Kirche befindet sich im Wandel. Motor dieses Wandels sind zum einen Veränderungen in der Frömmigkeits- und Religionskultur. Regelrecht provoziert und auf der organisatorischen Ebene unumgänglich ist das Nachdenken über die Gestaltung und die Form von Kirche zum anderen allerdings durch den anhaltenden Mitgliederschwund und den damit verbundenen Rückgang der kirchlichen Finanzkraft. Worauf kommt es in dieser Situation der Transformation von Kirche besonders an? Der von Gerald Kretzschmar und Timo Schmidt vorgestellte Mitgliederrat der Evangelischen Kirche der Pfalz ist ein im kirchlichen Kontext neues Format, um Antworten hierauf zu finden.
1. Mitgliederorientierung in kirchlichen Transformationsprozessen – eine christologische Begründung
Eine immer häufiger anzutreffende Orientierungsoption im Rahmen kirchlicher Transformationsprozesse ist der Aspekt der Mitgliederorientierung. Mit diesem Aspekt wird die Frage nach den Anliegen in den Fokus gerückt, die Menschen der Kirche entgegenbringen. Kirche richtet sich auf diese Weise an den Bedürfnissen und Wünschen ihrer Mitglieder aus. Auf den Wandel wird pragmatisch reagiert, indem der Blick auf die Menschen und deren konkrete Lebenssituation gerichtet wird. Kirchliche Organisationsstrukturen und Angebote sollen stärker auf die Bedürfnisse der Menschen bezogen werden.
Mit dem Aspekt der Mitglieder- bzw. Menschenorientierung greift die Kirche eine christologische Denkfigur auf. Der Gedanke, dass Gott Mensch wurde, dass er in die Lebenswelt der Menschen ging als wahrer Gott und wahrer Mensch, markiert, dass die Frohe Botschaft nicht allein zu verstehen ist als etwas, das gleichsam über die Menschen gekommen ist, sondern im Kontakt, in der Berührung mit dem konkreten Leben erst Inhalt und Form findet und dadurch Sinn und Bedeutung entfaltet. Nicht ein Gott für, sondern mit den Menschen, ein Gott der Menschen, realisiert sich hier. Denn von Gott wird in dieser Denkfigur nicht so erzählt, als sei er eine in der Ewigkeit isolierte Größe, sondern vielmehr so, dass er reagiert und seinen Segen als Zuspruch auf konkrete Bedürfnisse von Menschen offenbart.
Diese christologische Denkfigur gilt es, für das Handeln und das Selbstverständnis der Kirche nachzubilden, um Gottes Kirche zu bleiben. Indem sie danach fragt, welche Bedürfnisse und Anliegen die Menschen heute haben, und sie sich in ihrer Neustrukturierung auch daran orientiert, kann sie zu Gottes Kirche der Menschen werden.
Damit stellt sich ganz grundlegend die Frage: Was brauchen und wünschen sich die Menschen von der Kirche. Oder präzisier auf das Thema Wandel der Kirche zugespitzt: Welche Veränderungen und Fokussierungen sind aus Mitgliederperspektive notwendig?
2. Der kirchliche Mitgliederrat als neue Form der Mitgliederorientierung in kirchlichen Transformationsprozessen
Mit dem Format des Mitgliederrates spielt die Evang. Kirche der Pfalz eine neue Variante der Mitgliederorientierung in das Feld kirchlicher Transformationsprozesse ein. Veranstaltet wurde der Mitgliederrat am 1. Dezember 2023. Das Format des Mitgliederrates ist von den Bürgerräten aus dem Bereich der Politik inspiriert. Bürgerräte sind Gremien, in denen Bürgerinnen und Bürger nach dem Zufallsprinzip ausgewählt werden und die Aufgabe haben, gemeinsam nach Lösungen für konkrete Probleme zu suchen. Dabei bleiben die Organe der repräsentativen Demokratie in ihrer Verantwortung unberührt. Ist ein Bürgerrat im kirchlichen Kontext verortet, spricht man besser von einem Mitgliederrat. Genauso wie bei einem politischen Bürgerrat handelt es sich auch bei einem kirchlichen Mitgliederrat nicht um ein zusätzliches kirchliches Entscheidungsgremium. Er ist eine ergänzende Informations- und Wahrnehmungsquelle. Er bietet die Möglichkeit, Erfahrungen, Meinungen und Sichtweisen zur Kenntnis zu nehmen und für kirchenpolitische Entscheidungsprozesse zu nutzen, die in den strukturell verankerten Gremien in dieser Form nicht greifbar sind.
Wie auch bei den Bürgerräten wurde beim Mitgliederrat der Evang. Kirche der Pfalz ein soziodemographischer Querschnitt aus den Mitgliedern angefragt. Das Verfahren zur Auswahl der Ratsmitglieder folgte dem Zufallsprinzip. Die Zufallsauswahl stellt die Unabhängigkeit des Rates sicher, da die angefragten Personen nicht aktiv von bestimmten kirchlichen Interessensgruppe nach inhaltlichen Kriterien ausgesucht worden sind. Insgesamt konnten 14 Personen für das Vorhaben gewonnen werden.
3. Methodisches Vorgehen
Methodisch steht bei der Arbeit des Mitgliederrates, wie er in der Evang. Kirche der Pfalz konzipiert wurde, eine an empirischen Verfahren der qualitativen Biografieforschung angelehnte Variante des Storytellings im Mittelpunkt. Diese Methodik erlaubt es, Themen zu ermitteln, die für die Ratsmitglieder in Bezug auf Kirche biografisch und lebensweltlich bedeutsam sind. Durch das Erzählen lebensgeschichtlicher Begebenheiten und Anekdoten werden Themen und Sachverhalte zur Sprache gebracht, die in einem Zusammenhang mit Kirche stehen und gleichzeitig für die eigene Lebensgeschichte relevant sind. Der mündlich vorgetragene und zusätzlich auf einem Flipchart im Raum stehende Erzählimpuls, der die Ratsmitglieder zum Erzählen solcher autobiografischen Begebenheiten motivieren sollte, lautete: „Geschichten erzählen. Momente in meinem Leben, in denen Spiritualität, Christentum, Gemeinde, Kirche … für mich wichtig waren“.1
Die Weite der Formulierung gibt den Ratsmitgliedern die Möglichkeit, sehr individuell ganz unterschiedliche Erlebnisse und Begebenheiten zu erzählen, die ihnen im Blick auf die eigene Lebensgeschichte in den Sinn kommen. Im wissenschaftlichen Fachjargon der empirischen Biografieforschung spricht man in diesem Zusammenhang vom Grundsatz der freien Gestaltentwicklung2 autobiografischer Erzählungen: Was genau auf welche Weise und in welcher konkreten Form von den biografisch erzählenden Personen berichtet wird, liegt so weit wie möglich in deren eigener Regie.
Gleichzeitig soll das Storytelling im Rahmen des Mitgliederrates natürlich auch einen Fokus auf das Thema Kirche richten. Dieser Fokus wird durch die explizite Nennung von Stichworten wie Kirche und Gemeinde im Erzählimpuls eingespielt. Zusätzlich wird der Fokus Kirche durch das Framing des Mitgliederrates deutlich zur Geltung gebracht: Das Einladungsschreiben der Kirchenpräsidentin zum Mitgliederrat macht das Thema Kirche stark. Die Anwesenheit, die Begrüßungsworte und ein Gebet der Kirchenpräsidentin beim Mitgliederrat markieren den kirchlichen Kontext. Schließlich bringt auch der Veranstaltungsort, nämlich ein moderner Kirchenraum, den Kirchenbezug der Veranstaltung sehr deutlich zum Ausdruck. In methodischer Hinsicht führt das kirchliche Framing des Mitgliederrates dazu, dass alles, was hier erzählt und besprochen wird, eine Resonanz auf das Thema Kirche darstellt.
Während des Storytellings wurden ca. 30 Geschichten und Anekdoten erzählt. Inhaltlich decken sie ein weites Spektrum ab. Es umfasst beispielsweise Schilderungen besonderer Momente auf Reisen oder in der Natur, Berichte über nahegehende Gemeinschaftserfahrungen, Erzählungen über Schicksalsschläge sowie Geschichten über Situationen großer Freude, aber auch der Trauer. Diese Geschichten wurden im Anschluss an den Mitgliederrat von den teilnehmenden Beobachterinnen und Beobachtern des Mitgliederrates in Form von Gedächtnisprotokollen verschriftlicht. Das Analyseverfahren, mit dessen Hilfe die Geschichten und Anekdoten ausgewertet werden, folgt dem Verfahren der funktionalen Inhaltsanalyse (formale Textanalyse, strukturelle Inhaltsanalyse, analytische Abstraktion, kontrastiver Vergleich der erzählten Geschichten).3 Am Ende der Auswertung steht eine Typologie, die die Anliegen, die Ratsmitglieder der Kirche entgegenbringen, im Zusammenhang darstellt.
4. Methodischer Mehrwert des Storytellings
Die Entscheidung, mit dem Storytelling und der funktionalen Inhaltsanalyse eine qualitative Methode der empirischen Sozialforschung zu wählen, hat auch mit dem Bestreben zu tun, Kirche mitgliederorientierter zu denken. So eröffnet das Storytelling einen Zugang zu den Anliegen, die Mitglieder im Horizont ihrer aktuellen Lebenssituation sowie ihrer bisherigen Lebensgeschichte der Kirche entgegenbringen.
Fragebogenbasierte Umfragen wie z.B. die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen der EKD arbeiten mit vorgegebenen Fragen und dazugehörenden Antwortoptionen. Damit sind die Themen, zu denen sich die Befragten äußern, und auch die Möglichkeiten, wie genau sie sich zu den aufgerufenen Themen positionieren, von außen vorgegeben. Nicht die Interessen der Befragten leiten das inhaltliche Profil solcher Umfragen, sondern das der auftraggebenden Organisation. Im Rahmen der zur Verfügung stehenden Antwortvorgaben können sich die Befragten dann zu den angesprochenen Themen verhalten und ihren Einstellungen und Meinungen dazu Ausdruck verleihen.
Diese Befragungen sprechen genau die Aspekte und Fragestellungen an, die für die auftraggebende Organisation von besonderem Interesse sind. Eine Kirche, die sich an den Mitgliedern orientieren will, muss jedoch gerade in Erfahrung bringen, was für die Mitglieder relevant ist, also welche Bedürfnisse sie selbst formulieren.
Das heißt natürlich nicht, dass den Daten etwa der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen der EKD nichts zu entnehmen sei, das für die Menschen persönlich relevant sei. Aber tatsächliche Relevanzmuster und -konstellationen lassen sich hier nicht verlässlich greifen: Die Themen sind vorgegeben, die Antwortmöglichkeiten sind vorgegeben. Die Stelle, an der bei fragebogenbasierten Umfragen tatsächlich persönliche Relevanzen der Befragten in Bezug auf die angesprochenen Themen ins Spiel kommen können, sind die individuellen Positionierungen zu den gestellten Fragen, sprich: die Entscheidung, welche Antwortmöglichkeit im Fragebogen angekreuzt wird, weil man ihr am ehesten zustimmt. Durch das Ankreuzen von Antwortvorgaben werden Meinungen und Einstellungen bekundet.
Inwieweit diese Positionierungen aber für die Befragten persönlich relevant sind, kann nicht gesagt werden. Denkbar ist in diesem Zusammenhang vieles: So können die Positionierungen tatsächlich der persönlichen Relevanz Ausdruck verleihen. Sie können aber auch dem Muster sozialer Erwünschtheit folgen, bei dem man die Vorgabe ankreuzt, von der man glaubt, dass der Auftraggeber der Umfrage das so erwartet oder dass die Mehrheit der Befragten wohl so antworten würde. Auch Verlegenheitsantworten sind möglich, weil man einerseits die Umfrage unterstützen möchte, andererseits aber gar keine rechte Meinung zum dem angesprochenen Thema hat.
Der Mehrwert der Methode des Storytellings gegenüber standardisierten repräsentativen Bevölkerungsumfragen hat vor allem mit dem Aspekt der persönlichen Relevanz der Themen, Einstellungen und Meinungen zu tun, die hier angesprochen werden. Ein erster Faktor, der es im Rahmen des Storytellings ermöglicht, persönlich Relevantes anzusprechen, ist die weitestgehend freie Wahlmöglichkeit der Geschichten und der damit verbunden Themen, über die erzählt wird. Ein zweiter Faktor hat mit der Bitte in der Erzählaufforderung zu tun, Geschichten und Anekdoten aus dem eigenen Leben zu erzählen. Diese lebensgeschichtlich-biografische Rückbindung der Erzählungen führt dazu, dass beim Storytelling nicht allgemein über Einstellungen und Meinungen geredet wird, die man in Bezug auf mehr oder minder beliebige Themen haben kann. Vielmehr werden hier in Gestalt persönlich erlebter Begebenheiten Geschichten erzählt, die mit der eigenen Lebensgeschichte zu tun haben und damit für die erzählenden Personen persönlich bedeutsam und relevant sind.
5. Ergebnisse des Mitgliederrates
Der Mitgliederrat benennt insgesamt sechs Anliegentypen gegenüber der Kirche:
Typus 1: Thematisierbarkeit des Schicksals (vor Gott)
Hinter diesem Anliegentyp stehen Geschichten, die von existentiellen Bedrohungen, Befürchtungen und Ängsten handeln. Neben vielen anderen Geschichten werden hier z.B. diejenigen von einem schweren Autounfall erzählt, der nur knapp überlebt wurde, oder von der Krebserkrankung eines jungen Mannes, der sich in einer ungewissen lebensbedrohlichen Lage befand. Aus der Perspektive der Mitglieder bedarf es der Kirche, weil sie Orte und Gelegenheiten bietet, die das Ansprechen und Bedenken existentieller Themen erlauben. Menschen können hier mit ihren schicksalhaften Erfahrungen, mit ihrer Ohnmacht und dem, was ihnen passiert ist, vorkommen.
Typus 2: Anspruch auf Akzeptanz jedes Menschen/Gerechtigkeit
Dieser Anliegentypus bezieht sich auf Geschichten, die den Anspruch eines jeden Menschen auf Akzeptanz und gerechte Verhältnisse im zwischenmenschlichen Miteinander stark machen. Hier wird etwa erzählt, wie ein Kind auf Grund einer Behinderung in einem kirchlichen Kindergarten gemobbt wurde. Eine andere Geschichte schildert, wie eine Frau, die das einzige weibliche Mitglied eines Presbyteriums war, von den männlichen Mitgliedern des Presbyteriums nicht ernst genommen wurde. Mit solchen Erzählungen adressiert der Mitgliederrat die Kirche als eine Größe, an die hohe Erwartungen in Bezug auf zwischenmenschliche Akzeptanz und Gerechtigkeit gerichtet werden. Kirche hat aus Sicht der Mitglieder die Aufgabe, Gerechtigkeit nicht nur durch Ermahnen und Reden, sondern vielmehr durch das eigene Handeln in die Gesellschaft einzubringen.
Typus 3: Kraftquelle
Dieser Anliegentypus spricht Erlebnisse und Situationen an, in denen die Erzählenden in einem ganz unmittelbaren Sinn spüren, wie ihnen stärkende Kraft und Energie zufließt. Hier wird von besonderen Momenten auf Reisen oder in der Natur berichtet und beschrieben, wie in der Natur auf eine Weise Kraft geschöpft werden kann, wie es so an anderen Orten nicht möglich ist. Solche Geschichten bringen die Erwartung der Mitglieder zum Ausdruck, dass Kirche mit all ihren Veranstaltungen und kommunikativen Gelegenheiten ein Ort sein sollte, der Menschen ganz im Sinne einer Kraftquelle aufbaut und stärkt.
Typus 4: Gefühlen/Hoffnung Raum geben
Gefühle und Hoffnungen von Menschen stehen im Zentrum dieses Anliegentypus. Berichtet wird etwa von dem überwältigenden Gefühl, das bei der Geburt des ersten Kindes empfunden wurde. Eine andere Geschichte handelt von einem Abendritual in der Kindheit. Das Falten der Hände und das Beten des immer gleichen Gebets führten dazu, dass der Tag immer mit etwas Hoffnung endete. Solche Erzählungen machen Kirche als Raum stark, der Gefühle und Hoffnungen, die die Menschen aus ihrem Alltag mitbringen, gleichsam aufnimmt. Andererseits wird von der Kirche aber auch erwartet, dass sie Gefühle und Hoffnungen hervorruft, an die Menschen ihre je eigenen Gefühle und Hoffnungen anschließen können. Positive, mit Hoffnung einhergehende Gefühle sollen empfunden werden können.
Typus 5: Bergende und wohltuende Gemeinschaft
Der quantitativ größte Teil der Geschichten des Storytellings ist diesem Anliegentypus zuzuordnen. Viele der Geschichten beziehen sich auf Gemeinschaftserfahrungen, die in Kindheit und Jugend der Erzähler*innen im Kontext von Kinder- und Pfadfinderzeltlagern oder auch Jugendgruppen verortet sind. Auffallend ist hier, dass Gemeinschaft immer als etwas beschrieben wird, das zunächst nicht da ist, sich dann aber im Zuge eines bestimmten Geschehens oder Erlebens einstellt. Aus Distanz und Fremdheit wird so etwas wie Zugehörigkeit. Beispiele dafür sind das gemeinsame Singen, eine Nachwanderung, das Sitzen am Lagerfeuer. Immer wird der Aspekt des Bergenden und Wohltuenden im Zusammenhang mit Gemeinschaft genannt.
Typus 6: Teilhabe an Religion
Für diesen Anliegentyp stehen Geschichten, die den punktuellen, gelegenheitsförmigen Aspekt insbesondere bezogen auf den Gottesdienstbesuch entfalten. Repräsentativ in diesem Fall ist die Geschichte einer sich selbst als kirchenfern bezeichnenden Person, die gewöhnlich keine Gottesdienste besucht. Allerdings gehöre der Besuch des Weihnachtsgottesdienstes für sie fest zum rituellen Ablauf des Heiligabends. Aus Sicht der Mitglieder ist es wichtig, die Möglichkeit zu haben, punktuell und situationsbezogen an Religion teilzuhaben, auch wenn Kirche und Religion im gewöhnlichen Alltag keine Rolle spielen. Die Gottesdienste an Weihnachten und zu anderen besonderen Anlässen sind hier von besonderer Bedeutung.
6. Schlussfolgerungen
Aus den Anliegentypen gilt es herauszuarbeiten, welche konkreten Erwartungen Menschen an Kirche herantragen und wie es gelingen kann, im Zuge anstehender Transformationsprozesse Kirche der Menschen zu sein. Abschließend werden nun exemplarisch vier Schlussfolgerungen formuliert, die selbstverständlich auch anders konturiert sein oder durch weitere ergänzt werden könnten.
Raum für Schicksalserfahrungen
Die meisten Erzählungen im Mitgliederrat thematisieren Schicksalsfragen – auch im Zusammenhang mit Gott. Sie stehen für das Anliegen, in der Kirche einen angemessenen Umgang mit existenziellen Themen zu erleben. Kirche ist kein Folklore- oder Spaßverein, kein oberflächlicher Hort von Tradition und Konvention, sondern, so eine erste Schlussfolgerung, sie sollte eine Größe sein, die sich mit grundlegend Wesentlichem im Leben befasst. Kirche bietet Raum, neben den Erfolgsgeschichten des eigenen Lebens auch das zu teilen und damit zu leben, was zerbrochen, misslungen oder schlicht kaputt gegangen ist. Dieser Raum sollte von tragbaren Narrativen geprägt sein, in die und durch die man seine eigene(n) Geschichte(n) erzählen und aushalten oder deuten kann.
Raum für Gefühle
Ein Querschnittsthema, das in mehreren Anliegentypen enthalten ist, sind Emotionen. Kirche wird als Kraftquelle stark gemacht, an der man seelisch und mental Energie für den Weg durchs Leben tanken kann. In der Kirche sollten, so die zweite Schlussfolgerung, Gefühle einen Ort haben. Menschen können ihre Gefühle der Kirche entgegenbringen. Kirche öffnet Räume für die Äußerung von Gefühlen. Das Gefühl der Geborgenheit und der Beheimatung, aber auch die wohltuende Erfahrung von Gemeinschaft werden besonders unterstrichen. Kirche steht demnach auch für eine bestimmte Atmosphäre. Sie kann sich nicht damit begnügen, nur einen Teil des Menschen anzusprechen. Kirche ist ein Ort, an dem es um den ganzen Menschen geht. Sie richtet sich auf alles, was mit der Seele von Menschen zu tun hat.
Raum für ein gutes zwischenmenschliches Miteinander
Der Anspruch auf Akzeptanz jedes Menschen und auf unbedingte Gerechtigkeit in dem Sinn, dass in der Kirche jede und jeder fair behandelt wird und zu ihrem/seinem Recht kommt, stehen hier im Hintergrund. An die Kirche werden höchste moralische Maßstäbe herangetragen, auf die absolut Verlass sein muss. Es wird erwartet, dass die Kirche im Spektrum anderer gesellschaftlicher Organisationen, Vereinigungen etc. an erster Stelle steht. Kirche muss, so die dritte Schlussfolgerung, die Aspekte Akzeptanz, Gerechtigkeit und Würde gegenüber jedem Menschen zur Basis und zum Maßstab von allem machen, was sie tut. Ein von Akzeptanz und Wertschätzung getragenes Miteinander sollte im Mittelpunkt stehen, um für die Menschen spürbar Kirche zu sein. Kirche wird damit nicht als „Wächterin“ gedeutet, die über das gute Miteinander der Gesellschaft wacht. Vielmehr ist Kirche der Ort, an dem vorgelebt wird, wie ein gutes zwischenmenschliches Miteinander aussehen kann. Damit wird Kirche auch zu einem gesellschaftlichen Erprobungsraum, in dem immer wieder versucht werden muss, wie Gerechtigkeit im Umgang miteinander verwirklicht werden kann.
Raum für alltägliche Kontexte
In den Voten des Mitgliederrates spielen weder Gebäude wie z.B. Kirchengebäude oder Gemeindehäuser noch besondere Personen wie etwa Pfarrerinnen und Pfarrer eine Rolle. Der größte Teil der Geschichten und Episoden, die die Mitglieder des Mitgliederrates erzählt haben, ist überhaupt nicht in kirchlichen, sondern in ganz unterschiedlichen alltäglichen Kontexten verortet. Das heißt, so die vierte Schlussfolgerung, Kirche ist für die Ratsmitglieder nicht zwingend dort, wo „Kirche“ draufsteht, sondern dort, wo das passiert, was die Menschen mit der Kirche verbinden. Damit wird etwas Grundlegendes über die Organisationsform Kirche gesagt. Nicht feste Strukturen oder Institutionalisierungen von Handlungen und Themen garantieren das Sein und Werden von Kirche. Die bestehenden Organisationsformen sind kein Selbstzweck. Vielmehr sollte Kirche so organisiert sein, dass sie sich mit ihren Organisationsstrukturen konsequent in den Dienst an den Anliegen der Menschen stellt und damit Kirche der Menschen und für die Menschen ist.
Zum Schluss
Die Voten des Mitgliederrates machen deutlich, dass die religiösen Herausforderungen, vor denen Menschen heute stehen, ein gut greifbares Profil aufweisen. So kulminieren die Voten des Mitgliederrates nicht in der Frage: Wie bekomme ich einen gnädigen Gott? Sie fragen vielmehr: Wo komme ich als Mensch vor – als Mensch, der mehr ist als seine Siege und Niederlagen? Wo komme ich vor mit dem, was ich erreicht habe, und dem, was ich erlitten habe, mit meinen Worten und mit meinen Gefühlen? Wie lebe ich mit mir selbst? Wie bin ich mit mir selbst gnädig und wie kann ich gerecht und gnädig leben mit anderen? Kirche steht vor der Herausforderung, stimmige Formen und Narrative zu finden, mit diesen Fragen angemessen umgehen zu können.
Im Zuge aktueller, aber auch kommender Transformationsprozesse wird die Zukunftsfähigkeit von Kirche in protestantischer Perspektive primär davon abhängen, wie sehr es nicht nur in Bezug auf ökonomische und organisatorische, sondern vor allem in Bezug auf theologische Aspekte gelingen wird, die Orientierung an den Bedürfnissen und Anliegen der Menschen in den Mittelpunkt zu stellen und so Gottes Kirche der Menschen zu sein.
Anmerkungen
1 Methodisch liegt hier das Konzept der autobiografischen Stegreiferzählung zugrunde, wie es von Fritz Schütze entwickelt wurde; vgl. Fritz Schütze, Biographieforschung und narratives Interview, in: Neue Praxis 13 (1983), 283-293.
2 Vgl. Gabriele Rosenthal, Erlebte und erzählte Lebensgeschichte. Gestalt und Struktur biographischer Selbstbeschreibungen, Frankfurt/M. 1995, 189-191.
3 Vgl. Gerald Kretzschmar, Kirchenbindung. Praktische Theologie der mediatisierten Kommunikation, Göttingen 2007, 138-144 u. 307f; Armin Nassehi, Die Deportation als biographisches Ereignis. Eine biographieanalytische Untersuchung, in: Georg Weber u.a. (Hg.), Die Deportation der Siebenbürger Sachsen in die Sowjetunion 1945-1949, II. Die Deportation als biographisches Ereignis und literarisches Thema, Köln u.a. 1995, [5-412] 348-352.
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 3/2025