Der religiöse Glaube, ob jüdisch, christlich oder islamisch, lebt vom Zutrauen zu der Macht Gottes, die in den Krisen des Lebens sich als wirkmächtig erweist. Trotzdem gibt es für diese Macht Gottes eine Grenze: Gott ist nicht allmächtig, sondern barmherzig – wie Hans-Jürgen Benedict ausführt.

 

Mir ist es kürzlich in einem Abendgottesdienst in der Hauptkirche St. Michaelis, den ich hielt, passiert, dass ich im Credo beim ersten Artikel den „Allmächtigen“ weggelassen habe. Warum ich das tue, hatte ich vor einigen Jahren schon mal ausführlich mit dem Argument von Hans Jonas begründet, dass Gott sich nicht nur seiner Allmacht begeben hat, sondern dass Allmacht von den großen Gottesprädikaten am wenigsten überzeugend ist. Wahrscheinlich hat dieses jeweilige Stocken beim Wort „allmächtig“, wenn ich das Credo spreche, dieses Mal in meiner Rolle als ­Pastor, der das Gemeinde-Credo eröffnete, zu diesem Ausfall geführt.

Jeden Sonntag sprechen Millionen Menschen überall auf der Welt das Apostolische Glaubensbekenntnis. Sie bekennen darin gleich zu Beginn ihren Glauben an den allmächtigen Gott: „Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde.“ Sie sprechen dieses Bekenntnis zum Allmächtigen eher beiläufig als Teil des 1. Artikels, zwischen der Bezeichnung Gottes als Vater, die als Gottesanrede aus dem Vaterunser Jesu vertraut ist, und derjenigen des Schöpfers, die leicht nachzuvollziehen ist, weil ja die Welt eine erste Ursache haben muss. Vater, allmächtig, Schöpfer – das scheint schon irgendwie zu stimmen. Denn der Vater ist in früher Kindheit die mächtige, das Leben bestimmende Gestalt, an die man sich vertrauensvoll wenden kann. Und Welten-Schöpfer zu sein, hat mit der Macht zu tun, etwas ins Leben zu rufen, was vorher nicht da war: „Und Gott sprach: Es werde Licht. Und es ward Licht.“

 

Allmacht und Theodizee

In dem Moment aber, in dem ich anfange, über Gott den Allmächtigen intensiver nachzudenken, gerate ich in Schwierigkeiten. Die einfachste Frage, die sich aus dem Glaubenssatz von der Allmacht Gottes ergibt, ist die: Wenn der gütige Gott allmächtig ist, wieso lässt er dann das Böse und Sinnlose in der Welt zu? Wie reimt sich das zusammen – die Güte und die Allmacht Gottes? Wieso widerfährt guten Menschen Böses? – hat ein amerikanischer Rabbi es einmal prägnant zusammengefasst.

Immer wieder habe ich in meiner Zeit als Pfarrer diese Frage von Menschen in meiner Gemeinde gehört. Sie stellten diese Frage angesichts privater wie kollektiver Katastrophen. Wieso lässt Gott zu, dass meine Frau mit 38 Jahren an Brustkrebs stirbt und drei halbwüchsige Kinder zurücklässt, von mir will ich gar nicht reden, fragte mich ein verzweifelter Ehemann bei dem Trauergespräch. Ich bin eine alte Frau, seufzte eine 81jährige Witwe, deren einziger Sohn bei einem Verkehrsunfall tödlich verunglückt war. Wieso muss mein Sohn sterben, der mit seiner Frau und zwei Kindern auf einen liegengebliebenen Lastwagen aufgefahren war? Hätte Gott doch mich alte Frau genommen? Warum nur trifft es gerade meinen Sohn, der noch so viel erleben wollte, endlich wieder eine Arbeit gefunden hatte?

Fragen, auf die es keine zufriedenstellenden Antworten gibt. Eben so wenig auf die Fragen, wieso Gott die schrecklichen poli­tischen Katastrophen des 20. Jh. zulassen konnte. Selbst der Begriff der „Zulassung“ Gottes, der an die Stelle des Lenkers der Geschichte getreten war, hielt dem Grauen nicht stand – zwei Weltkriege, Auschwitz und der Völkermord an den Juden, die Bombennächte und der Atombombenabwurf auf Hiroshima? Und zeitlich näher bei uns die Ermordung von einer Million Menschen unter dem Pol Pot-Regime in Kambodscha, der Genozid in Ruanda, das Massaker von Srebrenica.

 

 

Millionenfach ist von frommen und weniger frommen Menschen der Schrei nach einem rettenden Eingreifen Gottes in dem finsteren Vernichtungsgeschehen des 20. Jh. laut geworden. Wo bist du, Gott, warum hilfst du uns nicht? Gott, wie kannst du das zulassen, was haben wir getan, dass uns das geschieht? 1947 expressiv formuliert in Wolfgang Borcherts Stück Draußen vor der Tür. Hätte Gott angesichts des Entsetzlichen, das geschah, nicht seine Zurückhaltung aufgeben und eingreifen müssen, so wie es die biblische Geschichte berichtet, eingreifen wie damals am Roten Meer, als den fliehenden Israeliten das Wasser bis zum Hals stand und er sie vor der ägyptischen Streitmacht rettete?!

 

Die Rede von der Allmacht Gottes im Glaubensbekenntnis

Ich frage zunächst: Wie ist das Wort von der Allmacht Gottes überhaupt in das Glaubensbekenntnis gekommen? Die Rede von der Allmacht Gottes hat mit der Aufnahme des griechischen philosophischen Gottesbegriffs in die christliche Theologie zu tun. Im AT und auch bei Jesus und Paulus kommt der Begriff so nicht vor. Sie glaubten an einen handelnden Gott, der gnädig und barmherzig ist, heilig und gerecht. Gott ist eine ethische Energie (Theißen), könnte man sagen, ein beweglicher dynamischer Gott, der mit seinem Volk geht, sein Reich auf die Erde bringen will und jeden Menschen in die Entscheidung stellt, ob er nach Gottes guten Weisungen leben will oder nicht. Zwar wird Gott als Herr des Himmels und der Erde geglaubt, der verborgen die Geschicke der Welt lenkt und selbst die mächtigen Herrscher Babylons und Roms in seinen Dienst stellt. Doch erst am Ende der Zeiten wird sich Gottes Allmacht zeigen, wenn Gott alles in allem sein wird.

Bei den Griechen hingegen ist Gott einerseits unveränderliches Sein, andererseits ist diese göttliche Wesenheit mit einem Kranz von Eigenschaften umgeben – Weisheit, Zeitlosigkeit, Ewigkeit, Allmacht, Schönheit, Wahrheit, Eigenschaften, die in der Regel auch etwas Statisches haben. Von den vielen Umschreibungen des Wesens oder der Einfachheit Gottes waren einige negativ formuliert – Gott ist zeitlos, ungeworden, ungezeugt, unsichtbar unvergänglich; andere beschrieben Gott umfassend: er ist allgegenwärtig, allliebend, allmächtig.

Von diesen vielen Umschreibungen Gottes ist nur die eine von der Allmacht zuerst in eine Taufformel und dann im 4. Jh. in das in Rom entstandene Bekenntnis, „Romanum“ genannt, eingegangen: „Ich glaube an Gott den Vater, den Allmächtigen. und an Christus Jesus, seinen eingeborenen Sohn.“ Dieses römische Bekenntnis bildet die Grundlage des Apostolischen Bekenntnisses, so wie es um 500 feststand und heute noch als das die verschiedenen Kirchen verbindende Symbolon gesprochen wird. Dass ausgerechnet die Allmacht Gottes als das entscheidende Attribut Gottes ausgewählt wurde, hat damit zu tun, dass die frühchristlichen Theologen Gottes Freiheit des Handelns festhalten wollten, sowohl in der Schöpfung, in der Auferweckung als auch in der Erwählung. Doch stellte die Allmacht Gottes immer wieder ein Problem dar, das den Theologen zu schaffen machte.

 

Der verborgene Gott

Martin Luther löste das Problem der Allmacht dergestalt, dass er Gott in einen verborgenen und einen in seiner väterlichen Liebe offenbaren Gott aufteilte. Auf der einen Seite ist der Mensch unmittelbar der verborgenen Macht Gottes ausgeliefert, die alles Geschehen, auch das Widersinnige lenkt. Die Kreaturen sind Gottes „Mummenschanz und Puppenspiel“, er lenkt ihren Weg unwiderstehlich, ohne ihnen doch ihre Verantwortlichkeit zu nehmen. Auf der anderen Seite ist ihm Gott, der in Christus offenbare Gott, „ein glühender Backofen der Liebe“. Für die autonome Vernunft bleibt Gott in Christus unter dem Gegenteil verborgen; offenbar ist Gott nur für den Glaubenden, der auf die Verheißung hin an den gnädigen Gott glaubt. Im Glauben erfährt der Christ die Einheit des verborgenen mit dem offenbaren Gott und verlässt sich in den Anfechtungen des Lebens auf die Treue Gottes zu seinen Verheißungen.

200 Jahre später war der Vorsehungsglaube der Aufklärung nur an den ehernen Gesetzmäßigkeiten des Weltlaufs interessiert. Er deutete die Liebe Gottes als allgemeines Wohlwollen für die Menschheit, nicht als konkret geschichtliche Zuwendung. Ein sinnloses Geschehen wie das Erdbeben von Lissabon von 1755, in dem Gott sich „keineswegs väterlich bewiesen hatte, indem er die Gerechten mit den Ungerechten gleichem Verderben preisgab“ (so der Eindruck des jungen Goethe in Dichtung und Wahrheit), versetzte daher dem Aufklärungsoptimismus einen Schlag. Radikale Zweifel an Gottes Güte und Allmacht wurden laut – so in Jean Pauls gewaltiger Vision aus dem Jahr 1796 Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei, später in Nietzsches Text vom tollen Menschen, der „am hellichten Tag Gott mit der Laterne sucht“ und dann verkündigt, dass Gott tot sei und dass wir ihn getötet hätten. Einzig Friedrich Schleiermacher hatte mit seinem Gedanken vom Glauben als „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“ der Allmacht eine neue, nachvollziehbare Auslegung gegeben – Glaube an die Allmacht Gottes beruht nicht auf objektiven Gegebenheiten, sondern ist ein subjektives Gefühl.

Doch am Ende des 19. Jh. war man in Theologie und Gesellschaft überzeugt, dass Gott weiter die Grundlage des sittlichen Verhaltens des Menschen und des Fortschritts sei. Die gewaltigen Veränderungen durch Industrialisierung und Kapitalismus wurden in Kirche und Theologie in ihrer zerstörerischen Gewalt kaum wahrgenommen. Immerhin übernahm Ernst Troeltsch von Max Weber dessen Formulierung vom Kapitalismus als „stahlhartem Gehäuse“ am Ende seiner bahnbrechenden Schrift Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Verglichen mit dem Einfluss von Wirtschaft, Recht, Staat und Technik sei, so Troeltsch, „die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt“ eher gering. Als Wirkung des Protestantismus für die Moderne bleibt vor allem „die Religion des Gottsuchens im eigenen Fühlen, Erleben, Denken und Wollen.“ Praktisch orientierte Kirchenleute hofften, die Welt im Geist der christlichen Liebe durch rettende Institutionen (so Wichern mit seinem Rettungshaus in Hamburg-Horn) humaner gestalten zu können. „Die Liebe gehört mir wie der Glaube“, hieß seine berühmte programmatische Kurzformel.

 

Gott als der „ganz andere“

Der liberale wie der missionarisch-soziale Glaube zerbrach im Massenmorden des Ersten Weltkriegs, als sich die Soldaten christlicher Nationen mit immer schrecklicheren Waffen millionenfach gegenseitig umbrachten. Zwar beschworen der deutsche und der österreichische Kaiser in ihren Aufrufen zum Krieg noch einmal den allmächtigen Gott, in dessen Namen sie zu den Waffen riefen. Doch von dieser Massenschlächterei im Namen Gottes hat sich die Rede vom allmächtigen Gott nicht erholt.

Am Ende des Ersten Weltkriegs entstand die „dialektische Theologie“ Karl Barths, die Gott als den ganz anderen wiederentdeckte und ihn so von allen gesellschaftlichen Vermittlungen entlastete. Barth sagte 1920 in seinem Tambacher Vortrag: „Wir wollen Gott nicht zum wiederholten Mal verweltlichen, dies mal der Sozialdemokratie zuliebe oder dem Wandervogel.“ Gott als der ganz andere soll vielmehr kritisches Prinzip gegenüber den herrschenden Gewalten sein.

Diese Theologie des Wortes Gottes konnte die evangelischen Kirchen 1934 zwar zu einem Bekenntnis gegen die Irrlehren der Deutschen Christen und die Fremdbestimmung der Kirche durch Nationalsozialismus und Führerkult ermutigen: „Jesus Christus ist das eine Wort Gottes, dem wir im Leben und Sterben zu vertrauen haben.“ Aber dieses Barmer Bekenntnis, das Gottes Souveränität bekräftigte gegenüber der des Staates, konnte doch die Kirchen und Christen nicht zum Widerstand gegen den Totalitarismus und den allmächtigen Terror der Nazis ermutigen. Der Ausgrenzung, Deportation und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung sahen die Christen tatenlos zu, das ist ihre große Schuld. Es gab die eine und andere Ausnahme – so Dietrich Bonhoeffer, der sich am Widerstand gegen Hitler beteiligte.

In seiner Berliner Gefängniszelle notierte er 1944: „Wir müssen leben, als ob es Gott nicht gibt“ – etsi deus non daretur. Gott als Arbeitshypothese ist hinfällig geworden. Technik und Wissenschaft kommen ohne Gott aus. Die Welt ist autonom. Das ist nicht zu beklagen. Denn, so Bonhoeffer: „Gott selbst zwingt uns zu dieser Erkenntnis. Gott gibt uns zu wissen, daß wir leben müssen als solche, die mit dem Leben ohne Gott fertig werden.“ Denn im Geschick Christi „läßt Gott sich aus der Welt herausdrängen an Kreuz.“ „Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt.“ Bonhoeffer nimmt also den Gedanken vom Ende der Allmacht Gottes produktiv auf. „Christus hilft nicht kraft seiner Allmacht, sondern kraft seiner Schwachheit, seines Leidens“. Das waren Einsichten, die es so deutlich in der Theologie bislang nicht gegeben hatte.

 

Theologische Restitution nach 1945

In dem sich wieder normalisierenden Alltag der Nachkriegszeit war es mit dieser Infragestellung des Glaubens an den allmächtigen Gott schnell vorbei. „Gott ist schwach und ohnmächtig und nur so ist er bei uns und hilft uns “, wie es in Bonhoeffers Eintragung vom 16. Juli 1944 heißt – nein, dies neue Bekenntnis gab es nicht; es wurde weiter traditionell bekannt: „Ich glaube an Gott den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde.“ Gott wurde wieder gedankenlos in Sonntagsreden beschworen, wurde zum religiösen Kitt einer sich irgendwie abendländisch-christlich verstehenden Gesellschaft. Und das umso stärker, je mehr die bundesrepublikanische Gesellschaft ihre Geschicke selbst in die Hand nahm, mit Wiederaufbau, Wirtschaftswunder und Wiederbewaffnung sich gegen den atheistischen Osten rüstete und einen mächtigen Gott gut als Verbündeten brauchen konnte, auch wenn man in der Alltagspraxis auf diesen Gott immer weniger Rücksicht nahm.

Vor allem wurde mit dieser unbekümmerten Haltung über das zentrale Geschehen der Infragestellung der Allmacht Gottes hinweggesehen, über Auschwitz und die Judenvernichtung. In dem Artikel „Gott“ in dem großen Standardlexikon Religion in Geschichte und Gegenwart von 1958 werden auf 20 Seiten diese Geschichtskatastrophen nicht erwähnt. Die zentrale Aussage ist vielmehr, dass Gott wegen seiner Heilstat in Jesus Christus gepriesen werden solI. In dem Standardwerk von Kurt Dietrich Schmidt zur Kirchengeschichte wird zwar auf die Christenverfolgungen in den kommunistischen Ländern eingegangen, nicht aber auf den nationalsozialistischen Völkermord an den Juden Europas.

Erst zu Beginn der 1970er Jahre spricht die evangelische Theologin Dorothee Sölle mit Blick auf Auschwitz vom Tod des allmächtigen und geschichtlich handelnden Gottes; der abwesende Gott wird durch Christus bei uns so vertreten, „daß seine Vertretung nun zur einzig möglichen Gotteserfahrung wird.“ Sie fordert auf, atheistisch an Gott zu glauben und wird dafür heftig attackiert. In der feministischen Theologie schließlich wird eindeutig Abschied von Gott, dem Herrn der Geschichte, genommen; Gott wird neu als Beziehungsgeschehen gedacht – dort, wo Menschen in der Nachfolge Jesu einander annehmen und gegen das Unrecht angehen, geschieht Gott. Gott ist kein allmächtiger, sondern ein leidempfindlicher, barmherziger Gott.

 

Das Ende der Allmacht Gottes

Am Ende dieses Rückblicks auf den Begriff der Allmacht Gottes steht also die Einsicht: Die Rede vom allmächtigen Gott ist mit dem 20. Jh. unwiderruflich an ihr Ende gekommen. Zwar ist der Einwand berechtigt: Zu jeder Zeit war der Glaube an einen allmächtigen und barmherzigen Gott Anfechtungen ausgesetzt – zur Zeit des babylonischen Exils, in den Pestzeiten des Mittelalters wie im Dreißigjährigen Krieg. Doch der ungeheuerliche Zivilisationsbruch, der in der fabrikmäßigen Vernichtung des jüdischen Volkes zum Ausdruck kam, ist gegenüber diesen Katastrophen eine nochmalige Steigerung. Er kann die Theologie und den Gottesglauben nicht unberührt lassen. Es gehört zu dem weiteren Versagen der deutschen Kirchen, dass sie ihre Mitschuld an dem Mord an den Juden lange Zeit nicht eingestanden haben. Das geschah erst 1980 in der Synodalerklärung der Rheinischen Kirche, in der auch die bleibende Erwählung des jüdischen Volkes durch Gott bekannt wurde. Die Botschaft von der Versöhnung der Welt in Jesus Christus wurde durch dieses Versagen unwiderruflich beschädigt, denn Jesus war Jude.

Ich frage daher jetzt: welche Konsequenzen ziehe ich als verantwortlich von Gott redender Theologe aus dieser Entwicklung? Für mich ist Gott weder der Herr der Geschichte noch der Natur. Ich verstehe Gott auch nicht im Sinne pantheistischer Immanenz, das heißt dass Gott mit der Welt identisch ist (Spinoza: Deus sive natura), sondern als Entäußerung Gottes zugunsten der Welt, als „Selbstpreisgabe göttlicher Integrität um des Werdens willen“. Ich folge hier dem jüdischen Religionsphilosophen Hans Jonas in seiner Rede „Der Gottesbegriff nach Auschwitz“, die er 1984 in Tübingen hielt. Er sagt: Im Anfang, aus unerkennbarer Wahl entschied sich der göttliche Grund des Seins, sich dem Zufall, dem Wagnis und der endlosen Mannigfaltigkeit des Werdens und Vergehens auszuliefern. Jeder Artunterschied, den die Evolution hervorbringt, bedeutet eine neue Möglichkeit für das Göttliche sich zu erproben. Selbst die Grausamkeit in der Tierwelt kann den Rahmen des Glücksspiels der Entwicklung nicht sprengen. So kann denn Gott in der Evolution, diesseits von Gut und Böse, nicht verlieren. Bis die Heraufkunft des Menschen im Holozän die Entstehung von Wissen und Freiheit nach sich zog und Platz machte für die Aufgabe der Verantwortung in der Trennung von Gut und Böse. Jonas sagt: „Das Bild Gottes geht mit dieser letzten Wendung in die fragwürdige Verwahrung des Menschen über, um ­erfüllt, gerettet oder verdorben zu werden“ – und zwar durch seine Taten. „Mit dem Sein des Menschen erwachte die Transzendenz zu sich selbst“ und begleitet hinfort sein Tun mit angehaltenem Atem. Es sind nach den Geschichtsgräueln der Nazis und Kommunisten allein die in einer jüdischen Legende erwähnten Taten der 36 unbekannten Gerechten, die für ein kleines Übergewicht des Guten über das Böse sorgen und damit auch dafür, dass Gott sich nicht ganz aus der Welt zurück­zieht.

 

Allmacht als Paradox

Eine andere Möglichkeit, Gott zu denken besteht darin, dass Gott nicht eine über Natur und Geschichte herrschende Person ist, sondern der Grund des Seins, die letzte Dimension alles Wirklichen ist (Tillich). Und zwar des Wirklichen in seinen schöpferischen wie in seinen zerstörerischen Aspekten. Gott ist dann „nicht das Gute, sondern das Ganze“ (Thomas Mann, Joseph und seine Brüder). Auch das Zerstörerische und Böse gehört zur Zulassung Gottes. Der Platz des Gottes, der alles so herrlich regiert, bleibt dann zunächst einmal leer.

Beide Erklärungen (Jonas und Tillich) laufen darauf hinaus, dass Gott kein allmächtiger Gott ist. Das gilt zunächst einmal logisch, denn, so Jonas, Allmacht ist machtlose Macht, die sich selbst aufhebt. Macht ist ein Verhältnisbegriff und erfordert ein mehrpoliges Verhältnis, Macht braucht einen Widerstand, um wirken zu können, muss geteilt sein (wie im Akt der Schöpfung).

Es gilt vor allem theologisch: Gott hat sich der Einmischung in den physischen Weltlauf der Dinge begeben, er antwortet auf das schreckliche Geschehen nicht „mit starker Hand und ausgerecktem Arm“, wie in der Exoduserzählung, sondern nur noch „mit dem eindringlich-stummen Werben seines unerfüllten Ziels“, so Hans Jonas. Es bleibt bei dem Ruf an die Seelen, bei der Inspiration der Propheten, bei dem Bekenntnis zu dem einen Gott, dem „Höre Israel“ und der frohen Botschaft Jesu. Zur göttlich gewährten Freiheit gehört das Gelingen des gewollt Bösen bis hin zu Auschwitz, das ist die unhintergehbare Einsicht, die sich aus einer unvoreingenommenen Geschichtsbetrachtung aufdrängt.

„Nur mit der Schöpfung aus dem Nichts haben wir die Einheit des göttlichen Prinzips zusammen mit der Selbstbeschränkung, die Raum gibt für die Existenz und Autonomie einer Welt.“ Die Schöpfung ist ein Akt souveräner göttlicher Selbstentäußerung, mit dem Gott sich selbst begrenzt hat. Aber das heißt für Jonas: „Nachdem er sich ganz in die werdende Welt hineingab, hat Gott nichts mehr zu geben: Jetzt ist es am Menschen ihm zu geben.“ (85)

 

Gottes Allmacht als Macht seiner Liebe

Eberhard Jüngel hat in dem Aufsatz Gottes ursprüngliches Anfangen als schöpferische Selbstbegrenzung, abgedruckt in dem Band Wehrlose Wahrheit (München 1990) auf Hans Jonas geantwortet, indem er zum einen auf „die Eigenart christlicher Theologie“ hinweist, die Gott nur „aufgrund seines Zur-Welt-Kommens in dem Menschen Jesus und der sich in diesem Kommen vollziehenden Offenbarung (erkennt)“. Darauf können wir als Christen nicht verzichten. Und indem er zum andern Gottes Allmacht „als die Macht seiner Liebe und die Schöpfung der Welt als das Werk der allmächtigen Liebe Gottes (versteht)“. „Am Kreuz Jesu Christi wird jene Ohnmacht Gottes erfahren, die als Ohnmacht der Liebe die Allmacht der Liebe nicht destruiert, sondern allererst konstituiert.“ „Deshalb ist die Liebe, die Gott ist, als Einheit von Leben und Tod zugunsten des ­Lebens zu bestimmen.“

Von diesem Gottesgedanken her ist es möglich, auch angesichts der „potenzierten Greuel von Auschwitz“ und der weitergehenden Gräuel in der Menschheitsgeschichte nach Auschwitz „Gott einen guten Gott zu nennen“. Die Schöpfung ist zwar ein Akt göttlicher Selbstbegrenzung, aber Gott hört nicht auf, als Schöpfer tätig zu bleiben. Er läuft mit dem Weltlauf mit, auf den er fürsorglich Einfluss nimmt, indem er mit den Leidenden leidet. Zwar bleibt das Entstehen des Bösen ein dunkles Rätsel. Doch durch die in Tod und Auferstehung Jesu geschehende Liebe Gottes ist Gott selbst nicht verborgen. Angesichts dieser verborgenen Werke Gottes wendet sich aber das Gotteslob auch zur Gottesklage.

Dass Jüngel mit Jonas’ Deutung des Dunklen im Weltgeschehen bis hin zu Auschwitz mitgeht und doch an Gottes Fürsorge und Vorsehung im Weltlauf festhält, ist tröstlich. Kann es aber für die Millionen Opfer ein Trost sein? Kein Blick auf den gekreuzigten, mitleidenden Gott konnte sie trösten. Waren doch selbst die unter ihnen, die Judenchristen waren, von dem Trost der Gottesdienste und Sakramente ausgeschlossen. Und muss die Infragestellung des Versöhnungsgeschehens in Christus durch die Schoah nicht stärker betont werden, weil ja die Kirche als Volk Gottes angesichts des sich anbahnenden Völkermords geschwiegen und ihre jüdischen Geschwister bis auf wenige Ausnahmen in Stich gelassen hat?!

Zwei Szenen: Mit den Deutschen Christen als Zuschauern wurden die Synagogen im November 1938 angezündet. Und: Unter den Fenstern des Vatikans wurden die Juden Roms 1944 deportiert. Deswegen spreche ich in meinem Buch Beschädigte Versöhnung. Die Folgen des Versagens der Kirchen in der Nazizeit (Münster 2022) von eben diesem Versagen als einem theologischen Tiefpunkt der Kirchengeschichte, ja von einer Zeitenwende. Und auch Jüngels theologische Formulierungskunst kann dieses Versagen nicht erträglich machen, so gerne man das erfahren möchte.

 

Ist die Schöpfung „gut, ja sehr gut“?

Es gibt noch einen weiteren Bereich, in dem die jüdisch-christliche Tradition die Ohnmacht Gottes angesichts der Naturkatastrophen und der Willkür der Natur eingestehen muss. Die tektonische Verschiebung der Erdplatten mit den daraus resultierenden See- und Erdbeben ist eine Infragestellung eines Schöpfungsglaubens, der die Chaoskräfte durch das gestaltende Wort Gottes geordnet sieht mit dem abschließenden Urteil „und siehe, es war sehr gut“ (Gen. 1,3.31). Die Schöpfung ist gerade in dieser Hinsicht nicht sehr gut und vollendet.

Das biblische Naturverständnis gehört einer Zeit an, in der die Schrecken der Natur durch die Unterstellung unter einen souveränen Schöpfer im Glauben erträglich gemacht werden sollten, mal abgesehen davon, dass der Glaube an einen allmächtigen Gott von der Verbindung Gottes mit gewaltigen Naturerscheinungen lebte: Die biblische Schilderung von Theophanien erinnert an Vulkanausbrüche, und zu Hiob spricht Gott aus dem Gewitter. Erdbeben sind nicht zu vermeiden. Aber dass die Menschheit millionenfach gerade in den erdbebengefährdeten Zonen in unsicheren Häusern siedelt, siehe zuletzt die 200.000 armen Haitianer, die 2021 deswegen sterben mussten, ist vor allem auch eine Frage sozialer Ungerechtigkeit. Dass trotzdem bei Naturkatastrophen gefragt wird, wieso Gott das zulässt, sogar die BILD-Zeitung rief am 31.12.2004 angesichts des Tsunamis aus: „Wo warst du, lieber Gott?“, ist dem Tatbestand geschuldet, dass der Mensch in Krisensituationen eine Instanz braucht, zu der er rufen kann. Auch die Corona-Pandemie, die in Deutschland 183.155 Tote (Stand: Mai 2024) forderte, rief, weil es keinen eindeutigen Schuldigen gab, die Frage nach dem Unverfügbaren wach. In solchen Katastrophen ist der Rückbezug auf das Religiöse „ein Mittel, der inneren Unruhe einen Sinn zu geben und sie zu beschwichtigen,“ meint der Katastrophenforscher Francois Walter.

 

 

Das Gebet zum Du Gottes

Mein Fazit: Gott ist nicht allmächtig, Gott ist nicht ein Gott, der eingreift, um zu retten. Der Thron, auf dem der Allmächtige sitzt, ist leer. Wird das anerkannt, ist es auch wieder möglich, in personaler Sprache zu Gott zu beten, zu rufen und zu klagen, so wie es die Beter in den Psalmen taten: „Gott, wie lange willst du zusehen, errette meine Seele vor ihrem Unheil“ (Ps. 35,17); ­„Wache auf Gott, werde wach, mir Recht zu verschaffen“ (Ps. 35,23). Mit der jüdisch-christlichen Gebetstradition ist es möglich, zu Gott als einem Du sich zu wenden, auch wenn ich weiß, dass keine Antwort erfolgt, weil Gott keine handelnde, womöglich eingreifende Person wie die Eltern, ein Arzt, eine Pflegerin, eine Anwältin oder eine andere mit Hilfsmöglichkeiten ausgestattete Person ist.

Der Mensch wendet sich mit dem Gebet zum Du Gottes an eine Macht, an ein umgreifendes Gegenüber, das größer und tiefer als er ist, auch wenn es nicht unmittelbar helfen kann. „Die Antwort liegt im Schrei“, sagt der islamische Mystiker Rumi zur Rolle des Klagegebets. Oder anders gesagt: es erfolgt keine Antwort, aber der betend Klagende wird gestärkt. In Joseph und seine Brüder klagt Jakob nach dem Tod Rahels: „Herr, was tust du?“ Thomas Mann fährt fort: „In solchen Fällen erfolgt keine Antwort, aber der Ruhm der Menschenseele ist es, daß sie durch dieses Schweigen nicht an Gott irre wird, sondern die Majestät des Unbegreiflichen zu erfassen und daran zu wachsen vermag.“ Und dass Gott in Christus am Kreuz leidet, ist zwei Jahrtausende lang ein Trost für die leidende Menschheit gewesen, ist es jetzt aber in einem die schlimmen Widerfahrnisse des ­Lebens absichernden Sozialstaat immer weniger.

Und zweitens: Gott ist nicht allmächtig, aber barmherzig. Gott existiert als eine von uns unabhängige und zugleich auf unsere Kooperation angewiesene Macht der Barmherzigkeit, die uns zur Mitarbeit einlädt. Das klingt kompliziert, ist aber ganz einfach, so einfach, wie Jesus es formuliert: „Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist.“ Das heißt, ich kann barmherzig handeln, weil Gott barmherzig ist, weil es Gott als Macht der Barmherzigkeit, die mich zur Kooperation einlädt, tatsächlich gibt. In einer schönen bildhaften rabbinischen Auslegung zu dem Psalmwort: „Der Heilige, er sei gepriesen, schläft und schlummert nicht“, wird ganz menschlich gefragt: Was tut Gott, womit ist er beschäftigt? Die Antwort lautet: „Er tut dasselbe wie wir. Er stattet arme Bräute aus, er besucht Kranke und geht mit dem Begräbniszug, wenn kein anderer da ist. Nur, daß er es ohne Lohn tut.“ Gott tut dasselbe wie wir, wenn wir barmherzig handeln. Wie Er so auch wir, wie im Himmel so auf Erden – das ist der Schlüssel für die Verwirklichung der Barmherzigkeit. Handelt der Mensch nicht barmherzig, dann kann auch Gottes Barmherzigkeit keinen Platz finden und sich ausbreiten.

 

Barmherzigkeit üben

Die Zeichen dieser Macht sind vielfältig. So besteht die Barmherzigkeit aus alltäglichen Verrichtungen, die lebensfördernd sind. In diesem Moment wird diese Macht vielleicht darin sichtbar, dass eine Mutter oder ein Vater, die vielleicht gerne zum Frühschoppen, ins Konzert oder sogar in den Gottesdienst gegangen wären, sich viel Zeit nehmen für die Kinder. Sie wird sichtbar in der Kirchenküche einer Gemeinde, die die Essensausteilung für Arme und Obdachlose organisiert. Darin, dass ­jemand den lange hinausgeschobenen Krankenbesuch bei einer entfernten Verwandten macht. Oder dass ein Arzt seine erfolgreiche Praxis aufgibt, um an einem Krisenort der Welt medizinisch zu helfen.

Was tut Gott, menschlich gesprochen? Er macht dasselbe wie wir, besucht Kranke, macht den Armen das Mittagessen und er kauft Hochzeitskleider für ein armes Paar, das heiraten will. Gott ist eine Macht der Barmherzigkeit und Güte, die uns anruft, barmherzig zu handeln. Zu dieser Macht kann der Christ in den Nöten des Lebens beten. Im „Doppelten Lottchen“ erzählt Erich Kästner solch eine anrührende Gebetsgeschichte (ich verdanke Fulbert Steffensky diesen Hinweis). Die Eltern der Mädchen, die sich getrennt haben, führen ein Versöhnungsgespräch, die beiden Mädchen warten gespannt vor der Tür. „Komm, lass uns beten, dass sie wieder zusammenfinden“, sagt die eine. „Aber ich weiß kein Gebet“, sagt die andere. Doch dann knien sie sich hin und sprechen miteinander das Tischgebet: „Komm Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast.“ Es ist nicht das passende Gebet, aber ­eines, das sie kennen, und in ihrer Not greifen sie zu diesem Gebet. Sie brauchen es in ihrem inständigen Wunsch nach einem gelingenden Leben, und wie wir wissen, versöhnen sich die Eltern tatsächlich.

Jeder kennt solche Situationen, in denen sich die Not des Lebens in einem Gebet entlädt. Das Gebet zu Gott in Situationen der Bedrängnis kann subjektiv helfen, und es gibt auch ansonsten eher gottlose Menschen, die das tun. Ich finde im Gebet eine Sprache für die Fragen, die uns umtreiben, für Schmerz, Verzweiflung, Angst, aber auch für Liebe und Vertrauen. Gott hier in dem Wissen zu nennen, dass er nicht mehr der allmächtige eingreifende Gott ist, heißt dennoch, meiner eigenen Hoffnungslosigkeit zu widersprechen und spirituelle Kräfte zu wecken, die in den Widrigkeiten des Lebens ihre Macht entfalten können (Fulbert Steffensky). Wer die Abhängigkeit von dieser umgreifenden Macht verspürt, wer, mit Schleiermacher zu sprechen, seine „schlechthinnige Abhängigkeit“ als Grund des Glaubens fühlt, der kann vielleicht auch wieder das „Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen“ im Credo sprechen, ohne wie ich ins Stocken zu geraten.

 

Über die Autorin / den Autor:

Prof. Dr. Hans-Jürgen Benedict, Jahrgang 1941, 1980-1991 Pfarrer in Hamburg, 1991-2006 Prof. für Diakonische Theologie an der Evang. Hochschule für Soziale Arbeit und Diakonie Hamburg.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 3/2025

2 Kommentare zu diesem Artikel
22.03.2025 Ein Kommentar von Benedict Lieber Herr Arndt, vielen dank für ihre positive Reaktion auf meinen Artjkel zur Gottesfrage im Pfarrerinnenblatt. Ihre Bericht über das Gespräch mit der Krebs-Patientin hat mich berührt. Das ehrliche Bekenntnis zu einem Gott, der nicht eingreift bzw eingreifen kann ,aber in der Gesprächsbeziehung als Kraft aufleuchtet, ist genau das, was ich vertrete und glaube. Es freut mich,dass mein Artikel dazu etwas beitragen konnte. Herzliche Grüße hans-Jürgen Benedict
19.03.2025 Ein Kommentar von Hans-Michael Arndt Die eine Setzung des traditionellen Gottesbildes, seine Allmächtigkeit, wird gestrichen, Gott konkretisiert sich in einer den einzelnen Menschen übersteigende Barmherzigkeit. Er wird so mit dem handelnden Menschen verbunden, sodass sich Gott im barmherzig handelnden Menschen auflöst, obgleich er das einzelne Individuum übersteigt. Das ist nach unseren jetzigen Denkmöglichkeiten ehrlich, aber gibt es dann wirklich noch eine Theo-logie? Bleibt 'nur' noch humanitas? Und verwirklicht sich der Übermensch Gott auch in dem zornigen, revolutionären Menschen, der um Gerechtigkeit, der gegen Zerstörung aller Art kämpft? Ich würde ihn besonders gerne auch da 'sehen'. Größte Setzung in diesem Artikel - finde ich - ist die dann doch noch gegebene Möglichkeit des Gebetes, begründet eigentlich nur durch Rückgriff auf eine jüdische u christliche Gebetstradition gerade des Schreis (!), aber doch aus einer Zeit, in der das Gebet doch wohl noch auf eine andere Theologie, eine konkrete Gottesvorstellung, gründete. Ich füge einen Seelsorge-Brief an, den ich in einer Krebs-Reha einer Mitpatientin schrieb, der nach meinem Dafürhalten auf theologischer Grundlage fußt, die in Ihrer Darstellung, Herr Professor Benedict, aufgezeigt wird. Nach einem Seelsorgegespräch in einer Krebs-Reha, bei dem ich nach meinem Dafürhalten äußerst unangemessen sehr theoretisch Gottesvorstellungen u.a. im Hinblick auf die Theodizee-Frage darstellte, schrieb ich der Gesprächspartnerin den folgenden Brief. Mir wurde erst danach richtig bewusst, dass ich hier wohl zum ersten Mal ganz ungebrochen (offen) mich seelsorgerlich von meiner 'Theo'logie oder auch Theologie her geäußert hatte. Die Eltern (der Vater) haben (hat) meine Gesprächspartnerin bewusst nicht taufen gelassen, damit sie frei aufwächst und sich selbst entscheiden kann. Sie gehört keiner Religionsgemeinschaft an. Mein Brief: Liebe N, ... Ein Gott, der von außen auf uns wirkt, dem wir uns als Gegenüber zuwenden können, ist, denke ich, den meisten - wie auch mir - verloren gegangen. Die Theodizee-Frage bricht bei traditionellen Gottesvorstellungen unweigerlich auf. Aber auch so werden wir, solange der Mensch Mensch bleibt, fragen: Warum gibt es das Böse in der Welt?, warum Verletzungen in so vielfältiger Weise, warum Hunger?, warum Kriege, warum diese in uns so einschneidende Krankheit? Meine Hoffnung: dass wir die Sehnsucht nach dem Paradies nie verlieren. Ein Gott, der von außen auf uns wirkt, dem wir uns als Gegenüber zuwenden können, der eingreift, der hilft, das mich Angreifende, das, was mich zu zerstören droht, abwendet, dieser Gott ist vielen von uns verloren gegangen. Das ist eine harte Aussage. Denn – getauft oder nicht, ChristIn oder Atheist In– bestimmt uns diese über Jahrhunderte uns überkommende Gottesvorstellung, sie haftet uns weiterhin an, obgleich – ich denke, die meisten – sie nicht mehr wirklich annehmen können, für viele nur noch kraftloses, aber uns verunsicherndes Gefühl darstellt. Aber auch für uns gibt es Momente, wo wir aus unserem Innersten her erleben, dass wir mehr sind als ein mechanisch ablaufendes Uhrwerk, dem wir 'automatisch' ausgesetzt sind, ohne dass es wirklich mein eigentliches Ich ist. Es gibt für uns diese Momente, wo eine unseren ganzen Körper durchströmende Freude uns erfüllt, wo wir in diesem Moment ganz im Glück sind. So geht es mir oft, wenn wir uns im Vorübergehen sehen und uns zusammen freuen, dass wir uns sehen und uns dies allein mit unserem Blick sagen. Diese unbeschreibliche, tiefe Freude, die so viel Kraft schenkt, erlebe ich auch hier und da, wenn ich mit einer Freundin vielleicht bei einem Glas Wein am Rhein sitze, gar nichts reden, am Tisch gegenüber und doch in solchen Momenten in diesem Schweigen, in dieser Stille ganz eins. Oder ich sitze auf meinem Balkon und beim Schauen über die Weite der Felder und zu den Hügeln am Horizont – in solchen Momenten schaue ich es eigentlich gar nicht an, vielmehr diese Weite, diese Natur-Ganzheit kommt zu mir, erfüllt mich ganz. Sie, liebe N, machen für ihre Freundin einen schönen Schal. Ich wünsche Ihnen und bin mir sicher, dass Sie mit ihr auch solche Momente, auch hier und da Gespräche haben, wo neben dem, was man sich sagt, wie sie sich aufnehmen, einfach auch dieses tiefe Erleben des Zusammenseins geschieht, wo vielleicht auch mal mein Schmerz, die Unsicherheit, wie es mit mir weitergeht, die Angst und Sorge, was mit mir noch alles geschehen kann, herausbricht, Tränen, die befreien, Weinen, das erleichtert. Davon bin ich überzeugt: Das alles ist uns viel viel heilsamer, hat eine noch viel stärker heilende Kraft, als alle Pillen, die wir schlucken. Sie, liebe N, schenken auch ihrer Mutter einen gewiss schönen, selbst gemachten Batik-Seidenschal. Mir fiel in unserem Gespräch auf, wie oft und schön Sie von Ihrem Vater sprachen. Vielleicht sind auch die Eltern in Ihrer sehr schwierigen Situation Ansprechpartner, wodurch Sie Ihre Eltern noch einmal ganz neu erleben. Genauso wie Sie selbst durch diese ihre Krankheit herausgefordert werden, wird auch ihre Ehe durch dieses einschneidende Ereignis Ihrer Krankheit herausgefordert, neuen Belastungen ausgesetzt. Gerade in der nahen Beziehung sind wir Männer – ich denke, ich kann das so verallgemeinern – in schwierigen persönlichen Situationen oft im Ausdrücken unserer Gefühle scheu, äußerst zurückhaltend, verstecken wir uns. Das ist mehr als schade. Sollten Sie also einen 'typischen Mann' haben, denke ich, wie ich Sie in unserem Gespräch kennengelernt habe, dass Sie durch diese männliche Schutzschale hindurchschauen können und es soll ja auch vorkommen, dass wir Männer lernfähig sind ... Und Sie selbst als Mutter. Natürlich sind Sie durch Ihre Tochter neben Beruf und all dem anderen gefordert, dass man als Mutter, als Eltern eher das tägliche Sorgen und sich Kümmern sieht. Aber doch dann auch immer wieder die tiefe Freude, mit der man sein Kind ins Herz schließt. So vieles, das Glück schenkt, das stärkt und heilende Kraft hat. Und sicher kennen Sie das auch: am Meer, ganz allein auf dem langen Sandstrand, der Blick über das endlose Wasser bis zum Horizont - aufgenommen auf einmal von dieser Weite, wird man selbst so weit, frei und groß – wirft – ohne Anleitung einer Reha-Trainerin! - seine Arme in die Höhe, ganz aufgenommen von dieser Weite - frei. Können wir all das nicht auch als eine göttliche Kraft verstehen, die um uns und in uns ist? In Liebe und Dankbarkeit, dass wir uns so begegnet sind, Ihr Michael Arndt Im Nachhinein kam mir die 'Gott ist tot'-Theologie, die theologisch als Hintergrund meiner Ausführungen gesehen werden kann, zu hart vor. Gerade deshalb bot ich ihr nach diesem Brief ein weiteres Gespräch an, das sie aber nicht aufgriff. Wenn sie mein Brief gerade in ihrer Krankheitssituation verunsichert hätte – was ich dann doch befürchtete -, hätte ich ihr sehr empfohlen, ob sie sich nicht an einen anderen Priester/Pfarrer wenden wolle, der von einem anderen Gottesverständnis her denkt und spricht. Es freute mich aber, dass, wenn wir uns in diesen unseren letzten Tagen in der Reha begegneten, uns weiter so sehen konnten, dass wir uns mit unseren Blicken sagten: Ich freue mich, dass wir uns sehen. Und auf den Brief hin sagte die etwa 40jährige Frau: Ich werde ihn meiner Mutter zeigen. - Das erstaunte und freute mich zugleich, denn es klang in keinster Weise, als wolle sie die Mutter als Richterin einschalten.
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