Im Novemberheft des Deutschen Pfarrerinnen- und Pfarrerblatts 2024 hat Christian Grethlein Überlegungen zur Zukunft der Kirchensteuer angestellt. Frank Weyen nimmt seine Vorschläge kritisch unter die Lupe und zeigt, warum das bisherige Kirchensteuermodell in Deutschland auch künftig die beste Option ist.
Christian Grethleins Beitrag zur Zukunft der Kirchensteuern1 in Deutschland greift eine schon seit rund 40 Jahren schwelende Diskussion in der evangelischen Kirche auf, die erneut verdeutlicht, dass es ein Grundproblem in der Sicht auf die evangelische Kirche bei verschiedenen im „Kirchenregiment“ (Schleiermacher) geben mag. Grethlein hat den Finger in die offene Wunde des Protestantismus gelegt, der oftmals genug die „hinkende Trennung“2 von Kirche und Staat bemängelt, ja kritisiert. Doch Grethleins Blick in die europäischen Nachbarstaaten weist genau auf den Kern des Problems hin: Wer eine „hinkenden Trennung“ in Deutschland unterstellt, hat einen enggeführten Blick auf die Situation in den europäischen Nachbarländern. Skandinavien finanziert seine lutherische Staatskirche im Umlageverfahren aus Staatssteuern. Frankreich, das seit 1905 mit seinem Laizismusgesetz eine strikte Trennung zwischen Kirchen und Staat propagiert, hat die historischen Kathedralen der seinerzeitigen katholischen Kirche von Frankreich ins Staatseigentum überführt, wie die erst jüngst wiedereröffnete Kathedrale Notre Dame von Paris dokumentiert. Frankreich finanziert also die Kultusorte der römischen Kirche aus Staatssteuern.
Der grethleinsche Vorschlag einer Kombination zwischen einer Sozialsteuer (otto per mille) in Italien, Spanien oder auch Ungarn mit dem Fundraising ist in dieser Form neu.3 Ich hatte bereits 20124 in meiner Dissertation eben diesen Sachverhalt kritisch erläutert. Denn eines ist klar, auch wenn kirchenabhängige Studien wie das 2024 erschienene Buch „Weshalb sie gehen“ eines kirchlichen württembergisch-westfälischen Hauptamtlichenteams suggerieren, das Fundraising habe eine Chance in Europa, muss doch festgehalten werden: Es werden nur rund 3%5 des jährlich erzielten Gesamtkirchensteueraufkommens aus Fundraising in der evangelischen Kirche generiert und eine seit 300 Jahren eingeübte Spendenkultur wie in den USA ist für Europa unrealistisch anzunehmen.6 Das Gros der Mitteleinnahmen kommt aus dem Steuerhebefuß in den Bundesländern in die kirchlichen Kassen und das dürfte auch so bleiben.7
Neoliberalistischer Kompensationsrausch
Man darf auch nicht verkennen, dass schon 1995 mit der Einführung der Pflegeversicherung und der, evangelischerseits, freimütig zustimmenden Streichung des Buß- und Bettages als gesetzlich geschützten und arbeitsfreien Feiertag der EKD-Rat staatstragend einem neoliberalistischen Kompensationsrausch gefolgt ist, der sich als ökonomisch vorhergesagter Entlastungseffekt für die Leistungen der Arbeitsgeberseite an der neu eingeführten Pflegeversicherung niemals eingestellt hatte und bis heute keine ökonomisch-nachweisbaren Effekte nach sich gezogen hat.8 Trotzdem hat sich der seinerzeitige EKD-Rat9 dem Begehren der damaligen Kohlregierung entgegenkommend gezeigt und einen evangelischen Feiertag auf dem „Altar des Neoliberalismus“ geopfert. Übrigens: Die römische Kirche würde sicherlich niemals auf die Idee kommen, einem solchen politisch initiierten Begehren zu folgen und beispielsweise einer Abschaffung des Pfingstmontages als Tag der katholischen Firmung zustimmen.
Und nun gibt es derzeit wiederum Bestrebungen, leichtfertig im Grundgesetz festgeschriebene Vorteile für beide Kirchen, für die Jüdischen Gemeinden in Deutschland und für die Zeugen Jehovas in Berlin einem wirtschaftsliberalen Gerede staatstragend als Offerte anzubieten. Wohl gemerkt: alle Parteien streben derzeit einer Veränderung der Finanzierung der Kirchen entgegen. Ob nun eine wirtschaftsliberale Partei, eine ökoliberale, eine sozialliberale, eine konservativ-liberale, eine neue linksliberal-neostalinistische Namenspartei oder auch eine nationalliberal-neofaschistoide. Alle vereint das Begehren nach der nicht existenten, aber munter behaupteten „hinkenden Trennung“ zwischen Kirche und Staat zu fragen.
Der Bremische Ökonom Rudolf Hickel diagnostizierte schon 2004 eine Bundesrepublik im Steuersenkungsrausch10und daran hat sich bis heute nichts geändert, im Gegenteil. Aber: ein Staat, der seine Aufgaben erfüllen muss, muss dazu auch Einnahmen schaffen, die es ihm ermöglichen zum Wohle seiner Bürger*innen zu handeln. Ein „zersparter“, schuldengebremster, dahinmarodierender Staat und sein Gemeinwesen ist zwar ganz im Sinne des Neoliberalismus11, aber er begünstigt damit die Verelendung der Massen und gefährdet zugleich seine eigene freiheitlich-demokratische Fortexistenz.12 Hier hat das „Wächteramt der Kirche“13 eine staatskritische Aufgabe öffentlich wahrzunehmen.
Das Grundgesetz im Lichte Weimars
Eines sollte nicht vergessen werden: Die Kirchensteuer, die Steuer der Jüdischen Gemeinden in Deutschland und der Zeugen Jehovas in Berlin sind nach Art. 140GG Bestandteil unserer Staatsverfassung. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes haben mit Bedacht 1949 die einschlägigen und bewährten Artikel 136, 137, 138, 139 und 141 der Weimarer Reichsverfassung (WRV) von 1919 in Art. 140GG berücksichtigt und für die Bundesrepublik fortgeschrieben. Hier ist nicht nur der Sonntagsschutz gewährleistet (Art. 139 WRV), sondern auch die Kriterien zur Bestimmung einer Körperschaft öffentlichen Rechtes als Grundlage für den Begriff der Institution (Art 137, Abs. 5 + 6 WRV), „[…] wenn sie durch ihre Verfassung und die Zahl ihrer Mitglieder die Gewähr der Dauer bieten.“14 Hinzu kommt der für kirchliches Handelns als Institution wichtige Hinweis auf den Schrankenvorbehalt in Art. 137, Abs. 3 WRV: „Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes.“15 Ferner gewährt Art. 137, Abs. 6 WRV auch die Grundlage für die Erhebung von Kirchensteuern: „Die Religionsgesellschaften, welche Körperschaften des öffentlichen Rechtes sind, sind berechtigt, auf Grund der bürgerlichen Steuerlisten nach Maßgabe der landesrechtlichen Bestimmungen Steuern zu erheben.“16
Es herrscht also eine lange verfassungsrechtliche Tradition als Legintimationsgrundlage für eine evangelische Kirche, die erst im Jahre 1919 mit der Weimarer Reichverfassung als staatsunabhängige Kirche entstanden ist, nachdem die Entente zwischen Thron und Altar in der Revolution von 1918 zerbrochen war. Otto Dibelius’ Dissertation „Das Jahrhundert der Kirche“ (192717) zeugt von den Wehen, die die evangelische Kirche in ihrer Sattelzeit, den 1920er Jahren, zu verzeichnen hatte, nachdem sie über Jahrhunderte hinweg sich staatstragend zum landesherrlichen Kirchenregiment gezeigt und vom zweiten Kaiserreich als die Staatskirche der Hohenzollern schlechthin über die Maßen profitiert hatte. Weimar und der verfassunggebende Parlamentarische Rat von Bonn wussten sehr genau, dass die Existenz der Kirchen staatliche Garantien benötige und auch für ihr Auskommen gesorgt werden müsse.
20 Promille vom Einkommen – die Sozial- oder Mandatssteuern
Wir sollten bei der Diskussion um eine allgemeine Sozialsteuer jedoch auch bedenken, welche Vorteile diese in Italien, Ungarn und Spanien mit sich bringt, die bei der bundesdeutschen Bevölkerung sicherlich nur schwer durchzusetzen sein dürfte und jedenfalls nur um des parteipolitischen Preises willen, Wahlen zu verlieren, plausibel gemacht werden könnte. Eine Sozialsteuer, nennen wir sie, wie Grethlein es in seinem Beitrag in der Novemberausgabe des Deutschen Pfarrerinnen- und Pfarrerblattes getan hatte, „Otto-per-Mille“ (zu Deutsch: 8 Promille) oder auch Mandatssteuer: Es würden damit wirklich alle steuerpflichtigen zur Ableistung einer entsprechenden Sozialsteuer veranlagt und damit herangezogen, so sie denn mehr als 3.500,- Euro brutto als vierköpfige Familie im Monat verdienen würden. Dieses System wäre gerecht, würde aber keine Antwort auf die von einigen immer noch behauptete hinkende Trennung geben können. Im Gegenteil, es wäre gerechter, wenn alle Steuerpflichtigen ihren Sozialbeitrag zusätzlich leisten. Und dem ungarischen Beispiel folgend (1%) wären 20 Promille oder zwei Prozent vom zu versteuernden Bruttojahreseinkommen sicherlich ein guter deutscher Wert, angesichts des hohen deutschen Bruttoinlandsproduktes.
Ein Vorbild für Deutschland: Die Schweiz
Es wäre jedoch auch denkbar, dem schweizerischen Beispiel zu folgen. In der Schweiz unternehmen regelmäßig alle 20 Jahre die Jungfreisinnigen, eine Jugendorganisation einer liberalen schweizerischen Wirtschaftspartei, die in Deutschland vergleichbar mit den Jungliberalen wären18, eine Teilnahme an der eidgenössisch-kantonalen oder schweizweiten Volksabstimmung, um eine Kirchensteuervariante zu beseitigen, die neoliberalistischen Wirtschaftsparteien ein „Dorn im Auge“ ist: In der Schweiz zahlen nicht nur Unternehmer*innen als Privatpersonen und Kirchenmitglied Kirchensteuern, wie in Deutschland auch. In der Schweiz zahlen ganze Unternehmen aus ihrer Körperschafts-, Umsatz-, Gewinn- oder auch Kapitalsteuer Kirchensteuern an die reformierte, die katholische Kirche der Schweiz und die christkatholische Kirche. In den Kantonen Basel, Fribourg und St. Gallen auch an die Jüdische Gemeinde. Und Unternehmen können aus der Kirche nicht austreten, so das eidgenössische Gesetz. Ein Modell einer nicht vollzogenen Trennung zwischen Kirche und Staat, das beispielhaft ist, für die hohen Einnahmen der schweizerischen Kirchen aus Kirchensteuern.
Ein Beispiel dazu: Die 2015 in die Großgemeinde Zürich aufgegangene ehemalige Reformierte Kirchgemeinde Zürich-St.-Peter im Herzen der Altstadt von Zürich, links der Limmat, umfasste vor ihrer Vereinigung zur Großgemeinde in der größten Stadt der Schweiz rund 500 Gemeindeglieder. Die Einnahmen aus Kirchensteuern spiegelten diese geringe Zahl Kirchenmitglieder keineswegs wider: Sie waren nämlich enorm. Der Grund dafür war, dass auf dem Territorium der Kirchengemeinde sich einerseits die Bahnhofstraße erstreckte. Diese ist sicherlich neben der 5th Avenue in New York City und der Rue du Faubourg Saint-Honoré in Paris eine der prächtigsten und umsatzstärksten Einkaufsmeilen dieser Welt. Andererseits, mitten auf der Bahnhofstraße findet sich der Paradeplatz, mitten in der Kirchgemeinde Zürich-St.-Peter. Am Paradeplatz sind die Unternehmenssitze der Crédit-Suisse und der UBS, der beiden größten Banken der Schweiz, angesiedelt. Beide Unternehmen, aber auch alle weiteren Unternehmen an der Bahnhofstraße in Zürich zahlen also nach dem hier beschriebenen Modell Kirchensteuern als Unternehmen. Dies brachte seinerzeit der Kirchgemeinde Zürich-St.-Peter jährliche Steuereinnahmen von rund 5 Mio. Schweizer Franken ein, wohl gemerkt bei einer Gemeindegliederanzahl von rund 500 Personen.
Rund 40% der Kirchensteuereinnahmen für die schweizerischen Kirchen entstammen diesem Steuervorbild. Das ist ein wirkliches Vorbild für Deutschland.19 Die Jungfreisinnigen übrigens scheitern mit der Volksabstimmung gegen diese Unternehmenssteuerform alle 20 Jahre immer wieder neu, zuletzt 2014, aber das nur zur Vollständigkeit der Diskussion um neoliberalistische Wirtschaftsphantastereien.20
Kirchensteuern gerecht – Mitgliedsbeiträge ungerecht
„Kirchensteuern sind gerecht“. Die neue Kirchenpräsidentin aus Hessen-Nassau, die ehemalige Züricher Professorin Christiane Tietz, betonte dies während ihrer Bewerbungsrede vor der Landessynode in Darmstadt 2024.21Kirchensteuern belasten ausschließlich nur diejenigen Menschen, die auch Lohn- und Einkommenssteuern entrichten müssen, alle anderen genießen die gleichen Vorteile und Rechte von Kirchenmitgliedern: Senior*innen, sofern sie keine hohen Renten und keine Kapitaleinkünfte haben, Ehepartner*innen, die sich der Kindererziehung widmen, Kinder überhaupt und auch Menschen mit Behinderung sowie Geringverdiener*innen und Arbeitslose. Alle diese Personengruppen genießen die Segensdienstleistungen22 der evangelischen Kirchen tagtäglich, und zwar gerade deshalb, weil Menschen Kirchensteuern entrichten, denen die Kirche noch wichtig ist im Leben und für das Leben.23
Würde man Mitgliedsbeiträge nach dem Muster von Vereinen oder Fitness-Studios erheben, so würde dies Menschen mit geringem oder keinem Einkommen naturgemäß stärker belasten als leistungsfähige Vermögende mit höheren Einkommen. Mitgliedbeiträge sind nicht gerecht: Beispielweise könnten als Mitgliedbeitrag 50,– Euro im Monat von Kirchenmitgliedern erwartet werden und für Familien vielleicht ein Pauschalbeitrag von 100,– Euro monatlich. Aber diese Modellrechnung ist eher unrealistisch und ungerecht.
Rechnungen und Erwartungen, die auf Trugschlüssen, Illusionen beruhen – der Kirchenaustritt und das Steuerrecht
Übrigens, das darf im Anschluss an die von Grethlein aufgeworfene Debatte auch nicht verkannt werden: Kennen Sie „Milchmädchenrechnungen“? Das sind im Volksmund Rechnungen und Erwartungen, die auf Trugschlüssen, Illusionen o.ä. aufgebaut sind. Und unser Land ist scheinbar voll von „Milchmädchen“, die nicht wissen, was sie tun. Was die meisten Menschen nicht wissen, ist, dass wenn ich aus der Kirche austrete, ich sofort und unverzüglich mehr Einkommens- und Lohnsteuern an den Staat (!) entrichten muss. Denn nach §10 Abs. 1 Nr. 4 Einkommenssteuergesetz (EStG)24 gewährt der Staat mithilfe der Finanzämter einen Steuernachlass auf das zu versteuernde Einkommen für die gezahlte Kirchensteuer. Wenn ich dann zusätzlich noch unmittelbar mit meinem Einkommen an der Progressionsgrenze (sog. kalte Progression) stehe, kann es sein, dass durch den Abzug der Kirchensteuer von meinen zu versteuernden Einkommen, ich plötzlich ganz allgemein viel weniger Steuern zahlen muss, weil meine Progression für mich steuergünstiger ausfällt. Trete ich in diesem Fall aber aus der Kirche aus, dann wird es genau umgekehrt sein: denn ich bekomme den Steuernachlass nach §10 EStG nicht mehr vom Finanzamt gewährt. Dann muss ich nicht nur mehr Staatssteuern zahlen, sondern vielleicht deutlich mehr Steuern, weil ich in der Steuerprogression einfach höher rutsche und daher deutlich mehr Steuern von meinem Einkommen an den Staat zahlen muss25. Wer sich hier freut, ist evident: Der Staat und der Steuerberater.
Es rechnet sich also gar nicht, nicht mehr in der Kirche zu sein. Im Gegenteil: Es rechnet sich vielmehr Mitglied der Kirche zu sein und sich an der Solidargemeinschaft Kirchengemeinde auch finanziell zu beteiligen. Vor allem bekommt man als Kirchenmitglied alle Segensdienstleistungen der Kirche, und zwar kostenfrei! Es zahlen ohnehin nur etwa 45% aller Kirchenmitglieder überhaupt Kirchensteuern: Kinder, Hausfrauen, Arbeitslose, Rentner*innen mit geringen Renten und alle, die unter 3000,– Euro brutto im Monat verdienen, zahlen keine Kirchensteuern. Eine Familie mit zwei Kindern zahlt erst ab einem Bruttogehalt von 3500,– Euro im Monat, nur 0,90 Euro, also 90 Cent, im Monat Kirchensteuern. Das sind im Jahr etwa 11,– Euro.26 Und das dürfen wir als Kirche auch den Menschen sagen und sollten es ihnen nicht beschwichtigend vorenthalten.
Quintessenz
Kirchensteuern sind gerecht, Alternativen sind denkbar, das Ausland bietet Beispiele, aus denen Deutschland lernen kann. Art. 140 GG ist eine der wichtigsten Stützen der Kirchen und anderer Religionsgemeinschaften wie dem Zentralrat der Juden in Deutschland und aller Jüdischen Gemeinden. Kirchensteuern ermöglichen ein kirchlich-religiöses Leben für die evangelische Gesellschaftskirche27, die sich für die Menschen in Deutschland engagiert, und adäquat ermöglicht das Modell ein unverzichtbares jüdisches Leben in Deutschland. Art. 140 GG und die dahinterliegenden Artikel der WRV sollten daher nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden. Denn damit setzten die Kirchen auch ihr verfassungsrechtlich geschütztes Recht auf „Gottesdienst und Seelsorge im Heer, in Krankenhäusern, Strafanstalten oder sonstigen öffentlichen Anstalten […], sind die Religionsgesellschaften zur Vornahme religiöser Handlungen zuzulassen, wobei jeder Zwang fernzuhalten ist“28, aufs Spiel.
Im Rahmen des Studienganges „Spiritual Care“ an der Universität Münster und Forschungsergebnissen zur Wirksamkeit von Krankenhausseelsorge bei Nika Höfler29 und Raphael Olberding sollte in der Evangelischen Kirche in Deutschland hier nochmals grundlegend darüber nachgedacht werden, was eigentlich wirklich auf dem Spiel steht, wenn sich die evangelische Kirche staatstragend geben möchte und letztlich bestimmten politisch motivierten neoliberalistischen Umverteilungsströmungen der Politik von unten nach oben auf den Leim geht. Das „Wächteramt der Kirche“ besteht darin, die Politik auf ihre Verbesserungsfähigkeit hinzuweisen zum Wohle der Menschen in unserer Gesellschaft. Daher ist den Leuten mit Luther in der Tat auf den Mund zu schauen. Das bedeutet jedoch nicht, einigen wenigen politischen Strömungen nach dem Munde zu reden, um ihnen als Kirche zu gefallen. Ohne Kirchensteuern ist die Kirche in Deutschland keine gestaltende Gesellschaftskraft mehr und das hängt eben nicht nur an Mitgliedszahlen.
Wenn die neueste Kirchenmitgliedschaftuntersuchung30 ermittelt, dass 79% der Konfessionslosen31 sich dafür aussprechen, die Kirche solle sich anders als durch Kirchensteuern finanzieren, dann kann eine solche Aussage nicht ernst genommen werden, weil diese Menschen ja nicht Mitglied der Kirchen sind. Und ferner sollten die Kirchen diese Menschen vielleicht doch beim Wort nehmen und ihnen dann Gebühren auferlegen, so sie denn Segensdienstleistungen von den Kirchen erwarten, beispielsweise bei der Bestattung auf einem kirchlichen Friedhof, in der Diakonie und weiteren Leistungen, die nur die Kirchen für Menschen bereithalten können.
Dazu ein Beispiel: Auf der dänischen Insel Fanø, wo ich einige Jahre meinen Dienst in der EKD-Tourismusseelsorge geleistet habe, gibt es eine rege lutherische Kirchengemeinde, die zur dänischen Staatskirche gehört. Zu der Kirchengemeinde gehören sechs evangelische Friedhöfe auf der kleinen Nordseeinsel. Auf meine Frage hin, ob denn hier alle Menschen, die auf Fanø leben, bestattet werden, entgegnete mir ein Kirchenvorsteher sehr klar und unmissverständlich: „Die müssen Mitglied der Kirche sein!“ Wenn Bürger*innen auf der dänischen Insel nicht Mitglied der Kirche sind, müssen sie auf dem Festland in der Industrie- und Hafenstadt Esbjerg auf einem städtischen Friedhof ihre letzte Ruhestätte finden. Wiederum ein Modell auch für Deutschland! Gleiches gilt für Taufen und Trauungen von Menschen, die nicht in der Kirche sind, aber trotzdem derartiges begehren. Hier könnten Gebühren erhoben werden, die direkt in den Haushalt der Kirchengemeinden fließen. Dies gilt auch für Trauungen und Taufen, bei denen nur ein*e Partner*in Kirchenmitglied ist. Nehmen wir also die 79% der Konfessionslosen beim Wort und erfüllen deren Wünsche umfragegemäß.
Der Blick ins europäische Ausland zeigt: Die deutsche Steuersituation ist gar nicht so ungewöhnlich, wie die Behauptung einer „hinkenden Trennung“ glauben machen möchte. Alle Staaten haben ein variantenreiches Portfolio an Einnahmemöglichkeiten für die Kirchen geschaffen. Das niederländische Modell einer sich allein aus Spenden finanzierenden Kirchen ist für Deutschland kein gangbarer Weg, ebenso nicht das Modell der reformierten Kirche von Frankreich. In beiden Staaten ist mit dieser Einnahmepraxis die Zukunft der Kirchen negativ. Festzuhalten bleibt daher: Der deutsche Weg ist eben ein deutscher Weg, Einnahmen für die Kirchen zu generieren. Der italienische der italienische, der ungarische der ungarische und der schwedische eben der schwedische Weg usw. Vorauseilender Gehorsam und staatstragende Treue sind hier deplatziert, Beschwichtigungen gegenüber der Politik schädlich.
Und auch die Ablösung der Staatsleistungen von 180332 müssen letztlich erst einmal vor der höchsten deutschen Gerichtsbarkeit Bestand haben, wenn die Bundesländer diese Staatsleistungen ablösen müssen, die möglicherweise bestimmte politische Strömungen in der Bundesregierung den Ländern aufbürden wollen. Der deutsche sowie der evangelische Föderalismus sind stark und widerstandsfähig und das Grundgesetz auch im 76. Jahr seines Bestehens für die Kirchen, die Jüdischen Gemeinden in Deutschland sowie für die Zeugen Jehovas in Berlin unverzichtbar.
Anmerkungen
1 Vgl. Grethlein, Christian: Was kommt nach der Kirchensteuer? Überlegungen zum anstehenden Transformationsprozess der Kirche in Deutschland, DPfBl 11/2024.
2 Zum Begriff vgl. https://www.boell-rlp.de/themen/soziales/das-verhaeltnis-von-staat-und-kirche, letzter Aufruf 31.12.2024.
3 Vgl. die Analyse von Jens Petersen: https://www.kirchenfinanzen.de/download/erscheinungsformen_europa.pdf, letzter Aufruf 31.12.2024.
4 Vgl. Weyen, Frank (2012): Kirche in der finanziellen Transformation: Fundraising für evangelische Kirchengemeinden. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt.
5 Vgl. https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/Werte_mit_Wirkung_Finanzstatistik_der_ev_Kirche.pdf, letzter Aufruf 31.12.2024.
6 Vgl. dazu Weyen (2012), Finanzielle Transformation.
7 Vgl. meine Kritikpunkte an den Behauptungen der Autoren zu den Chancen des Fundraisings in meiner Rezension: Weyen, Frank (2024): Riegel, Ulrich/Jacobebbinghaus, Peter/Peters, Fabian/Federmann, Hansjörg, u. Georg Ottmar: Weshalb sie gehen. Eine repräsentative Studie zu den Anlässen und Motiven hinter den Austritten aus der evangelischen Kirche von Westfalen und in Württemberg. Stuttgart: Kohlhammer 2023. 241 S. in: Markschies, Christoph (Hg.): Theologische Literaturzeitschrift (ThLZ), Jg. 149, Heft 9, Sp. 848-850, Leipzig 2024 (Evangelische Verlagsanstalt Leipzig).
8 Übrigens ist hier der Freistaat Sachsen als vorbildlich zu bezeichnen. Der damalige Ministerpräsident und Wirtschaftswissenschaftler, Prof. Kurt Biedenkopf, hat seinerzeit die von die Kohlregierung verkündete Kompensationsverheißungen zwecks Beschwichtigung der Arbeitgeberverbände als unzureichend entlarvt und gesehen, dass sich diese Kompensationseffekte niemals werden nachweisen lassen. Daher ist der Buß- und Bettag bis heute auch ein staatlich geschützter arbeitsfreier Feiertag im Freistaat. 2024 hat die Pflegeversicherung sogar die Not leerer Kassen ausrufen müssen. Vgl. https://www.fr.de/verbraucher/pflegeversicherung-droht-pleite-was-jetzt-auf-rentner-zukommen-kann-93341092.html, letzter Aufruf 31.12.2024; https://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/rk20030611_1bvr019000.html, letzter Aufruf 31.12.2024.
9 Vgl. https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/buss-und-bettag-warum-der-feiertag-abgeschafft-wurde-18429524.html, letzter Aufruf 31.12.2024;
10 Vgl. Hickel, Rudolf: Die Republik im Steuersenkungsrausch, Sehnsüchte, Irrtümer und verarmender Staat, Langfassung des Beitrags unter dem Titel: „Merz, Kirchhof und Co. Die Republik im Steuersenkungsrausch“, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 2/2004, 210.
11 Vgl. Friedman, Milton (2014): Kapitalismus und Freiheit. 9. Aufl. München: Piper.
12 Vgl. Hickel, a.a.O.
13 Vgl. Pannenberg, Wolfhart (1993): Systematische Theologie. Gesamtausgabe. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 441-469; Körtner, Ulrich H.J. (2018): Dogmatik. Studienausgabe, [1. Aufl.]. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt (Lehrwerk Evangelische Theologie (LETh), Bd. 5), 573-613; Härle, Wilfried: Dogmatik. 4. Aufl. (De Gruyter Studium), 585-613; https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/denkschriftendenkschrift.pdf, letzter Aufruf 31.12.2024.
14 https://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_140.html, letzter Aufruf 31.12.2024.
15 Ders., a.a.O.
16 Ders., a.a.O.
17 Vgl. Dibelius, Otto (1928): Das Jahrhundert der Kirche. Geschichte, Betrachtung, Umschau und Ziele. 5. Aufl. Berlin: Furche.
18 Vgl. https://www.zeit.de/politik/deutschland/2017-11/christian-lindner-sondierung-jamaika-abbruch-fdp, letzter Aufruf 31.12.2024.
19 Vgl. https://www.kmu.admin.ch/kmu/de/home/praktisches-wissen/finanzielles/steuern/besteuerung-von-kapitalgesellschaften.html, letzter Aufruf 31.12.2024.
20 Vgl. https://www.tagesanzeiger.ch/jungfreisinnige-wollen-kirchensteuer-fuer-firmen-abschaffen-856162446002, letzter Aufruf 31.12.2024.
21 Vgl. https://www.ekhn.de/themen/kirchenpraesident/kp-news/synode-hat-gewaehlt-christiane-tietz-wird-neue-kirchenpraesidentin, letzter Aufruf 31.12.2024.
22 Vgl. Moos, Thorsten (2020): Segensdienstleistungen. In: Praktische Theologie 55 (2), 202-207.
23 Vgl. Evangelische Kirche in Deutschland; Bernd Raffelhüschen; Forschungszentrum Generationenverträge (FZG) der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg (2019): Kirche im Umbruch. Zwischen demografischem Wandel und nachlassender Kirchenverbundenheit. Eine langfristige Projektion der Kirchenmitglieder und des Kirchensteueraufkommens der Universität Freiburg in Verbindung mit der EKD. Hannover.; https://www.ekd.de/kirche-im-
umbruch-projektion-2060-45516.htm, letzter Aufruf 31.12.2024.
24 Vgl. https://www.gesetze-im-internet.de/estg/__10.html, letzter Aufruf 31.12.2024.
25 Vgl. Kalte Progession: https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/FAQ/kalte-progression.html, letzter Aufruf 31.12.2024.
26 Vgl. Raffelhüschen, a.a.O., 18/19.
27 Vgl. dazu: Weyen, Frank (2016): Kirche in der strukturellen Transformation. Identität, Programmatik, organisatorische Gestalt. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
28 Art. 141 WRV Art. 140GG: https://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_140.html, letzter Aufruf 31.12.2024.
29 Vgl. Höfler, Nika: Wirksamkeit von Krankenhausseelsorge. Dissertation. Evangelische Verlagsanstalt; Westfälische Wilhelms-Universität Münster.
30 Vgl. https://kmu.ekd.de/fileadmin/user_upload/kirchenmitgliedschaftsuntersuchung/PDF/Wie_h%C3%A4ltst_du%E2%80%99s_mit_der_Kirche_%E2%80%93_Zur_Bedeutung_der_Kirche%E2%80%93in%E2%80%93der%E2%80%93Gesellschaft_KMU_6.pdf, letzter Aufruf 31.12.2024.
31 Vgl. https://kmu.ekd.de/kmu-themen/kirchensteuer#c18568, letzter Aufruf 31.12.2024.
32 Vgl. https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/Werte_mit_Wirkung_Finanzstatistik_der_ev_Kirche.pdf, letzter Aufruf 31.12.2024, Staatsleistungen machen jährlich nur rund 2,2% des Gesamtkirchensteueraufkommens oder 273 Mio. Euro p.a. aus.
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 3/2025