Wir alle

Seit geraumer Zeit fahre ich viel mit Bus und Bahn. Da ziehen Städte und Ortschaften an mir vorüber. Im Mittelpunkt meist eine Kirche. Vor Jahrhunderten Zeichen christlichen Glaubens. Stolz der Bürger. Auf der Kirchturmspitze ein Kreuz. So stehen sie da, die Kirchen wie sie jeweils gebaut worden sind. Mittelpunkt im Leben der Menschen sind sie nicht mehr. Allenfalls erinnert das Kreuz auf dem Kirchendach an den gekreuzigten ­Jesus aus Nazareth.

Und doch haben die Kirchen ihre Bedeutung. Allein, weil sie so mittendrin dastehen. „Mitte“. Was bedeutet das? – Auch wenn keiner so fragt. Die Frage bleibt gegenwärtig. Ist es Sehnsucht nach Heimat? Ausgelöst durch die vielen Vertriebenen und Flüchtlinge? Heimat – ein Ort, wo ich hingehöre. Wo ich zu Hause bin. Grundfrage unseres Daseins. Mitte. Verstanden als Geborgen­heit. Halt. Sinn. Wozu und Warum.

Unser Dasein, ein Stück Natur. Wir, bestimmt durch Geburt und Tod. Unser Leben gleichsam „dazwischen“. Es gilt, etwas daraus zu machen. So gut es eben geht. Wir sind verantwortlich. Nicht zu übersehen. Unsicherheit und Bedrohung. Klimaerwärmung bis hin zum nuklearen Selbstmordprogramm. Ein dunkles Schicksal über der ganzen Menschheit. Todesstrukturen.

Ich erfahre aber auch alltäglich Gutes in der Natur. Leiblich: Essen und Trinken. Seelisch: Freude an ihrer Schönheit. Das Staunen über ihre wunderbare Ordnung. Wir selbst, „Natur“. Wir, die „dazwischen“. Und irgendwie ahnen wir: Da ist mehr. Wir sind mehr als „Natur“. Viele Menschen fragen sich: Soll das, was wir täglich (er)leben schon alles (gewesen) sein. Dabei ist die Sehnsucht, dass mit dem Tod nicht alles aus ist, uralt. Schon bei den alten Ägyptern ist die Rede von einem Weiterleben nach dem Tod.

 

Jesus-Nachfolge

Wir halten Ausschau nach Menschen, die sich in den „Todesstrukturen“ bewährt haben. Wir brauchen Vorbilder. Ich denke ganz aktuell an Leute wie den russischen Regimekritiker Nawalny. Die todesmutigen Frauen im Iran. Die vielen von Krieg und Not Betroffenen in der Ukraine. Welch ein Widerstand gegen alle Unmenschlichkeit. Und dann ist da der gekreuzigte Jesus aus unserer christlichen Tradition. In Wort und Tat kümmert er sich um kranke, verachtete, schuldig gewordene Menschen. Von den Herrschenden fordert er Gerechtigkeit für Benachteiligte. Er deckt Korruption und Vetternwirtschaft auf. Er enttarnt die Heuchelei der religiösen Autoritäten. Alles für das „Reich Gottes“, dessen Anbruch er verkündet. Das macht ihn äußerst unbeliebt. Er zieht Verachtung, Hohn und Spott auf sich. Verhaftung, Verhör und Verurteilung. Am Ende bezahlt er mit seinem Leben. Daran erinnert das Kreuz auf dem Kirchturmdach.

Ich hatte bisher das große Glück, nicht in bedrohliche Todesstrukturen verwickelt zu werden. Und doch bin ich in den Grenzbereich des Todes hineingezogen worden. Ich habe sechs Jahre lang als Seelsorger in einem Krankenhaus gearbeitet. Aus der Begegnung mit „nur“ kranken Menschen wird da schnell die Begegnung mit Sterben und Tod. – Ich mache meinen alltäglichen Rundgang. Die Stationsschwester bittet mich, bei Herrn Schmidt (Name geändert) vorbeizuschauen. Ihm gehe es nicht gut. Ich betrete das Zimmer. Eine Besucherin steht am Bett. Ich grüße. Möchte mich vorstellen. Die Frau – sie ist die Schwester von Herrn Schmidt – legt los: „Gut, dass Sie kommen. Machen Sie ihm die Hölle heiß!“ – und zu ihrem Bruder gewandt: „Du bist so ein mieser Typ. Du hast uns nur immer Ärger gemacht. Das Geld versoffen. Randaliert. Gib zu, dass du deinen Lohn verdient hast.“ – Der Mann nickt, vor sich hinmurmelnd: „Ja – und ?“ Er strahlt eine unglaubliche Ruhe aus. Das bringt die Frau nur noch mehr in Fahrt. – Am liebsten würde ich gehen. Schließlich eine Familienangelegenheit. Aber dann denke ich, ich kann nicht. Ich gehöre an die Seite des Kranken. Deshalb bin ich ja gekommen. – Die Stationsschwester gibt uns diskret zu verstehen, der Besuch sei beendet. Ich verabschiede mich: „Ich werde morgen wiederkommen.“ – Herr Schmidt hat Leberzirrhose im letzten Stadium, erklärt mir der Arzt. Man sieht es an seinem gelblich verfärbten Gesicht.

Am nächsten Vormittag erfahre ich, dass Herr Schmidt noch am Abend gestorben ist. Ich öffne die Zimmertür. Die Schmidt-Schwester sitzt bereits neben dem Bett. Mir ahnt Schlimmes. Ich trete an das Bett heran. Der Mann, etwa Mitte 50, ganz nahe vor mir. Sein Gesicht wie gold-bronziert. Er erinnert mich an einen Engel von Barlach. Und wieder diese Ausstrahlung. Unglaubliche Ruhe. Eine beruhigende Atmosphäre. Inmitten von Tod und Streit. Irgendwie tröstlich. Versöhnlich. Ich lege Herrn Schmidt meine Hand auf die kalte Stirn. Ich spreche einen Segen. Die Frau sieht mich leicht grinsend an: „Soll er doch seinen Frieden haben. Sei es ihm vergönnt.“ Offenbar hat die Frau etwas von dieser ganz eigenen, guten Atmosphäre verspürt. Vielleicht ist sie ja auch nur neidisch.

 

Die Geisteskraft der Liebe

An den Betten Schwerkranker und Sterbender hatte ich zu lernen: Aushalten, Dasein, Mitleiden. Einmal so, dann wieder auch ganz anders. Ein Wort der Bibel? – „Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir.“ (Ps. 130,1) Es ist wohl eher wie beim Singen oder Musikhören. Ein „Durchtönen“. Personare (lateinisch). Ganz persönlich. Oft nur ein Wort: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ (1. Mos. 16,13) Das macht Sinn. Das könnte auch mir Ansehen, Würde und Kraft für das so nötige Innehalten, Hören und Fragen verleihen. Ein Vortasten zu den Sehnsüchten eines Menschen. Nach dem Vorbild Jesu, wenn er fragt: „Was willst du, dass ich für dich tun soll?“ (Mk. 10,51).

Sein Lebensmuster wirkt nach bis heute. „Auferstehung“! Sein ganzes Leben ist ein einziges Auf(er)stehen. In den ntl. Texten kommt das Wort „Auferstehung“ nicht vor. Die Hoffnung der „Auferstehung“ richtet sich auch nicht zuerst auf den eigenen Tod. Sie ist vielmehr die Weigerung, den Tod anderer hinzunehmen. Es geht um Gerechtigkeit, Ausgleich, Umsturz. Auferstehung ist ein Protestwort. Am klarsten hat das Maria, die Mutter Jesu, zum Ausdruck gebracht. An Weihnachten. Sie antwortet dem Engel: „Meine Seele erhebt den Herrn, und mein Geist freut sich Gottes, meines Heilandes … Er übt Gewalt mit seinem Arm und zerstreut, die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn. Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen.“ (Lk. 1,47.51.52)

Das AT spricht von der ruach (1. Mos. 1,1). Dem stets gegenwärtigen Lebensatem Gottes. Eine Kraft, die aus der offenen Zukunft in die Gegenwart hineinwirkt. Erfahrbar als ein Überstieg (Transzendenz) des Tatsächlichen zur Zukunft hin. Bewegung in Richtung auf ein nahes oder fernes Ziel. In diesem Zusammenhang sehe ich meine Begegnung mit Herrn Schmidt und seiner Schwester. Mitten in Streit und Häme hat sich etwas anderes durchgesetzt. Eine neue Stimmung. Ein innerer Friede. Vergebung? Von solchen Erfahrungen wird immer wieder erzählt. Meist bei der Begegnung mit kranken, komatösen oder sterbenden Menschen. Aber eben auch mitten im alltäglichen Hin und Her. Die christliche Tradition nennt es Wirkung des Heiligen Geistes.

Ich halte mich an einen Satz aus dem NT: „Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.“ (1. Joh. 4,16). Was Liebe anbelangt, sind wir alle Bedürftige. Wir haben schon als Kinder zu wenig davon mitbekommen. Und das setzt sich meist so fort bis ins Alter. Trotzdem betrifft mich Liebe ganz unmittelbar. Sie ist etwas Letztgültiges. Eine ungeheuerliche Wirkkraft. Sie ist uns immer voraus und trotzdem gegenwärtig. Diese Liebe können wir nicht erschaffen. So sehr wir uns nach ihr auch sehnen. Menschen, die sich wirklich lieben, schwören sich ewige Liebe. Sie hört nicht auf. Sie übersteht den Tod. Und das hat mit Gott zu tun. „Gott ist nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebenden.“ (Mk. 12,27) Das will uns Jesus mit seiner Botschaft vermitteln.

Wir leben  ||  in der Nachfolge Jesu  ||  von der Geisteskraft der Liebe.

 Jürgen Koch

 

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 3/2025

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