Welche Geschichte erzählt der christliche Glaube? Weit verbreitet ist in der westlichen Theologie und Kultur die Erzählung vom Sündenfall und der Erlösung durch den Sühnetod Christi am Kreuz. Doch diese Erzählung hat gravierende theologische Defizite, wie Christoph Schroeder im Anschluss an Samuel Wells und dessen inkarnatorischer Theologie zeigt.

 

Welche Geschichte erzählt der christliche Glaube?

Warum hat Gott die Welt erschaffen? Warum ist Gott Mensch geworden? Was ist das Ziel der Geschichte Gottes mit uns Menschen? Ist diese Geschichte eine der Fülle oder eine des Mangels? Was hat es mit dem Sündenfall auf sich? Und was ist die Aufgabe der Kirche inmitten dieser Geschichte? Um all diese Fragen geht es in dem Entwurf einer Inkarnationstheologie des anglikanischen Theologen Samuel Wells.1 Geschichte ist ­dabei für ihn nicht notwendigerweise die Historie. ­Geschichte ist die story, das Narrativ des christlichen Glaubens, eine Erzählung, die aber keineswegs im Widerspruch zur Geschichte im Sinne von history stehen muss. Warum ist es so wichtig, den Spannungsbogen dieser Geschichte zu beschreiben? Weil die Geschichte, in der wir uns verorten, bestimmt, wie wir uns selbst verstehen. Sie zeigt uns, woher wir kommen und wohin wir gehen. Von ihrer Wahrheit hängt ab, ob wir den uns angemessenen Platz in der Welt finden, ob wir hoffen oder uns hängen lassen. Wie geht die Erzählung des christlichen Glaubens?

Die „westliche“ Story

Eine Lesart dieser Erzählung beginnt mit dem Sündenfall und endet mit dem Kreuz: Gott hat die Welt erschaffen und die Schöpfung den Menschen anvertraut. Gott schenkt den Menschen Freiheit, doch sie entscheiden sich für die Sünde. Da vertreibt Gott sie aus dem Paradies. Mit Abraham versucht er einen neuen Anfang und verheißt ihm, ihn zum Ahnherrn eines großen Volkes und zum Segen für die Völker zu machen. Mit Israel, seinem Volk, schließt Gott den Bund. Doch der Sündenfall und seine Folgen werfen weiter ihre Schatten. Schließlich sendet Gott seinen Sohn. Durch seinen stellvertretenden Sühnetod besiegt er Sünde und Tod. Das Tor zum Paradies steht wieder offen – für alle, die darauf vertrauen, dass Jesus sie durch seinen Tod von der Sünde befreit hat. Das ist in groben Zügen die Erzählung der westlichen Kirchen.

Dass die Sünde im Zentrum dieser Erzählung steht, ist der Hauptkritikpunkt von Samuel Wells. Er fragt: Wäre Christus auch gekommen, wenn es den Sündenfall nicht gegeben hätte? Welches Problem hätte er dann lösen sollen? In dieser Erzählung ist Jesus Gottes „Plan B“; nach der erfolgreichen Erledigung seines Auftrags ist er eigentlich überflüssig.

Die Erzählung der Ostkirchen

Anders die Erzählung der Ostkirchen: Gott hat die Welt erschaffen, weil er in ihr an der Seite von uns Menschen leben will. Er wird Mensch, um uns in der Begegnung mit ihm zu vergöttlichen. Das ist von Anfang an Gottes Absicht. Der Bogen dieser Erzählung ist weiter gespannt als der der westlichen Kirchen; er reicht von der Schöpfung bis zum Eschaton. Für Wells wird diese Erzählung dem Wesen und der Freiheit Gottes eher gerecht: Gott sehnt sich von Anfang an danach, unser ­Leben zu teilen; sein Kommen wird nicht erst durch die Sünde provoziert.

In Wells’ eigenem Entwurf ist der Bogen der Geschichte, die der christliche Glaube erzählt, noch weiter gespannt. Für ihn beginnt die Erzählung noch vor der Erschaffung der Welt in der Trinität – im Miteinander der drei göttlichen Personen Vater, Sohn und Heiliger Geist. Und sie vollendet sich im Mitsein Gottes mit uns Menschen in der himmlischen Ewigkeit. Innerhalb dieses weiten geschichtlichen Bogens finden wir Menschen unseren wahren, uns angemessenen Platz.

 

Gottes Wesen zeigt sich in vollkommener Weise in Jesu Mitsein

Für die westliche Kultur ist die Sterblichkeit das fundamentale Problem der menschlichen Existenz. Erwartete man in früheren Zeiten von Gott die Lösung dieses Problems, ist Gott in einer säkularen Welt kein Ansprechpartner mehr. Jetzt ist es Aufgabe des Menschen, fortschreitend die ihm in Medizin, Sport, Technik und Wirtschaft gesetzten Grenzen zu überwinden. Überall steht er vor der Herausforderung, Probleme zu lösen – Krankheiten zu heilen, Menschen aus der Armut zu führen, und so der Überwindung der Sterblichkeit näher zu kommen.

Samuel Wells hingegen hält nicht die Sterblichkeit, sondern die Einsamkeit für das Grundproblem der menschlichen Existenz. Für ihn stellt sich die Frage: Wie gehen wir mit einem Problem um, für das es keine Lösung gibt? Damit rückt nicht nur das menschliche, sondern auch Gottes Handeln in ein neues Licht.

Vier Weisen sozialen Handelns

In seinem Buch „A Nazareth Manifesto“2 unterscheidet Wells vier Weisen sozialen Handelns: „Being with, being for, working with, working for“. Mitsein ist das absichtslose Teilen des Alltags mit einem anderen Menschen. Fürsein ist die Parteinahme für einen anderen; sie äußert sich in der Haltung und im politischen Votum. Arbeiten mit heißt partnerschaftlich auf Augenhöhe für ein gemeinsames Ziel handeln. Arbeiten für bedeutet, mich für einen anderen einsetzen, ohne notwendigerweise mit ihm in Kontakt zu kommen; darin ist die Blickrichtung von oben nach unten impliziert; in ihr spiegelt sich ein herablassendes Ungleichgewicht von Macht und Ohnmacht wider: Der Andere hat ein Problem, für das ich die Lösung habe.

Einsamkeit jedoch lässt sich durch Handeln für nicht lösen. Wer einsam ist, ist kein Problem, sondern ein Geheimnis. Ein Geheimnis kann ich nicht lösen; ich kann an ihm teilhaben. Viele Versuche, Armut oder Krankheit auf technischem Weg zu überwinden, verstärken sie eher noch. Einsamkeit lässt sich wirksam nur durch Mitsein begegnen.

Jesu rettendes Mitsein

Aus der Darstellung der Evangelien schließt Wells, dass Jesus 90% seines Lebens an der Seite der Menschen in Nazareth verbracht hat. Er war mit ihnen, hat den Alltag, die Feste, hat Freude und Leid mit ihnen geteilt. Drei Jahre, 10% seiner Lebenszeit, hat er mit den Menschen gearbeitet, hat Jünger berufen, mit ihnen Dörfer und Städte besucht, getröstet und geheilt. Nur in der letzten Woche seines Lebens scheint Jesus für die Menschen gehandelt zu haben. Die Jahre, die er unauffällig in Nazareth gelebt hat, sind für Wells der deutlichste Hinweis auf Gottes Wesen: es zeigt sich im Mitsein (being with).

Zwar hat Jesus, oberflächlich gesehen, in der letzten Woche seines Lebens für andere gehandelt. Er ist für unsgestorben, um uns von der Macht der Sünde zu befreien. Er hat den stellvertretenden Sühnetod auf sich genommen. Doch Wells plädiert für ein anderes Verständnis des Todes Jesu. Er sieht darin die äußerste Konsequenz seines Mitseins. Als es darauf ankommt, entscheidet Jesus sich, an der Seite von uns Menschen zu bleiben. Dafür nimmt er sogar den Tod, den Bruch der Beziehung zum Vater, in Kauf. Bis zur letzten Konsequenz ist er mit uns. Darin besteht die unermessliche Tiefe, die rettende Dimension seines Mitseins.

Der Sühnetheologie zufolge wäre Jesus gekommen, um ein Problem zu lösen; er wäre Gottes Antwort auf den Sündenfall, ein aus der Not geborener Plan B. Damit wäre Gott ein Mittel zum Zweck; man gäbe der Sünde mehr Raum als ihr zusteht. Tatsächlich hätte sie dann sogar ihr Gutes – schließlich hätte sie ja das Kommen Gottes bewirkt. Damit würde man Gott unterstellen, er hätte unsägliches Leid in Kauf genommen, um dann als Retter auftreten zu können. Das aber, so Wells, sei ein absurder Gedanke.

 

Gottes innertrinitarisches Wesen: Mitsein

Wells zufolge bildet sich in Jesu Mitsein das innertrinitarische Beziehungsgeschehen ab, das der Erschaffung der Welt vorausliegt. Das innertrinitarische Wesen Gottes bezeichnet er als Essenz im Gegenüber zur Existenz, dem Leben in dergeschichtlichen Wirklichkeit. Wells füllt den Begriff der Essenz allerdings anders als diese platonische Begrifflichkeit es vermuten lässt (Kapitel 7: „God“). Für ihn sind die Eigenschaften von Essenz nicht – wie in der Metaphysik – Allwissenheit, Transzendenz und Unveränderlichkeit. Vielmehr ist das innerste Wesen von Essenz Beziehung; Essenz ist – wie die Liebe – großzügig, barmherzig, geduldig, in ihrem Kern personal und relational, reinstes wechselseitiges Beziehungsgeschehen. Ihre wichtigste Eigenschaft ist die Dauer. Sie ist der Gewalt, dem Bösen, und der Täuschung überlegen, die nur einen flüchtigen Charakter haben. Zur Dauer gehört Tiefe. Einem Missverständnis kommt auf die Spur, wer in die Tiefe geht, bis er auf ein Fundament stößt, das Kohärenz, Trost, Zuversicht ausstrahlt. Ein weiteres Merkmal der Essenz ist Treue – sie widersteht dem aus der Angst erwachsenden Argwohn und der Missgunst. Dauer, Tiefe und Treue bilden in ihrem Verbund die Wahrheit. Wahrheit ist das Grundstratum der Essenz.

Acht Dimensionen des Mitseins

Gottes Mitsein manifestiert sich im innertrinitarischen Beziehungsgeschehen. Wells beschreibt es in achtfacher Dimensionalität als spannungsreiche Einheit (Kapitel 3: „Being With God“ und Kapitel 7: „God“).

Mitsein bedeutet präsent, gegenwärtig sein (presence), von Angesicht zu Angesicht, ohne sich von anderem ablenken zu lassen; ungeteilte Aufmerksamkeit (attention) füreinander – sich öffnen, den anderen nicht drängen, sondern geduldig auf das warten, was er mitteilen wird; sein Minenspiel wahrnehmen, die Gestik, den Klang seiner Worte und nicht die Worte allein. Daraus wird sich ein Gespräch entwickeln, das keiner der Partner bewusst steuert.

Die dritte Dimension des Mitseins ist das Geheimnis (mystery). Das Gegenüber ist ein Geheimnis, kein Problem, das es zu lösen gilt, und von dem ich mich, wenn ich es gelöst habe, dem nächsten zuwende. An einem Geheimnis kann ich teilhaben; dabei gebe ich Macht und Kontrolle ab und entdecke im Anderen Seiten, die ich nicht habe und die mir neu sind. Daraus ergibt sich ein bis dahin ungehörter Zusammenklang.

Die vierte Dimension des Mitseins ist das Vergnügen (delight), das die Beteiligten aneinander empfinden. Sie sehen im Gegenüber nicht die Fehler, den Mangel, das Defizit, sondern entdecken das Schöne, die Stärken, das Unverwechselbare, nicht den Mangel, sondern die Fülle. Sie schalten das Gegenüber nicht aus und beherrschen es, sondern bauen es auf und ermutigen es. Beteiligung, Teilhabe (participation) ist eine weitere Dimension des Mitseins; es setzt Gemeinschaft voraus. Partnerschaft (partnership) wiederum bedeutet, eine Sache gemeinsam und gleichberechtigt anzugehen.

Die Freude (enjoyment) schließlich, die die Beteiligten aneinander haben, umgreift alle sechs vorangehenden Dimensionen des Mitseins: die andere nicht instrumentalisieren, sie nicht für eigene Zwecke missbrauchen, sondern sich zweckfrei an ihr erfreuen, ohne sie mit anderen zu vergleichen; ihr Potential sehen und alle Defizite ausklammern.Herrlichkeit, Erfüllung, Wunder (glory) ist die achte Dimension, in der sich alles wie in einem Kaleidoskop bündelt. In dieser achtfachen Dimensionalität ist Mitsein Gottes Wesen; es zeigt sich für Wells gleichermaßen im innertrinitarischen Beziehungsgeschehen wie im Leben Jesu.

 

Gottes übersprudelnde Fülle

Das innertrinitarische Miteinander der drei göttlichen Personen Vater, Sohn und Heiliger Geist hält nicht nur die Welt im Innersten zusammen. Es ist zugleich der Ursprung von allem. Der christliche Glaube erzählt, wie Gottes Wesen sich entfaltet. Essenz ist ein Beziehungsgeschehen. Sie drängt darauf, in Beziehung zu treten mit dem, was sie hervorbringt. Aus dem Miteinander und dem Entzücken der drei Personen aneinander ergibt sich ihre schöpferische Aktivität. Das Übersprudeln der Freude, die die Personen der Trinität aneinander haben, führt zur Inkarnation. Gottes innertrinitarisches Mitsein setzt sich fort in dem, was außerhalb seiner liegt: im Menschen, seinem Partner. Von seinem innersten Wesen her ist Gott darauf aus, mit dem zu sein, was außerhalb seiner selbst liegt. Inkarnation und Schöpfung sind dabei zwei Seiten desselben Geschehens. Gott hat die Welt erschaffen, um inmitten der Schöpfung an unserer Seite zu sein, unser Leben mit uns zu teilen, mit uns Menschen in Gemeinschaft zu leben. Dies ist von Anfang an Gottes sehnlichster Wunsch. Es geht in dieser Geschichte also nicht in erster Linie um den Menschen, der Gott als den braucht, der ihn von der Sünde befreit.

Gott bleibt sich treu in seinem Wesen von Anbeginn der Schöpfung an. Darin zeigt sich seine Souveränität und Freiheit. Die Menschwerdung ist kein Plan B, keine Antwort auf den und keine Reparatur des Sündenfalls. Gott folgt auch keinem Gesetz, das ihn dazu zwänge, Satisfaktion für den Sündenfall zu fordern. Seine Mittel entsprechen in vollkommener Weise seinem Ziel, in Jesus mit uns zu sein und unser Leben zu teilen. Mitsein wird auch das Leben im eschatologischen Reich Gottes prägen. Im Himmelreich gilt nicht Kondeszendenz (Handeln für), sondern Kommunion (Mitsein). Alles andere würde Gottes Wesen widersprechen.

In der geschichtlichen Wirklichkeit bildet sich Gottes Mitsein in drei sozialen Strukturen ab. Sie heißen Bund, Gemeinde und (Abendmahls-)Gemeinschaft (Kapitel 2: „The Scriptural Story“). Der Bund steht dafür, dass Gott selbst im Leiden des Exils an Israels Seite ist. Gott liebt das Volk, durch das die Inkarnation geschehen wird. Ohne Israel wüssten wir überhaupt nicht, wer Jesus ist. In der Sozialform der Gemeinde ereignet sich Gottes Mitsein in der Gemeinschaft, die Menschen miteinander halten. Durch die Taufe werden wir in die Geschichte aufgenommen, die Jesu Mitsein mit uns Menschen erzählt. Zu dieser Gemeinschaft gehören bis dahin Ausgeschlossene: der notorische Sünder, der Kollaborateur, die Unreine. Idealbild der mehrdimensionalen, dynamischen und in ständiger Erneuerung begriffenen Gemeinschaft im Sinne von Kommunion, des Austauschs aller Güter miteinander, ist vor Beginn der Schöpfung die Gemeinschaft der drei Personen der Trinität. Das ist auch die Weise, in der wir Menschen in der eschatologischen Zukunft, im Reich Gottes, mit Gott und miteinander leben werden. Ergebnis des Mitseins Christi kann nur eine sich partizipatorisch, interaktiv, dynamisch entwickelnde Ewigkeit sein.

 

Supralapsarische Christologie

Aus der Kongruenz von Gottes Wesen und Handeln im Mitsein leitet Wells eine sogenannte supralapsarische Christologie ab: Der Bogen der Erzählung des christlichen Glaubens reicht weiter als vom Sündenfall bis zum Kreuz; ihn überwölbt ein noch größerer, von der Trinität bis zum Eschaton reichender Bogen. Das Verständnis der Inkarnation als supralapsarisch, d.h. als unabhängig vom Sündenfall und ihm übergeordnet, hat von Beginn der Theologiegeschichte an wichtige Vertreter gehabt. Für die Inkarnationstheologie der Ostkirche ist das Ziel von Gottes Kommen in die Welt die Vergöttlichung des Menschen („Gott wurde Mensch, damit wir göttlich würden“). Sie läuft allerdings Gefahr, den Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf zu verwischen (Kapitel 4: „Orthodox Foundations“). Die Beschreibung dieser Beziehung als achtfach dimensioniertes Mitsein Gottes mit den Menschen wahrt diese Differenz. Da wird aus der Vergöttlichung, der zweidimensionalen Begegnung zwischen Mensch und Gott, ein dreidimensionales Zusammenspiel, das Miteinander der Menschen mit Gott, den Mitmenschen und der erneuerten Schöpfung.

Im Westen ist es die franziskanische Theologie, die die Inkarnation nicht als Gottes Antwort auf die Sünde zu sehen vermag, da sie damit einem Übel die Qualität des höchsten Gutes zuschreiben und suggerieren würde, dass die Welt vom Sündenfall profitiert hätte (Kapitel 5: „Medieval Debates“). Das widerspräche dem franziskanischen Prinzip, sich nicht an dem Schaden eines anderen zu freuen. Für die Franziskaner geht es in der Erzählung des christlichen Glaubens nicht um uns und die Sünde, sondern um Gott und seinen Segen.

Wichtigster Vertreter einer supralapsarischen Christologie in den westlichen Kirchen der Neuzeit ist Karl Barth (Kapitel 6: „Modern Developments“). Seine Christologie ist in Wells’ Urteil allerdings insofern inkohärent als er bei der Deutung des Todes Jesu Gottes Mitsein in ein Handeln für umdeutet. In Barths Theologie begegnet Gott der Sünde als Krieger, Kämpfer, Zerstörer, Kreuzritter. Damit aber stimmt Gott mit seinem eigenen Wesen, dem Mitsein, nicht mehr überein. Überdies ist, so Wells, offensichtlich, dass Gott am Kreuz das Böse nicht besiegt – schließlich zeigt die geschichtliche Wirklichkeit, dass Böses, Sünde und Tod selbst nach ihrer – in Barths Darstellung – vermeintlich siegreichen Zerstörung durch Jesus immer noch da sind. Das Kreuz ist vielmehr das Zeichen dafür, dass Jesus dem Bösen widersteht, es aushält, und darin uns Menschen treu bleibt. Das ist heilvoll. Letztlich ist Jesus stärker als das Böse; er lässt es mit revolutionärer Geduld ins Leere laufen. Im Kreuz erreicht Jesu Solidarität mit uns ihre unermessliche Tiefe.

 

Sünde, Theodizee, Kirchenbild

Und der Sündenfall? In Wells’ Deutung ist er kein irgendwie dinglich festzumachendes Ereignis, sondern die aller Kommunikation innewohnende Möglichkeit, Gottes Geschichte mit uns Menschen zu verzerren und zu verdrehen, das Mitsein zu vergiften und in sein Gegenteil zu verkehren (Kapitel 10: „God’s Unbreakable Purpose“). Gott, der sich von Anbeginn danach sehnt, in Jesus Mensch zu werden, ist gegen die Möglichkeit des Missverständnisses, des Missbrauchs, der Täuschung nicht gefeit. Doch er begegnet der verdrehten Geschichte, die die Sünde erzählt, eben nicht anders als durch Mitsein – er setzt ihr seine Treue, seine Verlässlichkeit, seine Liebe entgegen. Und Gottes Fülle, das innertrinitarische Übersprudeln der Freude, macht vor dem Tod nicht Halt. Zwar gibt es Sünde und Böses auch weiterhin, doch Gottes Mitsein ist stärker; es hält der zerstörerischen Sünde stand. Aus Jesu der-Sünde-die-Stirn-Bieten lässt der Heilige Geist, die dritte Person der Trinität, Neues und Unvorhersehbares erwachsen: die Auferstehung.

Diese Erzählung des christlichen Glaubens ist theozentrisch. In ihrem Zentrum steht Gottes Fülle, im Gegensatz zur anthropozentrischen Tendenz eines großen Teils der Theologie, Gott vor allem als den zu sehen, der den Mangel, die Probleme der Menschen, zu beheben hat. Mit dieser Zentrierung auf Gottes Fülle verliert die Sünde die zentrale Stellung, die sie in der Erzählung der Westkirchen hat. Das hat praktische Konsequenzen. In dieser Erzählung ist der christliche Glaube nicht auf den Einzelnen fixiert, der durch den engen Flaschenhals der Erlösung von der Sünde hindurchmuss; der Glaube hat vielmehr von Anfang an eine soziale, gemeinschaftsbezogene Dimension, eine auf das Mitsein, das Miteinander bezogene Gestalt, in die ich mit der Taufe eingebunden werde.

Auch die Theodizeefrage erhält hier ihre angemessene Antwort: Gott entzieht dem Bösen seine Kraft, indem er das Gute stärkt. Durch die Taufe werde ich Teil dieser Geschichte und damit einer Gemeinschaft, die darauf vertraut, dass Gott durch alle Höhen und Tiefen des Lebens hindurch verlässlich mit uns ist.

Das hat Folgen für das Kirchenbild: Eine Kirche, die Gottes primäre und letzte Sehnsucht darin erkennt, in Christus mit uns zu sein, wird sich darauf konzentrieren, als wichtigste Form ihres Dienstes und ihrer Mission Beziehungen des Mitseins mit Gott, dem Nächsten und der Schöpfung zu fördern, Beziehungen der Treue und der Weisheit zu gestalten und sie durch alle Ebenen der Gesellschaft hindurch zu stärken, egal ob die Beteiligten sich als Christen verstehen oder nicht.

 

Anmerkungen

1 Samuel Wells, Constructing an Incarnational Theology. A Christocentric View of God’s Purpose, Cambridge University Press, 2025.

2 Samuel Wells, A Nazareth Manifesto. Being With God, Wiley Blackwell, 2015. S. dazu Christoph Schroeder, Das wichtigste Wort im christlichen Glauben. Samuel Wells’ inspirierende Theologie des Mitseins, DPfBl 4/2019.

 

Über die Autorin / den Autor:

Pastor Dr. Christoph Schroeder, Jahrgang 1964, verheiratet, vier Kinder, 19 Jahre Gemeindepastor in Großhansdorf, seit dem 1.10.2018 Pastor in Hamburg-Nienstedten.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 3/2025

1 Kommentar zu diesem Artikel
16.03.2025 Ein Kommentar von Robert Pfeiffer Wunderbare Zusammenfassung von Sam Wells Theologie! Ich bin seit über 30 Jahren in London (ursprünglich aus Stuttgart) und seit 3 Jahren hier Pfarrer in der CofE. Sam ist Vorbild, Inspiration und Freund - als leitender Pfarrer der St Martins in the fields Kirche bleibt er eng mit der Gemeindearbeit verbunden
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