ähneln sich die vier Bauphasen – mit einer Ausnahme: Kirchen der beiden Phasen vor Kriegsende (1850-1918, 1919-1945) werden häufiger umgenutzt (28 bzw. 31%) als der Durchschnitt. Ein größerer zeitlicher Abstand, traditionellere Stilformen und Materialien scheinen es attraktiver zu machen, ehemalige Gottesdiensträume für eine neue Funktion zu ertüchtigen. Doch die Vermutung, dass Nachkriegskirchen (verglichen mit anderen Bauphasen) prozentual häufiger niedergelegt werden, findet sich in der Statistik nicht wieder. Eine historistische Kirche (1850-1918) etwa hat innerhalb ihrer Phase eine ebenso hohe Abrisswahrscheinlichkeit wie ein Nachkriegsbau (1946-1975): rund ein Viertel (26 bzw. 25%).

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Zahl nach vorwiegend Nachkriegskirchen von den Umbrüchen betroffen sind – die Boomjahre waren schlicht die ertragreichste Phase. Aber steht eine Kirche erst einmal auf der Streichliste, dann entscheiden (auch) andere Kriterien von Lage bis Sanierungsstau über ihr weiteres Schicksal: Wie sehr sich Menschen mit einem (ehemaligen) Gottesdienstraum identifizieren, wie sehr sie ihn als erhaltenswerten Teil ihrer alltäglichen Umgebung betrachten, ist unabhängig von Material und Stil.

 

Orte der Öffentlichkeit

Nun tut sich die Theologie schwer damit, Gottesdiensträume als Alltagsorte zu beschreiben. Schon der Architekt und Kunsthistoriker Cornelius Gurlitt entfachte mit seiner These der „Liturgie als Bauherr“ 1921 eine andauernde Diskussion, ob nicht minder andere Faktoren wie Stil oder Städtebau von Belang seien.5 Und je deutlicher Kirche als Institution an Selbstverständlichkeit verliert, desto intensiver ringen wir heute um gute Begriffe für das Besondere von Kirche als Bauwerk – heilige Orte, auratische Räume und vieles mehr war im Gespräch. Am Ende spitzt es sich meist auf die Frage zu, wer hier mit wem kommuniziert: Wird das Evangelium verkündet oder reden eher die Menschen miteinander (oder beides)? Schon 1968 bündelte der Theologe Hans-Eckehard Bahr diese Diskussion mit dem Buch „Kirchen in nachsakraler Zeit“ in seiner Reihe „Konkretionen“. Als erster Band der Serie erschien im selben Jahr seine Habilitationsschrift „Verkündigung als Information“. Darin verstand er die vernetzte Weltgesellschaft als demokratische Chance. Wie in der angelsächsischen Tradition gelte endlich die öffentliche Meinung als Souverän. Angesichts dieses „revolutionären Bruches“ müsse der Prediger den Gegenwartsbezug wagen.6

Bahr überführte sein Konzept auch ins Architektonische und weitete damit die Formel von der Liturgie als Bauherrin. Denn war Predigt gleichbedeutend mit Arbeit an der Öffentlichkeit, dann spielte eben jene Öffentlichkeit auch eine prägende Rolle bei der Gestaltung liturgischer Räume. Statt Luthers Konzentration auf die Verkündigung von der Kanzel herab agiere Kirche nun als Teil der Gesellschaft und öffne sich mit Gemeindezentren programmatisch zum städtischen Umfeld.7

Die von Bahr durchbuchstabierte Öffentlichkeit, wie sie seinerzeit in der Politischen und Kontextuellen Theologie verhandelt wurde, machte rasch akademische Karriere. Dabei berufen sich deutsche Theolog*innen bis heute gerne auf die Befreiungsbewegungen in den USA, in Lateinamerika und Südafrika.8 Andere verweisen lieber auf die Begriffsgeschichte der Öffentlichkeit, die im 18. Jh. vom französischen publicité ins Deutsche übernommen wurde. Inzwischen gibt es zwei Schulen: Die „Öffentliche Theologie“ eines Wolfgang Huber und Heinrich Bedford-Strohm übernimmt das Gegenüber von Kirche und Welt aus der Barmer Theologischen Erklärung. Der „Öffentliche Protestantismus“ eines Christian ­Albrecht oder eines Reiner Anselm hingegen versteht Kirche in der liberalen Tradition eines Trutz Rendtorff als Teil der Gesellschaft. Als Überbegriff hat sich die „Öffentliche Theologie“ durchgesetzt, und diese nutzt durchaus räumliche Bilder: Öffentlichkeit als „Ort der allen zugänglichen Behandlung dessen, was alle ­angeht“.9

 

 

Bis heute spricht die Öffentliche Theologie meist ethisch-metaphorisch von Orten und Räumen – und meint damit kaum konkrete Bauwerke. Lebendig wird die Diskussion gerade dort, wo sich sozial-politische und architektonisch-ästhetische Argumente kreuzen. Eine dieser seltenen Ausnahmen bildete die Auseinandersetzung mit den spätmodernen Gemeindezentren, einer im Bahr’schen Sinne „nachsakralen“ Architektur.10 Um die Jahrtausendwende wurde deren Öffnung zum Quartier kritisch am Ideal eines feierlichen „Sakralbaus“ gemessen und am Ende verworfen. In diesem Moment warb gerade die Kunstgeschichte für eine neue Wertschätzung solch multifunktionaler Konzepte, die programmatisch Bezug auf ihre Umgebung nehmen.11 Von der Stadt- und Architektur­theorie wurde der Ort allgemein als historischer und gestalterischer Faktor gestärkt.12 Auch in der Öffentlichen Theologie erwachte langsam das ­Interesse für raumsoziologische Impulse.13 Doch bei aller Neugier darauf, wie sich „weiche“ Wahrnehmungs- und Nutzungsprozesse an geografisch fest definierten Orten auskristallisieren, blieb auf theologischer Seite eine erstaunliche Sprachlosigkeit für die zeit- und architekturgebundenen Aspekte des Themas.

Eine Wortfindungshilfe kam von unerwarteter Seite, von Akteur*innen aus Baukultur und Kulturerbe. In einem Themenheft von Baukultur NRW reaktivierte die Architekturhistorikerin Ursula Kleefisch-Jobst 2022 für Kirchenräume „außerhalb unserer Alltagskultur“14 ein älteres Modell: Der US-amerikanische Soziologe Ray Oldenbourg hatte Ende der 1980er Jahre herausgearbeitet, dass Menschen „Dritte Orte“ brauchen, an denen sie sich – zwischen ihrem Zuhause und ihrem Arbeitsplatz – begegnen und austauschen können. Als traditionelle Gemeinschaftsräume sind für Kleefisch-Jobst auch europäische Kirchen, ob mittelalterlich, barock oder modern, eben solche Dritten Orte. Dabei verschließt sie sich nicht gegen Umbauten oder Nachnutzungen. Denn „um Materialien und Ressourcen zu sparen, müssen auch manche Kirchen radikal für andere – profane – Funktionen umgestaltet werden.“ Entscheidend sei es, den öffentlichen Charakter zu erhalten, ganz ohne Konsumzwang.

Gerade zieht eine vom Innenarchitekten Felix Hemmers kuratierte Ausstellung, wieder ein Projekt von Baukultur NRW, eine zusätzliche Deutungsebene ein: Als „Vierte Orte“ eröffnen Kirchen demnach eine Sinn­dimension über das Alltägliche hinaus – eine Erfahrung, die sich besonders in gemischt genutzten Begegnungsräumen einstellen kann.

 

Räume der Begegnung

Nicht minder als Begegnungsräume, aber auf Konsum hin errichtet, haben Kaufhäuser mit Innenstadtkirchen viel gemeinsam: Sie liegen an zentralen Orten, sind auf Laufkundschaft angelegt, können dieses Versprechen immer weniger einlösen und stehen zunehmend leer. Die Diskussionen, wie beide Baugattungen gemeinwesenorientiert nachgenutzt werden können, verlaufen nicht unähnlich, aber meist unabhängig voneinander. In Lübeck etwa hat die Stadt mit Bundesmitteln das Programm „Übergangsweise“ aufgelegt, um leerfallende Räume kreativ neu zu bespielen. Als „Übergangsinseln“ werden Ruhepunkte angeboten, deren „Partner“ von der Buchhandlung bis zur gotischen Kulturkirche St. Petri reichen. Als zentraler Raum dient das ehemalige Karstadt-Kaufhaus in der Königstraße, das 1996 nach Entwürfen des Architekten Harald Deilmann fertiggestellt wurde. 2022 von der Stadt angekauft steht dieses „Übergangshaus“15 seit 2024/25 unter der Woche täglich mehrere Stunden offen, für Kultur und Bildung: Die lokale Universität, TH und Musikhochschule stellen digitale (Lern-)Techniken vor und bereit. Hier können sich Schüler*innen aufhalten und austauschen. Und das Stadtplanungsamt lädt zu Beteiligungsprozessen ein. Wie es mit dem ehemaligen Kaufhaus auf Dauer weitergeht, entscheidet die Stadt gemeinsam mit den Nutzer*innen im Projektverlauf – der Erfolgsfaktor liegt schon jetzt im kuratierten Mitmachen.

Was Lübeck in einem Profanbau des späten 20. Jh. heute als „Mixed-Use-Konzept“ etikettiert, erprobte der Kirchenbau bereits ab 1945 mit mehreren Programmen: gemischte Nutzung in besonders gestalteten Räumen.16 In den ersten Nachkriegsjahren entwickelte der Architekt Otto Bartning (mit Emil Staudacher) das Notkirchenprogramm. Mit Spenden finanziert, mit der Bahn angeliefert und mit viel Eigenleistung setzten die Gemeinden ihren Bau aus standardisierten Holzelementen zusammen. Durch seine Kirchen ermöglichte Bartning programmatisch einen bescheidenen Neuanfang und pragmatisch das Nebeneinander von Gottesdienst und Gemeindearbeit.

Zu den zwischen 1947 bis 1954 in mehreren Typenreihen errichteten Bartning-Kirchen verzeichnet invisibilis 98 Einträge.17 Deren überwiegende Mehrzahl (71%) zeigt bis heute ihre angestammte Nutzung. Auch unter den Um- und Mischnutzungen (14%) finden sich mehrheitlich kirchliche Angebote wie Gruppenraum, Familienzentrum oder Kindergarten. Dieser hohen Akzeptanz der Bartning-Kirchen ist es zu verdanken, dass viele von ihnen an einem neuen Standort wiederverwendet wurden, zwei konnten sogar in ein Freilichtmuseum überführt werden.

In den boomenden 1960er und 1970er Jahren wurden vermehrt Typenkirchen aufgelegt, um zeit- und kostensparend dennoch eine hohe Qualität zu gewährleisten. Von 1964 bis 1975 etwa realisierte das Bistum Rottenburg-Stuttgart 26 hausförmige Stahlbetonmontage-­Kirchen des Architekten Wilhelm Frank. Von ihnen befinden sich bis heute 92% in ihrer ursprünglichen ­Nutzung. Diese Zahl widerlegt die These, serielle Kirchen seien bei den Gemeinden per se weniger beliebt. Stattdessen trug die identitätsstiftende Teilhabe hier oft zum Erhalt bei.

Einen ähnlichen Effekt macht invisibilis am Beispiel rheinischer „Wanderkirchen“ sichtbar. Die dortige Landeskirche ließ in den 1960er Jahren zwei hölzerne Montagesysteme in Serie produzieren. Wenn eine Gemeinde ihren Bau nicht mehr brauchte, sollte er woanders neu aufgerichtet werden. Die vom Architekten Helmut Duncker (mit Martin Görbing) entwickelte Nurdachkirche war besonders beliebt. Von den 39 auf invisibilis dokumentierten Bauten befindet sich mehr als die Hälfte (56%) in der Veränderung oder hat diese bereits durchlaufen. Aber immerhin 18% der Duncker-Kirchen wurden ein- bis zweimal an einen neuen Ort versetzt. In der Zusammenschau entpuppen sich damit gerade Serien- und Kleinkirchen der Nachkriegszeit, an deren Entstehung die Gemeinden aktiv beteiligt waren, als ebenso pragmatische wie nachhaltige Begegnungs­räume.

Eine der Duncker-Nurdachkirchen, die ab 1967 zunächst in Hackenheim stand, firmiert seit 2003 in Mainz-Drais als ­„Cafédrale“, als Mischnutzung von Café und Liturgie. Auch neben und jenseits der Gottesdienste können solche Orte der Öffentlichkeit als Dritte und Vierte Orte, als Räume der Begegnung und Sinnstiftung dienen, wenn sie denn nicht voreilig entfernt werden. Der zu Beginn zitierte Soziologe Rainald Manthe bezieht seine Hoffnung auf alltägliche Begegnungsorte wie eine Fahrt in der U-Bahn oder einen Besuch der Dorfkneipe. Denn viele der institutionellen Räume wurden ab den 1990er Jahren im Zeichen des Neoliberalismus weggespart: „Überflüssig erschien oft das, dessen Nutzen nicht zu beziffern war.“18 Demnach trifft der allgemeine Abschied von der Massengesellschaft seit den 2000er Jahren nicht nur die Parteien, sondern ebenso die Kirchen – in beiden Fällen wird man kaum noch ein „Volks-“ vor das Wort setzen können. Mit der wachsenden Individualisierung droht auch das einstmals dichte räumliche Netzwerk stark ausgedünnt zu werden. Angesichts dieser Entwicklung sorgt sich Manthe um das soziale Kapital einer Gesellschaft, deren wechselseitiges Vertrauen, deren demokratisches Erleben von regelmäßigen und damit alltäglichen ­Begegnungen an öffentlichen Orten abhängt.

 

Auslöser von Engagement

Vom Wert solcher Stadtmarken, Kommunikationsorte und Begegnungsräume zu sprechen, heißt nicht, sich der Veränderung zu verschließen. „Aber es wird zum Problem“, hält Rainald Manthe fest, „wenn sie vielerorts weniger werden, oft schleichend, und kaum Neues entsteht.“19 Der Zeitdruck, der sich nach innerkirchlicher Logik vor Ort aufbaut, erschwert häufig einen ebenso behutsamen wie nachhaltigen Wandel. In vielen Fällen liegen bereits fertige Bestandsanalysen in den Schub­laden, deren Zeitpläne für den Rückbau 2030 oder 2040 auslaufen. Bis dahin müssen die Vorgaben zur CO2-Ersparnis erreicht sein, werden Zuschüsse zum Bauunterhalt ausgedünnt oder eingestellt. Vor diesem Hintergrund verweist Manthe positiv auf das Kirchenmanifest: Da Expert*innen davon ausgehen, dass künftig ein Drittel bis die Hälfte der rund 45.000 Kirchen in Deutschland infrage gestellt werden, haben sich im Mai 2024 zehn baukulturelle Akteur*innen (darunter die Autorin dieses Beitrags) dazu zusammengetan.20 Dessen zentrale Forderung – „Kirchen sind Gemeingüter“ – unterstützen aktuell bereits mehr als 21.000 Menschen. In der Petition wird die Bedeutung eines Kirchenbaus als mehrfach codierter Ort beschrieben und ein Blick auf eine mögliche Zukunft geworfen: eine Stiftung oder Stiftungslandschaft, die kirchliche und nicht-kirchliche Partner*innen auf Augenhöhe zusammenbringt.

Viele dieser Punkte finden innerkirchlich bereits Beachtung. In der aktuellen Studie der Deutschen Bischofskonferenz zu „Ernährungssicherheit, Klimaschutz und Biodiversität“21 etwa wird Kirche für das „Gemeingut Boden“ eine dreifache Rolle zugewiesen: als Dialogermöglicherin, als Anwältin des Gemeinwohls und als Vorbild. Ein Anspruch, dem Kirche bei ihren eigenen Grundstücken und Bauten noch zu selten gerecht wird. Damit droht sie weiter an Glaubwürdigkeit, Mitgliedern und letztlich Einnahmen einzubüßen. In diesem Sinne haben das Zentrum Soziales und Beteiligung der Diakonie Deutschland, die Diakonie Hessen, die Strategische Immobilienentwicklung der rheinischen Landeskirche und das Zentrum Gesellschaftliche Verantwortung der nordhessischen Landeskirche 2024 eine nachahmenswerte Fortbildung zum sozial verantwortlichen Gebäudemanagement aufgelegt.

Nicht zuletzt könnte Kirche mit einer stärkeren Umbaukultur an eine breite gesellschaftliche Unterstützung anknüpfen. Der Baukulturbericht 2018/19 belegt, dass 85% der Handwerksbetriebe gerade in Umbau und Sanierung ihr wirtschaftlich entscheidendes Zukunftsthema sehen. Und 82% der Bevölkerung geben an, dass der Erhalt einem Abriss vorzuziehen sei.22 Entsprechend bilden sich gattungsübergreifende Bündnisse wie die Anti-Abriss-Allianz, die soziale, ökologische und baukulturelle Argumente verbindet.23

Dass ein intaktes Netz religiöser Räume mehrfach Sinn macht, belegt nicht zuletzt die Tradition des Kirchenasyls. Hier fanden und finden Schutzbedürftige eine Möglichkeit, sich auf Zeit zurückzuziehen und ihr Schicksal neu zu verhandeln. In der Petition „Hände weg vom Kirchenasyl“24, die schon von über 77.000 Menschen unterzeichnet wurde, legt die Ökumenische Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche e.V. ihren Finger in eine politische Wunde. Die seit 1983 geübte Praxis wurde 2015 in einem Abkommen zwischen dem Bund und den großen christlichen Gemeinschaften bekräftigt. Doch seit einigen Monaten werden Schutzsuchende, so führt es die Petition an, vermehrt polizeilich aus Kirchenräumen geholt und abgeschoben. In diesem Sinne kann nicht nur Kirche, sondern die gesamte Gesellschaft nicht auf Kirchenbauten verzichten, die als heilsamer Störfaktor positive Aktivitäten auslösen und ihnen Raum geben können.

 

Anmerkungen

1 Vgl. Manthe, Rainald, Demokratie fehlt Begegnung. Über Alltagsorte des sozialen Zusammenhalts, Bielefeld 2024, 20, 58-59.

2 Nagel, Reiner (Hg.), Erbe – Bestand – Zukunft. Baukulturbericht 2018/19, hg. für die Bundesstiftung Baukultur, Potsdam 2018, hier: 8, vgl. ebenso 7, 87-89.

3 Vgl. Grafe, Christoph/Rieniets, Tim (Hg.), Umbaukultur. Für eine Architektur des Veränderns, Dortmund 2022, 2. Aufl.

4 Vgl. https://invisibilis.moderne-regional.de, Abruf: 17. Dezember 2024. Zum Vergleich fußt die bemerkenswerte Abschlusspublikation des DFG-Forschungsprojekt SAWA, die u.a. auf invisibilis-Daten zurückgegriffen hat, auf einer kleineren Datenbank mit knapp 1500 Einträgen, vgl. Löffler, Beate, Drei Jahrzehnte sakraltopographischen Wandels. Auswertung der quantitativen Erfassung, in: dies./Sharbat Dar, Dunja (Hg.), Sakralität im Wandel. Religiöse Bauten im Stadtraum des 21. Jahrhunderts in Deutschland, Berlin 2022, 16-36, hier 18-19.

5 Vgl. Gurlitt, Cornelius, Die Pflege der christlichen Kulturdenkmäler. Ein Handbuch für Geistliche; Gemeinde und Kunstfreunde, Leipzig 1921, 45-47; Erne, Thomas, Hybride Räume der Transzendenz. Wozu wir heute noch Kirchen brauchen. Studien zu einer postsäkularen Theorie des Kirchenbaus, Leipzig 2017, 47-48.

6 Vgl. Bahr, Hans-Eckehard, Verkündigung als Information. Zur öffentlichen Kommunikation in der demokratischen Gesellschaft (Konkretionen 1), Hamburg 1968, hier: 91, vgl. ebenso 44, 85, 90.

7 Bahr, Hans-Eckehard, Sakrale Zeit, nachsakrale Zeit, in: ders. (Hg.), Kirchen in nachsakraler Zeit (Konkretionen 2), Hamburg 1968, 7-25, hier: 20, vgl. ebenso 18-19, 24-25.

8 Vgl. Körtner, Ulrich H.J./Anselm, Reiner/Albrecht, Christian, Zur Einführung: Konzepte und Räume Öffentlicher Theologie, in: dies. (Hg.), Konzepte und Räume Öffentlicher Theologie. Wissenschaft – Kirche – Diakonie (Öffentliche Theologie 39), Leipzig 2020, 11-22, hier: 13-15.

9 Meireis, Torsten, Öffentlichkeit – eine kritische Revision, o. O. o. J. [Überarbeitung der Antrittsvorlesung an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität Berlin am 21. Juni 2017], 2, vgl. ebenso 3-5, https://www.theologie.hu-berlin.de/de/professuren/stellen/ethik/Aktuelles/offentlichkeitmeireis.pdf, Abruf: 11. Januar 2025.

10 Vgl. Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg: Orientierungshilfe zur Nutzung von Kirchen für nichtkirchliche Veranstaltungen, in: Ludwig, Matthias/Schwebel, Horst (Hg.), „Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft …“. Texte zur Erhaltung und Nutzung von Kirchengebäuden (Kirchliches Jahrbuch für die Evangelische Kirche in Deutschland 130, 2003, Lieferung 2), Gütersloh 2006, 163-169; Wolfgang Huber, „Kirche in der Zeitenwende“. Vorschläge zur Reform der Kirche, auf: ueberseeclub.de, 29. März 2000, 7, https://www.ueberseeclub.de/resources/Server/ pdf-Dateien/2000-2004/vortrag-2000-03-29Professor%20Dr.Wolfgang%20Huber.pdf, Abruf: 11. Januar 2025.

11 Vgl. Wittmann-Englert, Kerstin, Zelt, Schiff und Wohnung. Kirchenbauten der Nachkriegsmoderne, Lindenberg im Allgäu 2006, 9, 117, 176.

12 Vgl. Valena, Tomáš, Beziehungen. Über den Ortsbezug in der Architektur, Berlin 1994 (zgl. Dissertation, München, 1992), 171-174.

13 Vgl. Thomas Wabel, Öffentliche Theologien sozialer Räume. Eine programmatische Skizze, in: Körtner/Anselm/Albrecht 2020, 213-233, hier: 216; Baumgärtner, Ingrid/Klumbies, Paul-Gerhard/Sick, Franziska, Raumkonzepte. Zielsetzung, Forschungstendenzen und Ergebnisse, in: dies. (Hg.), Raumkonzepte. Disziplinäre Zugänge, Göttingen 2009, 9-25, hier: 11-20.

14 Vgl. Kleefisch-Jobst, Ursula, Mehr als steinerne Behälter, in: dies. u.a. (Bearb.), Kirchenumbau (Themenheft Baukultur NRW 3, 2022), Gelsenkirchen 2022, 14-15, hier: 15.

15 Vgl. Rethfeld, Stefan/Sonne, Wolfgang (Hg.), Harald Deilmann – lebendige Architektur, Ausstellungskatalog, Baukunstarchiv NRW Dortmund, 2021, Dortmund 2021; https://www.luebeck-tourismus.de/uebergangsweise/uebergangshaus, Abruf: 11. Januar 2025.

16 Abweichend vom Hybrid-Begriff bei Thomas Erne, der sich auf das Raumerleben konzentriert, wird eine Mischnutzung mit liturgischem Anteil im DFG-Forschungsprojekt TRANSARA als hybrid benannt, vgl. Deeg, Alexander/Menzel, Kerstin, Potentiale spannungsvoller Kooperationen. Begriff und Praxis hybrider Kirchennutzung, in: Albert, Gerhards (Hg.), Kirche im Wandel. Erfahrungen und Perspektiven (i 1) Münster 2022, 171-189.

17 Vgl. https://invisibilis.moderne-regional.de, Abruf: 17. Dezember 2024.

18 Manthe 2024a, 44.

19 Manthe 2024, 53.

20 http://www.kirchenmanifest.de, Abruf: 11. Januar 2025.

21 Vgl. Ernährungssicherheit, Klimaschutz und Biodiversität. Ethische Perspektiven für die globale Landnutzung (Studien der Sachverständigengruppe „Weltwirtschaft und Sozialethik“ 23), hg. von der Kommission Weltkirche der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2024, 7, 11, 13-14.

22 Nagel 2018, 8, 82, 87-89.

23 http://anti-abriss-allianz.de.

24 https://weact.campact.de/petitions/wir-brauchen-deine-solidaritat-mit-dem-kirchenasyl, Abruf: 11. Januar 2025.

 

Über die Autorin / den Autor:

PD Dr. habil. Karin Berkemann, Theologin und Kunsthistorikerin, Kustodin der Dalman-Sammlung, Lehre und Forschung an der Theol. Fakultät Greifswald, Privatdozentin für Architektur­geschichte und Denkmalpflege an der TU Dortmund, Mitherausgeberin von moderneREGIONAL, Mitinitiatorin des Kirchenmanifests, 2024 Auszeichnung mit dem BDA-Preis für Architektur­kritik (Besondere Auszeichnung).

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 4/2025

1 Kommentar zu diesem Artikel
13.05.2025 Ein Kommentar von Uwe Kai Jacobs Der Verfasserin ist zu danken. Sie legt den Finger nicht in eine Wunde, sondern in eine kostbare Ressource, wenn sie - mit Fug und Recht - die Mehrdimensionalität des Kirchenbaus beleuchtet. Den Kirchenbau und -raum als öffentlichen Raum, als Raum der Begegnung zu beschreiben, ist urevangelisch und befreit ihn von Vorstellungen, die mit den evangelischen Grundlagen (der Raum als Versammlungsort) wenig gemein haben. Als Ort, wo man sich zu Andacht und Gottesdienst versammelt, wo man sich gerne aufhält, wo man innehält - als Ort der (Gottes-)Erfahrung und der Begegnung mit anderen Menschen sowie der Kunst, so könnte man das Plädoyer der Verfasserin zusammenfassen. Es verdient Zustimmung.
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