Gegenstand der Ethik ist seit dem Altertum die Moral, insbesondere im Blick auf ihre Begründbarkeit, aber auch auf ihre Praktizierbarkeit. Insoweit war und ist sie die praktische Seite jeder Philosophie. Stets wurden moralische Entscheidungen durch die gegenwärtige Qualität der Ausformung des Lebens getragen. Dass das Hier und Jetzt etwa des Zusammenlebens, damit aber auch des eigenen Lebens, eine nicht nur erträgliche, sondern vielleicht auch beglückende Qualität erhält, ist als Begründung einsichtig gewesen. Damit sehen wir deutlich den ständigen Gegenwartscharakter – fast – jeder ethischen Betrachtung der Philosophiegeschichte.
Ausnahme war und ist alle religiöse Ethik. Ihr wohnt ein gewisser Zukunftscharakter inne. Verhalten sich Gläubige im Rahmen der aus dieser Ethik erwachsenen Moral, winkt ihnen als wesentliche Begründung ihres praktischen Handelns die ewige Seligkeit. In den unterschiedlichsten Vorstellungen bebildert, aber immer als unabdingbarer, aber auch stark gefährdeter Gewinn und Lohn beschrieben.
Der Zukunftscharakter moderner Ethik
Der Philosoph Hans Jonas hat etwa zur Zeit der Jahrausendwende in seinem Werk „Das Prinzip Verantwortung“ eine völlig andere Erkenntnis eines noch recht jungen Zukunftscharakters moderner Ethik dargelegt. Im Zeitalter der wachsenden Fähigkeit und unverdrossenen Tätigkeit der Menschheit, mit den unterschiedlichsten und stetig verfeinerten Mitteln der Technik ihre Umwelt zu zerstören und so die Zukunft ihrer eigenen Spezies zu verhindern, kommt sinnvollerweise die hauptsächliche ethische Begründung moderner moralischer Imperative nicht mehr aus dem individuellen und gesellschaftlichen Gegenwartsbedarf. Bereits auf der Seite 36 seiner breit dargelegten Begründungen und Ausformungen dieser seiner Erkenntnis formuliert Jonas knapp die Quintessenz seiner Beobachtungen, Überlegungen und Konsequenzenbeschreibungen:
„Ein Imperativ, der auf den neuen Typ menschlichen Handelns paßt und an den neuen Typ von Handlungssubjekt gerichtet ist, würde so lauten: ‚Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden‘ oder negativ ausgedrückt: ‚Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung nicht zerstörerisch sind für die künftige Möglichkeit solchen Lebens.‘“
Während der alte Zukunftsbezug religiöser Ethik eher den Charakter einer Lotterie habe – die Belohnung bleibe ja immerhin Glaubenssache –, habe diese neue Ethik eine unausweichlich realistische – weil konkret wissenschaftliche – Begründbarkeit in der Zukunft.
Die Frage künftiger Generationen
Sein Lotterievergleich hat einen fast liebevollen ironischen Unterton; der praktizierende Jude Hans Jonas bleibt sich dabei treu. Aber die Frage nach der Praktizierung der moralischen Vernunft, die der beschriebenen neuen, sicher doch auch religiösen Ethik entspringt, richte ich deshalb hier, im Sinne neuer moralischer Anfragen an Religiöse, an alle gläubigen Christen: Wie ernst nehmen wir die Unausweichlichkeit der neuen Ethik? Haben wir unsere Alltagsmoral im Griff? Zur Umsteuerung, für die es fast schon zu spät ist? Oder verhalten wir uns weiterhin wie der Kettenraucher, der ganz genau die Gefahren seiner Gewohnheit kennt (auf jeder Packung sind sie aufgedruckt), aber unverdrossen seiner Sucht weiterhin frönt? Gerade die christliche Verantwortung für kommende Generationen muss den Imperativ der unentrinnbaren neuen Ethik doch zum kategorischen machen!
Der liebe- und vertrauensvolle Blick meines jüngsten – zweijährigen – Urenkels stellt mir schweigend die Kernfrage: „Was hast du dafür getan, und was tut ihr alle dafür, dass ich in einer lebensfähigen Welt erwachsen werden kann?“
▬ Gerhard Roos
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 3/2025