Mit der Wiederwahl Donald Trumps ins Weiße Haus verändert sich die US-amerikanische Demokratie nachhaltig: eine weiße Minderheit bestimmt fortan die Geschicke des Landes im Sinne einer nationalistischen Ideologie, die zwar „christlich“ verbrämt wird, sich tatsächlich jedoch als offen rassistisch erweist – wie Michael Grzonka zeigt.

 

Erneut hat die Wahl zum US-Präsidenten im November 2024 Donald Trump ins Weiße Haus befördert. Viele Europäer, insbesondere auch viele Deutsche, reagierten am 5. November 2024 mit Schock. Und: Trump hat nicht etwa knapp gewonnen, sondern auf ganzer Linie mit einer absoluten Mehrheit seiner Partei sowohl im Senat als auch im Repräsentantenhaus. Wie bitte? Waren seine chaotische erste Amtszeit und seine fragwürdigen Privat- und Regierungsgeschäfte nicht ausreichend Warnung? Oder narrte etwa Fake News „die Amerikaner“ ein zweites Mal? Vielen Europäern bleibt die Stimmung Amerikas, die Trump und der republikanischen Partei zu diesem überwältigenden Sieg verhalf, unbegreiflich.

Was die Analyse im säkularisierten Europa besonders schwierig macht, ist das Glaubensverständnis vieler Amerikaner. Denn dieses leitet ihre politische Affiliierung und es richtet auch regelmäßig ihr Wahlverhalten aus. In der Tat, ohne die Rolle jenes vorgeblich christlichen, religiösen Nationalismus in Amerika zu verstehen, kann man das Ergebnis der jüngsten Präsidentschaftswahlen, und wohl auch von Vielem, was uns in den kommenden Jahren erwartet, kaum deuten. Denn im Amerika des 21. Jh. hat religiös motivierter, politischer Aktivismus mit oft fundamentalistischen Zügen Hochkonjunktur — nicht nur bei den Wählern, sondern auch bei Aktivisten, Amtsträgern und Abgeord­neten.

 

Was genau ist „christlicher“ Nationalismus?

In seinem amerikanischen Kontext ist christlicher Nationalismus (hiernach: CN) im Kern eine politische Ideologie die versucht, die gefühlten Identitäten als Amerikaner und als Christen zu vermengen. Er suggeriert, dass „echte“ Amerikaner auf jeden Fall Christen sind und dass „wahre“ Christen zugleich auch einen engen und meist konservativ definierten Satz politischer Überzeugungen vertreten. Es wird versucht, eine Gesellschaft zu schaffen, die nur diese kleine Gruppe von Amerikanern durch Gesetz und in gesellschaftlicher Praxis privilegiert.

Damit ist CN als eine unter vielen Ausdrucksformen des größeren ideologischen Kontexts von religiösem Nationalismus einzuordnen. Religiöser Nationalismus ist dabei weder neu noch originell: hinduistischer Nationalismus in Modis Indien, zionistischer Nationalismus in Netanjahus Israel, christlich-orthodoxer Nationalismus in Putins Russland und islamischer Nationalismus in zahlreichen Ländern des Nahen Ostens sind nur einige aktuelle Beispiele. Was sie eint: weite Teile eines religiösen Establishments validieren den politischen Status quo als „gottgewollt“.

Auch geschichtlich ist CN nicht neu: Wir kennen CN, seit Kaiser Theodosius die christliche Religion im Jahre 380 zur Staatsreligion seines römischen Imperiums machte. Und hier sieht man bereits die prinzipielle Gegenleistung der jeweiligen Machthaber: Theodosius benutzte im Gegenzug militärische Staatsmacht zur religiösen Verfolgung Andersgläubiger – auch damals schon alles im Namen des Friedensfürsten. In der europäischen Geschichte erscholl das „Deus lo vult“ – Gott will es – erneut bei den Kreuzzügen. Später hörten wir es während der Reformation von den Zwickauer Propheten und den Wiedertäufern, die in Münster 1534 ihre theokratische Republik ausriefen und blutrünstig mordend ihre Glaubensauffassung von oben durchzusetzen suchten. Schließlich, bislang die letzte Episode, glaubten auch die „Deutschen Christen“ der frühen Nazizeit an ihren göttlichen Auftrag (mehr dazu unten).

Dabei war CN schon präsent, bevor Amerika überhaupt gegründet wurde. Die Invasoren des Kontinents erschienen nicht nur ausgerüstet mit Waffen und Seuchen, sondern auch mit dem Segen der (katholischen) Kirche in Form der „Doktrin der Entdeckung“: eine Serie von Päpstlichen Bullen „rechtfertigte“ die Beschlagnahme von Land der indigenen Einwohner (die nicht Christen waren) durch die Kolonisten.1 Danach ist CN durchgängig zu finden, prominent etwa in den Jahren vor dem amerikanischen Bürgerkrieg (1861-1865), als sich viele christliche (genauer: protestantische) Konfessionen über die Frage der Sklaverei entlang der Frontlinien zwischen Nord- und Südstaaten spalteten. In den Jahren der Kommunistenverfolgung unter Senator McCarthy benutzten gut vernetzte Interessengruppen die Gelegenheit, mit viel Geld und beträchtlichem Erfolg das Narrativ von Amerika als genuin „christlicher Nation“ nachträglich aufzupfropfen. So wurde im April 1952 auf Initiative von Conrad Hilton (damals Eigentümer der Hilton-Hotelkette) ein nationaler Gebetstag eingeführt, der bis heute den jeweiligen Präsidenten per Gesetz zur Teilnahme verpflichtet. Im Jahre 1956 ersetzte die Eisen­hower-Regierung das 1782 entstandene nationale Motto „e pluribus unum“ (wörtlich: aus vielen Eines) durch „In God we Trust“. Im Juli 1955 wurde es dann für alle amerikanischen Währungen vorgeschrieben.23

Eine besondere Herausforderung dabei, den CN demographisch zu fassen, ist seine Abgrenzung von traditionellen konservativen Überzeugungen. Deren politische Forderungen sind oft kaum verschieden von denen des CN, werden aber ohne eine christliche Rechtfertigung vertreten. Ebenso schwierig: die Grenzlinie zu glaubensbasierter politischer Lobbyarbeit zu markieren, wo Menschen ihren Glauben in Diskussionen über Angelegenheiten von öffentlichem Interesse einbringen.

Hilfreich ist hier die Einordnung des CN als einer Ideologie, die auf Meinung und Überzeugung basiert – aber nicht als unveränderlicher Teil der Identität einer Person anzusehen ist: Meinungen können sich ändern, Identitätsmerkmale dagegen nicht.

 

Wie verbreitet ist christlicher Nationalismus heute?

Als letztlich meinungsbasierte Ideologie übt CN in Amerika seinen Einfluss entlang eines Spektrums aus. Dies zu messen war Ziel der Soziologen Dr. Samuel Perry und Dr. Andrew Whitehead in ihrem Buch Take Back America for God: Christian Nationalism in the United States (2020). Methodisch definierten die Autoren daher Anhänger und Advokaten von CN anhand der Antworten von Befragten auf einen Katalog folgender sechs Fragen:

1. „Die US Regierung sollte die Vereinigten Staaten zu einer christlichen Nation erklären.“
2. „Die US Regierung sollte sich für christliche Werte einsetzen.“
3. „Die US Regierung sollte die strikte Trennung von Kirche und Staat durchsetzen.“ (Anmerkung: diese Aussage ist umgekehrt kodiert: ihre Ablehnung signalisiert CN)
4. „Die US Regierung sollte die Zurschaustellung von religiösen Symbolen an öffentlichen Orten erlauben.“
5. „Der Erfolg der Vereinigten Staaten ist Teil von Gottes Plan.“
6. „Die US Regierung sollte das Gebet in öffentlichen Schulen erlauben.“

Auf der Basis der Zustimmung bzw. Ablehnung dieser Aussagen unterschieden die Autoren vier Ausrichtungen von CN. Diese inzwischen weithin akzeptierte Einteilung kennt Menschen, die sich die CN-Ideologie vollständig zu Eigen machten und aktiv dafür eintreten als sogenannte Botschafter (ihr Anteil lag unter 20% der US-Bevölkerung).  Widerständler (ca. 22%) lehnten alle Aussagen voll und ganz ab. Dazwischen findet sich die Mehrheit der Amerikaner als Befürworter (ca. 32%)  bzw. Ablehner (ca. 27%).

 

Was glauben die Anhänger?

Nachdem sie Anhänger des CN in Umfragen identifizieren konnten, stellten Perry und Whitehead eine Korrelation zwischen dem Ausmaß des CN und politischen Meinungen der Befragten her. Sie fanden, dass Amerikaner, die sich zum CN bekennen, mit größerer Wahrscheinlichkeit auch Folgendes tun oder glauben:
 sie heißen autoritäre Taktiken gut, die z.B. von Menschen verlangen, Respekt gegenüber nationalen Symbolen und Traditionen zu zeigen;
 sie zeigen Angst und Misstrauen gegenüber religiösen Minderheiten, einschließlich Muslimen, Atheisten und Juden;
 sie dulden stillschweigend Polizeigewalt gegenüber schwarzen Amerikanern und zeigen Misstrauen gegenüber Berichten über systematische Rassenungleichheit im amerikanischen Strafjustizsystem;
 sie glauben, Rassenungleichheit gehe auf persönliche Unzulänglichkeiten der jeweiligen Minderheitengruppen zurück;
 sie geben an, sich „sehr unwohl“ zu fühlen sowohl mit interrassischen Ehen als auch mit rassenübergreifender Adoption von Kindern;
 sie zeigen eine einwandererfeindliche Einstellung;
 sie zeigen Angst vor Flüchtlingen;
 sie sind gegen Wissenschaftler und naturwissenschaftliche Bildung in der Schule;
 sie glauben, Männer seien für alle Führungsaufgaben besser geeignet, während Frauen sich besser für die Betreuung von Kindern und den Haushalt eignen.

Opfermentalität

Von anderen Studien wissen wir: Anhänger des CN verstehen sich als wehrlose Opfer eines „Systems“, dessen Regeln und Praxis strukturell den eigenen Erfolg ver- oder behindert. Dabei wirkt der immer noch latente Rassismus in Amerika auch in diesen Bereich hinein. Die University of Maryland erforschte, wie die Forderung, man solle die Vereinigten Staaten offiziell zu einer „christlichen Nation“ erklären, mit Rassismus im CN korreliert. Weiße Befragte, die der Meinung waren, dass Weiße stärker diskriminiert wurden als andere Gruppen, befürworteten den CN am ehesten. „Ungefähr 59% aller Amerikaner, die sagen, dass Weiße in den letzten fünf Jahren zunehmend diskriminiert wurden, befürworten es, die USA zur christlichen Nation zu erklären (Amerikaner gesamt: 38%). Weiße Mitglieder der Republikanischen Partei, die sagten, dass weiße Menschen mehr ­diskriminiert wurden, befürworteten mit 65% ebenfalls eine christliche Nation …“ (Republikaner gesamt: 63%) schreiben die verfassenden Professoren Dr. Stella Rouse und Dr. Shipley Telhami im Magazin Politcio.4

Gewaltbereitschaft

Ein Zeichen für die uns umgebende Gewalt ist die götzendienerische Hingabe der amerikanischen Gesellschaft an … eine Waffenkultur“, schreibt Aktivistin Amanda Tyler in ihrem Buch „How to End Christian Nationalism“. Tyler weiter: „Der gemeinsame Refrain, der immer nach den scheinbar endlosen Massenerschießungen … zu hören ist [lautet]: ‚wir müssen unser gottgegebenes Recht schützen, nach dem zweiten Verfassungszusatz Waffen zu tragen‘.5Diese Waffenkultur billigt auch politisch motivierte Gewalt. Fast ein Viertel der Befragten (23%) stimmte 2023 folgender Aussage zu: „Weil die Dinge bereits so weit aus dem Ruder gelaufen sind, müssen wahre amerikanische Patrioten vielleicht zu Gewalt greifen, um unser Land zu retten.6

Über diese mit CN korrelierten Ansichten holt der extreme Individualismus einer vorgeblich konservativen Partei die Wähler dort ab, wo ihr Herz ist. Nur: Konservative konservieren nichts mehr. Sie wollen im Gegenteil vollständig mit dem jetzigen System brechen. Der Aufstand vom 6. Januar 2021 zeigte schon, wie man CN, benutzt Menschengruppen dazu zu bringen, den demokratischen Prozess zu missachten und sich überzeugt an auf Umsturz gerichteter, politischer Gewalt zu beteiligen. Das Baptist Joint Committee for Religious Liberty (BJC) und die Stiftung Freedom From Religion Foundation (FFRF) belegen und fordern in einen umfassenden Bericht, dass zum Verständnis der Gewalttaten vom 6. Januar der Einfluss des CN unbedingt berücksichtigt werden muss.7

 

Warum „christlicher“ Nationalismus nicht christlich ist

Fortgesetzte, außerbiblische Offenbarung und Vergötzung politischer Personen

Ein zentrales Merkmal vorgeblich „christlichen“ Nationalismus’ ist es, aus aktuellem Zeitgeschehen im eigenen Land (und wichtig: exklusiv des eigenen Landes) die in die Gegenwart fortgesetzte, außerbiblische Offenbarung göttlichen Willens herauszuspüren. Das ist politisch nützlich: Wer kann schon die Taten von jemandem kritisieren oder gar jemanden vor einem irdischen Gericht aburteilen wollen, der nur auf direkte Anweisung Gottes handelt? Bereits 2018 produzierte die evangelikale „Liberty University“ einen ganzen Film, der eine angebliche Weissagung konfabulierte, nach der Donald Trump in Gottes Auftrag handelt.8 Dieser theologische Irrtum einer fortgesetzten, außerbiblischen Offenbarung wird im amerikanischen Wahlkampf nur zu gern ausgebeutet. Nachdem schon der floridianische Gouverneur Ron DeSantis sich zu seiner Wiederwahl als gott-kreierter Kämpfer verkaufte9 beförderte sich auch Donald Trump selbst zum Propheten Gottes: „und dann schuf Gott Donald Trump.“10 Diese Häresie mag vielen neu erscheinen, aber historisch gesehen ist sie nur eine von zahlreichen, sattsam bekannten Irrlehren.

Die biblische Verheißung erging nur an die eigene Nation oder Gruppe

Ein weiteres Merkmal von religiösem Nationalismus ist die Idee, Gottes Verheißungen gelte vor allem oder gar exklusiv der eigenen Nation und innerhalb derer einer Gruppe speziell Privilegierter. Das ist nun ziemlich exakt das Gegenteil aller genuin christlichen Lehre. Denn wenn Gott unser Vater ist, dann sind wir alle gleichberechtigte Schwestern und Brüder ohne Ansehen von Nationalität, Rasse, Geschlecht oder Fähigkeiten. Es gibt eben genau keine spezifisch amerikanische Version der göttlichen Offenbarung, sondern nur eine gemeinsame, die alle Völker einschließt. Genau hier exponiert sich ungefiltert der unchristliche Kern eines knall­harten Nationalismus, der sich dreist mit christlicher Symbolik und Rhetorik dekoriert: Es geht um die Rechtfertigung von Macht und Einfluss für eine oft kleine gesell­schaftliche Teilgruppe.

Akzeptiert man diese Einordnung von CN als politischer Ideologie dann überrascht nicht, dass viele ­Anhänger des CN sich überhaupt nicht als Mitglieder irgend­eines als christlich zu bezeichnenden Glaubens sehen. In ihrem Buch „The Flag and the Cross: White Christian Nationalism and the Threat to American Democracy“ untersuchen Dr. Samuel Perry und Dr. Philip ­Gorski diese scheinbar unerklärliche Unstimmigkeit. Laut Umfrage gaben mehr als 15% derjenigen, die das Kästchen als „christlich“ ankreuzten, und fast 90% derjenigen, die ausdrücklich behaupteten, „wiedergeboren“ zu sein, an, dass sie keiner christlichen oder einer nicht-christlichen Religion angehörten oder sogar säkular waren. Diese Befragten wollen demnach zwar die Identität des Christentums für sich beanspruchen, sich aber nicht unbedingt dessen Praktiken oder Kernüberzeugungen anschließen, wie z.B. das Leben, den Tod und die Auferstehung Jesu Christi, der uns gesagt hat, wir sollen unseren Nächsten lieben wie uns selbst.11

Trumps nicht-christliches Verhalten wird wegerklärt

Viele fragen sich angesichts der persönlichen und charakterlichen Fehler von Donald Trump, wie christliche Wähler ihre Stimme abgeben für einen mehrfachen Bankrotteur mit zweifelhafter Geschäftsethik, einen dreimal verheirateten Mann, der weiter seine Ehefrau betrog,12 einen notorischen Lügner,13 einen rechtskräftig verurteilten Straftäter,14 der ganz offenbar die Bibel nicht kennt15 und ganz öffentlich die Zehn Gebote andauernd und völlig scham- und reuelos missachtet? Aber die Erklärung ist entwaffnend einfach: Gott habe auch früher schon Nicht-Christen für seine Zwecke benutzt. Trump sei ja nur wie der König Kyrus aus dem AT: Nach Jes. 45 benutzte Gott den heidnischen Kyrus als Werkzeug für seinen Willen – und diese Erklärung reicht den meisten aus, Trumps Taten und Charakter ungeachtet ­aller ethischer Maßstäbe in Gänze heilig zu sprechen.

Die Lehren aus der Zeit des Nationalsozialismus – eine Antwort der protestantischen Kirchen?

Hier ist leider zu wenig Raum um zu rekapitulieren, wie die Evangelische Kirche in Nazi-Deutschland die Frage diskutierte, ob CN christlich sein kann. Anlass damals war die evangelische Bewegung der „Deutschen Christen“, die sich 1933 den zu politischer Macht auflaufenden Nationalsozialisten an den Hals warfen. Auch damals erfuhren Christen, wie ihr Glaube deformiert und in der Substanz entkernt wurde, damals konkret, um ihn mit Nazi Doktrinen und Rassenlehre konform zu machen. Wie heute wieder in Amerika glaubten auch damals viele Protestanten, angesichts des Zeitgeschehens Gott selbst in Aktion zu sehen. Dieser Glaube von der Gottgesandtschaft des Nationalsozialismus und der Person Hitlers durchtränkte die deutschen Protestanten anfangs so gründlich, dass Karl Barth 1936 schreiben konnte:16 „Wer 1933 nicht an Hitlers Mission glaubte, der war ein verfemter Mann, auch in den Reihen der Bekennenden Kirche.“ Im Gegenzug etablierte die Barmer Bekenntnissynode im Sommer 1934 die Grundsätze eines christlichen, protestantischen Glaubens, der sich bis heute energisch abgrenzt von den Dogmen des jeweils herrschenden politischen Machtapparates. In der ersten ihrer sechs Thesen bezeugten die Teilnehmer der Bekenntnissynode:

Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und ­neben d[ies]em einen Worte Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen.

Am Ende der Fünften These beschlossen die Delegierten in doppelter Ablehnung die gegenseitige Einflussnahme von Kirche und Staat oder deren Vermischung. Daher sollen Christen und ihre Institutionen nicht danach gelüsten, den Staatsapparat für die Umsetzung ihrer Überzeugungen zu benutzen, etwa zur Evangelisierung oder zur Gesetzmachung christlicher Moralprinzipien. Die Kirche begleitet den Staat kritisch auf seinem Weg und kündet ihre Meinung zu ethischen und moralischen Fragen. Aber aus ihrem Glaubensverständnis heraus hat sie in einer pluralistischen Gesellschaft kein Recht, anderen mit Hilfe des politischen Machtapparates ihre Sichtweise aufzuzwingen. Die Vertreter des CN in den USA handeln seit Dekaden willentlich und mit Überzeugung entgegen den Thesen der Barmer Theologischen Erklärung.

 

Was will amerikanischer, christlicher Nationalismus politisch?

Politische Macht, um „christliche“ Moral per Gesetz verordnen zu können

Religiöse Gruppen, die den status quo absegnen, erwarten im Gegenzug die Beteiligung an politischer Macht. Viele Wähler sind daher nur zu gerne bereit, CN-Kandidaten ihre Stimme zu geben. Denn, so die weitverbreitete Meinung, es habe der weitgehend agnostische amerikanische Staatsapparat angeblich „versagt“, weil er staatliche Glaubensneutralität gemäß dem ersten amerikanischen Verfassungszusatz wahrte, anstatt die christliche (genauer: protestantische, ja oft fundamentalistische) Religions- und Moralauffassung zur exklusiven Grundlage von Gesetzes- und Verwaltungsentscheidungen zu machen. Die Rücknahme des langstehenden, nationalen Rechtes auf Abtreibung zeigt die neue Richtung: Eine einheitliche nationale Regelung wurde vom Obersten Gerichtshof mutwillig durch vielfältig variierendes Recht der einzelnen Bundestaaten ersetzt. Die Rechtsunsicherheit hat bereits mehrere Todesfälle verursacht, weil schwangeren Frauen dringend benötige medizinische Hilfe vorenthalten bzw. verweigert wurde.17 Zahlreiche Staaten setzen zudem die Idee um, einen Embryo in- und außerhalb des Mutterleibes rechtlich einer bereits lebenden Person gleichzustellen. Dieser Logik folgend wurden Frauen in Staaten wie Kalifornien, Indiana und Texas nach oft tragischem Schwangerschaftsverlust auch noch wegen Mordes angeklagt.18

Die Trennung zwischen Staat und Kirche aufheben

Um plausibel zu scheinen benötigt amerikanischer CN eine sorgfältig redigierte Version der amerikanischen Geschichte, zusammengesetzt aus handverlesenen Ereignissen – übrigens ein Charakteristikum aller religiösen Nationalismen. Denn nur mit einer – buchstäblich – „weiß-gewaschenen“ amerikanischen Geschichte lässt sich der Mythos einer genuin christlichen Nation aufrechterhalten.

Die Politik des amerikanischen CN zielt daher darauf ab, die Grenze zwischen Kirche und Staat auszuhöhlen, um sie schließlich beseitigen zu können. Stellvertretend für viele erklärte die republikanische Abgeordnete Lauren Boebert aus Colorado: „Ich habe genug von diesem Unsinn einer Trennung von Kirche und Staat, die nicht in der Verfassung steht.“ Auch der Republikaner Mike Johnson, Sprecher des Repräsentantenhauses, verneinte einen Verfassungsauftrag des Staates zur religiösen Neutralität.19 Dieser Mythos sitzt tief: sechs von zehn Amerikanern glauben, die Gründerväter beabsichtigten für die Vereinigten Staaten, eine christliche Nation zu sein. Ein Drittel glaubt, dass die Vereinigten Staaten gegenwärtig bereits eine christliche Nation sind, und knapp die Hälfte (45%) der Amerikaner sind der Meinung, dass die Vereinigten Staaten eine christliche Nation sein sollten.20

Eine Theokratie christlicher Prägung

Boebert und Johnson sind beide Anhänger der „Neuen Apostolischen Reformation“ (NAR), einem Netzwerk von Führungspersönlichkeiten, das sich eine Übernahme von politischer Macht zum Ziel gesetzt hat und Mitglieder gezielt in einflussreiche öffentliche Positionen bringt.21 Diese Personen nutzen dann, wo immer sie können, den Staats- und Justizapparat, um eine extreme, ultrakonservative und bisweilen fundamentalistische Moralauffassung von Christentum politisch durchzusetzen. Dabei betreiben sie die Agenda eines Dominionismus – einer politischen Ideologie innerhalb des christlichen Fundamentalismus, deren harter Flügel einen dominierenden Einfluss über den weltlichen Staat erreichen will. Zahlreiche NAR-Mitglieder bezeichnen sich als Propheten, die behaupten, direkt von Gott zu hören und seine unmittelbaren Weisungen auszuführen.22

 

Ausblick

Der Einfluss des CN in den USA bleibt schwierig zu fassen, insbesondere auf die und in der Politik – wohl auch, weil die Einflussnehmer trotz öffentlicher Inszenierungen sehr genau wissen, wie sie ihr Wirken der öffentlichen Wahrnehmung vorenthalten. Hier ist nicht der Platz, dies erschöpfend zu behandeln, insbesondere weil dazu bereits gute Analysen vorliegen.23

Wichtig bleibt aber, insbesondere auch für weitgehend säkularisierte Europäer, ihrem Impuls zu widerstehen, den CN in Amerika als Randerscheinung religiöser Spinner abzutun. Fakt bleibt, dass politisch einflussreiche Vertreter des CN, und mit ihnen die erzkonservativen Anliegen ihrer Anhänger, mit Trumps Wahlsieg erneut in das Zentrum amerikanischer Macht vorgerückt sind. Ihr nachhaltiger Einfluss in der Familien-, Bildungs- und Sozialpolitik war schon in Trumps erster Amtszeit deutlich wahrnehmbar mit dem Ziel eines radikalen Kurswechsels und eines breiten und permanenten gesellschaftlichen Umbaus. Als Teil davon steht zu erwarten, dass die rechtliche Einstufung von Menschen mit nicht-binären sexuellen Orientierungen (Diverse) neu aufgerollt wird. Im sozialen Bereich kann man weitere Kürzungen und Streichungen vorhersehen, da Armut in christlich-nationalem Denken von den Betroffenen selbst verursacht wird. Wahrscheinlich ist auch, dass viele dieser Maßnahmen unter einem Mäntelchen der Eindämmung von angeblicher „Verschwendung von Staatsgeldern“ installiert werden.

Ob die amerikanischen christlichen Nationalisten dabei, wie die „Deutschen Christen“ es 1934 erlebten, bei nächster Gelegenheit politisch abserviert zu werden, oder ob sich die politische, soziale und juristische Landschaft unter ihrem Einfluss in Richtung einer christlich-fundamentalistischen Theokratie entwickelt, bleibt abzuwarten. Es steht zu befürchten, dass Ansichten der christlichen Nationalisten die amerikanische Politik in absehbarer Zukunft leiten werden. Wie auch immer es weitergeht, ein Demokratieabbau im Sinne trumpistischer Ideologie scheint dabei garantiert: Zu vielen nützt ein Rückbau, Abbau oder die Lähmung gerade jener Institutionen, die für genuine Demokratie unerlässlich sind. Wenn die USA in einem Jahr ihr 250jähriges Bestehen feiern, bleibt zu hoffen, dass nicht schon zu diesem Zeitpunkt das amerikanische Experiment irreparabel „zertrumpelt“ wurde.

 

Anmerkungen

1 Elisabetta Povoledo, „Vatican Repudiates ’Doctrine of Discovery’, Used as Justification for Colonization“, The New York Times, 30. März 2023, Abschn. World, https://www.nytimes.com/2023/03/30/world/europe/vatican-repudiates-doctrine-of-discovery-colonization.html.

2 „History of ‚In God We Trust‘. U.S. Department of the Treasury. 2011. Archiviert vom Original am 17. April 2016 bei: https://web.archive.org/web/20160417102334/https:/www.treasury.gov/about/education/Pages/in-god-we-trust.aspx. Zuletzt aufgerufen 12. Dezember 2024.

3 Zu den jahrzehntelangen Initiativen, Amerika nachträglich in eine christliche Nation zu verwandeln, siehe Kristin Kobes Du Mez, Jesus and John Wayne: How White Evangelicals Corrupted a Faith and Fractured a Nation (New York, NY: Liveright, 2020), und Kevin Michael Kruse, One Nation under God: How Corporate America Invented Christian America (New York: Basic Books, 2016).

4 „Most Republicans Support Declaring the United States a Christian Nation“, POLITICO, 21. September 2022, https://www.politico.com/news/magazine/2022/09/21/most-republicans-support-declaring-the-united-states-a-christian-nation-00057736 (meine Übersetzung).

5 Amanda Tyler, How to End Christian Nationalism (Minneapolis: Broadleaf Books, 2024). 81 (meine Übersetzung).

6 „Threats to American Democracy Ahead of an Unprecedented Presidential Election“, PRRI | At the Intersection of Religion, Values, and Public Life. (blog), 25. Oktober 2023, https://www.prri.org/research/threats-to-american-democracy-ahead-of-an-unprecedented-presidential-election/ (meine Übersetzungen).

7 „Report on Christian Nationalism and the January 6 Insurrection“, 9. Februar 2022, https://bjconline.org/jan6report/.

8 „An Evangelical University Is Helping Create A Movie About How Trump Was Chosen By God“, HuffPost, 5. Juni 2018, https://www.huffpost.com/entry/liberty-university-helps-create-movie-trump-chosen-by-god_n_5b119d9ce4b02143b7cc6cfb.

9 Am 4. November 2022 veröffentlichte DeSantis einen Wahlkampfspot, in dem er behauptete, dass Gott am „achten Tag“ der Schöpfung „einen Kämpfer erschaffen“ habe – womit er sich auf den Gouverneur von Florida bezog. Zoe Strozewski. „Ron DeSantis Likened to Prophet Sent by God in New Ad Praised by Wife“. Newsweek, 4. November, 2022. https://www.newsweek.com/ron-desantis-likened-prophet-sent-god-new-ad-praised-wife-1757111.

10 Am 5. Januar 2024 teilte der ehemalige US-Präsident Donald Trump auf seinem Konto bei Truth Social ein Video mit den wiederholten Worten „So God made Trump“. In dem Video war eine KI-Version der Stimme des 2009 verstorbenen Radiomoderators Paul Harvey zu hören. https://truthsocial.com/@realDonaldTrump/posts/111703421569603715.

11 Philip S. Gorski und Samuel L. Perry, The Flag and the Cross: White Christian Nationalism and the Threat to American Democracy (New York, NY: Oxford University Press, 2022).

12 Matt Viser, „Donald Trump Strikes a Chord — with Evangelicals“, The Boston Globe-BostonGlobe.com, 14. September 2015, https://www.bostonglobe.com/news/politics/2015/09/14/donald-trump-leading-among-evangelical-voters-despite-multiple-marriages-and-past-support-abortion-rights/yYaJO34EAm5QJtNCdZ84NL/story.html.

13 David Markowitz, „Trump Is Lying More Than Ever: Just Look At The Data“, Forbes, zugegriffen 30. Dezember 2020, https://www.forbes.com/sites/davidmarkowitz/2020/05/05/trump-is-lying-more-than-ever-just-look-at-the-data/.

14 Trump wurde in 34 Anklagepunkten der Fälschung von Geschäftsunterlagen im Zusammenhang mit der Vertuschung eines Sexskandals während der Präsidentschaftswahl 2016 für schuldig befunden. Lazaro Gamio u.a., „The Trump Manhattan Criminal Verdict, Count By Count“, The New York Times, 30. Mai 2024, Abschn. New York, https://www.nytimes.com/interactive/2024/05/30/nyregion/trump-hush-money-verdict.html.

15 Als Trump im August 2015 in einem Bloomberg Interview nach seinem Lieblingsvers in der Bibel gefragt wurde, konnte er keinen nennen. https://www.youtube.com/watch?v=10qbt0LHmvE Als er drei Wochen später wieder gefragt wurde, nannte er vage einen Vers, den es wohl nicht gibt: Jenna Johnson u.a., „Donald Trump Likes That Proverbs Verse That Might Not Exist“, Washington Post, 16. September 2015, https://www.washingtonpost.com/news/post-politics/wp/2015/09/16/donald-trump-likes-that-proverbs-verse-that-might-not-exist/.

16 Günther van Norden. Kirche in der Krise: die Stellung der evangelischen Kirche zum nationalsozialistischen Staat im Jahre 1933. Düsseldorf: Presseverband der Ev. Kirche im Rheinland, 1963. 57. Siehe auch: Joachim Beckmann, So schwach waren wir: der Kampf um den rechten Glauben in der evangelischen Kirche des 20. Jahrhunderts : Aufsätze und Vorträge von 1933 bis 1984 (Düsseldorf: Presseverband der Ev. Kirche im Rheinland, 1985).

17 Carter Sherman, „Texas Woman Died after Being Denied Miscarriage Care Due to Abortion Ban, Report Finds“, The Guardian, 30. Oktober 2024, Abschn. US news, https://www.theguardian.com/us-news/2024/oct/30/texas-woman-death-abortion-ban-miscarriage. Moira Donegan, „Amber Thurman Was Killed by Georgia’s Abortion Ban. There Will Be Others“, The Guardian, 19. September 2024, Abschn. Opinion, https://www.theguardian.com/commentisfree/2024/sep/19/georgia-abortion-ban.

18 Carter Sherman, „States Push ’Fetal Personhood’ Bills despite Outrage at Alabama IVF Ruling“, The Guardian, 20. März 2024, Abschn. Society, https://www.theguardian.com/society/2024/mar/20/states-fetal-personhood-bill.

19 Shabad, Rebecca, „Speaker Mike Johnson Says Separation of Church and State Is a ’Misnomer’.“ NBC News, November 14, 2023. https://www.nbcnews.com/politics/congress/speaker-mike-johnson-says-separation-church-state-misnomer-rcna125181.

20 Patricia Tevington, Michael Rotolo und Gregory A. Smith, „45% of Americans Say U.S. Should Be a ’Christian Nation’“, Pew Research Center (blog), 27. Oktober 2022, zugegriffen 16. Dezember 2024. https://www.pewresearch.org/religion/2022/10/27/45-of-americans-say-u-s-should-be-a-christian-nation/.

21 Bradley Onishi und Matthew D. Taylor, „The Key to Mike Johnson’s Christian Extremism Hangs Outside His Office“, Rolling Stone (blog), 10. November 2023, https://www.rollingstone.com/politics/political-commentary/mike-johnson-christian-nationalist-appeal-to-heaven-flag-1234873851/.

22 „The Right-Wing Christian Sect Plotting a Political Takeover“, The New Republic, zugegriffen 30. August 2024, https://newrepublic.com/­article/167499/new-apostolic-reformation-­mastriano-christian.

23 Annika Brockschmidt, Amerikas Gotteskrieger wie die Religiöse Rechte die Demokratie gefährdet, Originalausgabe (Hamburg: Rowohlt Polaris, 2022). Annika Brockschmidt, Die Brandstifter: Wie Extremisten die Republikanische Partei übernahmen, 2. Aufl. (Hamburg: Rowohlt Buchverlag, 2024). Amanda Tyler, How to End Christian Nationalism (Minneapolis: Broadleaf Books, 2024). Andrew L. Whitehead und Samuel L. Perry, Taking America Back for God: Christian Nationalism in the United States, Updated edition (New York, NY: Oxford University Press, 2022). Philip S. Gorski und Samuel L. Perry, The Flag and the Cross: White Christian Nationalism and the Threat to American Democracy (New York, NY: Oxford University Press, 2022). Kristin Kobes Du Mez, Jesus and John Wayne: How White Evangelicals Corrupted a Faith and Fractured a Nation, ­Illustrated edition (New York, NY: Liveright, 2020). Kevin Michael Kruse, One Nation under God: How Corporate America Invented Christian America (New York: Basic Books, 2016).

 

Über die Autorin / den Autor:

Dr. Michael Grzonka, promovierter Chemiker, zuletzt tätig in der Qualitätssicherung für Software in medizinischen Geräten, lebte über 25 Jahre in den USA, Autor mehrerer Bücher über Martin Luther und die Reformation; aktuelle ­Projekte: "Charging Interest - Medieval Wisdom for a Modern Financial Crisis" (Fortress Press), "Lebensdienlich wirtschaften" (Hg., zus. mit M.M. Hoffmann, Büchner Verlag), Mitarbeit an der Grundsatzerklärung "Schrei nach einer lebensdienlichen Wirtschaft".

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 4/2025

4 Kommentare zu diesem Artikel
05.05.2025 Ein Kommentar von Eberhard Steinborn Woran du aber dein Herz hängst, das ist dein Gott“. Martin Luther
04.05.2025 Ein Kommentar von Eberhard Steinborn Man muss wissen, dass in den USA jedes zweite Wort >>money
24.04.2025 Ein Kommentar von Oesch, Johannes Der Autor kennt die USA und hat einen materialreichen Artikel geschrieben. Mir bleibt aber rätselhaft, warum er kaum etwas schreibt über die Kirchen und Denominationen. So ganz unwichtig sind die ja auch nicht.
17.04.2025 Ein Kommentar von Eberhard Steinborn Man muss wissen, dass in den USA jedes zweite Wort >>money
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