Lassen sich Erfahrungen von Bedrückung, Diskriminierung und Gewalt transformieren, ohne dass sie in ihrer Wirksamkeit negiert oder übergangen werden? Kann ein solcher Verwandlungsprozess eine kathartische Wirkung hervorrufen und auf diese Weise sogar heilsam sein? Und ist dafür Musik das geeignete Medium? Felix Mendelssohn Bartholdy fordert mit seinem dramatischen Werk über den Propheten Elia heraus, sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen, wie Dietrich Hannes Eibach zeigt.
1. Biographische Anmerkungen
Felix Mendelssohn Bartholdy entstammte einer angesehenen, wohlhabenden und einflussreichen jüdischen Familie. Väterlicherseits war er ein Enkel des bedeutenden Philosophen der Aufklärung Moses Mendelssohn. Moses ist durch Lessing bekannt geworden, der seiner Bühnenfigur in „Nathan, der Weisen“ Züge von dessen bemerkenswerter Persönlichkeit gegeben hat. Moses Mendelssohn zeichnete sich durch eine hohe religiöse Toleranz aus, obwohl er Zeit seines Lebens antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt war und unter Ausgrenzungen gelitten hat.
Der Vater von Felix hieß Abraham. Dieser leitete mit seinem Bruder eine Bank und trug wesentlich zum finanziellen Reichtum und Einfluss der Familie in Preußen bei. Seine Mutter Lea, geborene Salomon, kam aus einer Fabrikantenfamilie.
Nach der Heirat 1804 zogen Abraham und Lea Mendelssohn von Berlin nach Hamburg. 1805 wurde Felix’ musikalisch begabte Schwester Fanny (ab 1829 Fanny Hensel) geboren. Nach Felix (1809) folgten noch zwei weitere Geschwister.
Wegen der französischen Besetzung Hamburgs zog die Familie 1811 wieder nach Berlin. Alle Kinder von Abraham und Lea Mendelssohn wurden christlich erzogen und am 21. März 1816 von dem Pfarrer der Reformierten Gemeinde der Berliner Jerusalems- und Neuen Kirche, in einer Haustaufe protestantisch getauft. Darüber hinaus wurde dem Familiennamen der „christliche“ Name Bartholdy beigefügt, den Leas Bruder Jakob Salomon, ein preußischer Gesandter in Rom, bei seiner Taufe nach dem Namen des Vorbesitzers eines Gartens der Familie angenommen hatte. Abraham und Lea Mendelssohn Bartholdy konvertierten schließlich 1822 zum Christentum. Felix wurde 1825 in der Berliner Parochialkirche konfirmiert.
Der Kontext dieser großbürgerlichen und assimilierten Familie prägte das Leben und die Einstellung des Komponisten in entscheidender Weise. Felix folgte seinem Vater in seinem Bestreben nach einer Assimilation jedoch nicht auf die gleiche Weise. Er suchte, wie wir sehen werden, nach einem eigenen Weg im Umgang mit seinen religiösen Wurzeln.
2. Zeitgeschichtlicher Kontext
Die beiden Oratorien „Paulus“ und „Elias“ haben zur Beliebtheit des Komponisten sehr viel beigetragen. „Paulus“ ist unter dem Einfluss der Aufführung von Bachs Matthäuspassion entstanden und wurde in seiner endgültigen Fassung in englischer Sprache 1836 in Liverpool aufgeführt. Es war sehr erfolgreich, sodass es in den folgenden 18 Monaten auch beim Birmingham Triennial Music Festival weitere Male aufgeführt werden konnte. Mit dem Stoff von „Elias“ hat sich Mendelssohn zehn Jahre beschäftigt. Das Werk ist am 26. August 1846 beim Birmingham Triennial Music Festival in Birmingham uraufgeführt worden.
Die Jahre vorher waren durch die letzte große Hungersnot der vorindustriellen Zeit geprägt. Witterungsbedingte „Missernten“ und die zusätzlich seit 1844 grassierende Kartoffelfäule dezimierten die Vorräte an Grundnahrungsmitteln und führten zu deren Verknappung. Dagegen kam es 1846 zu Aufständen und Revolten in den Städten. Wenn der Chor in Nr.1 beginnt: „Die Ernte ist vergangen, der Sommer ist dahin und uns ist keine Hilfe gekommen“, dann mögen solche bedrängenden Erfahrungen von Not und Entbehrung in die Komposition hineingespielt haben.
Politisch fallen diese Jahre in die Zeit des Vormärz – zwei Jahre vor der Revolution. Das Hambacher Fest, bei der die Gründung eines vereinten, demokratischen Nationalstaates gefordert wurde, lag 16 Jahre zurück. Die Jahre danach waren geprägt von den Auseinandersetzungen zwischen Nationalismus, Liberalismus und Sozialismus. Der Widerstand gegen eine restaurative Politik der Verfolgung und autoritären Unterdrückung wuchs. Die Anklage gegen die Willkür autoritärer Macht findet in Nr. 23 ihren Ausdruck, wenn Elia dem König Ahab vorwirft: „Du hast tot geschlagen und fremdes Gut genommen“.
Bei den Forderungen nach nationaler Einigung, Bürger- und Freiheitsrechten spielten die Sängerfeste, an denen Tausende von Sängern teilnahmen, eine wichtige Rolle. Das erste Deutsche Sängerfest fand vom 4. bis zum 6. August 1845 in Würzburg statt. Mendelssohn komponierte einen Festgesang auf einen Text von Friedrich Schiller für das erste deutsch-flämische Sängerfest 1846 in Köln. Etwas von dieser Aufbruchsstimmung im gemeinsamen Gesang ist auch in dem Oratorium zu spüren.
3. Libretto
Mendelssohn hat sich an seine, Freund, den Dessauer Pfarrer Julius Schubring, gewandt mit der Bitte, ihn bei der Textvorlage für sein Oratorium zu unterstützen. In einem Brief von 1838 schildert er ihm seine Vorstellung: „Ich hatte mir eigentlich beim Elias einen rechten durch und durch Propheten gedacht, wie wir ihn etwa heut zu Tage wieder brauchen könnten, stark, eifrig, auch wohl bös und finster, im Gegensatz zum Hofgesindel und Volksgesindel, und fast zur ganzen Welt im Gegensatz, und doch getragen wie von Engelsflügeln.“1 Schubring hatte bereits das Libretto bei dem Paulus-Oratorium wesentlich gestaltet und lieferte ihm auch für das Elias-Oratorium immer wieder Vorschläge, die Mendelssohn zum großen Teil übernommen hat. Doch wandte sich der Komponist gegen den Versuch von Schubring, die Gestalt des Propheten christologisch zu überhöhen. Mendelssohn wollte sich nicht „zu sehr aus der Haltung des (alttestamentlichen) Ganzen entfern[en]“2, wie er es in einem Brief an Schubring am 3. Februar 1846 formuliert. Er hat den Austausch über den Elias mit Schubring ab diesem Punkt nicht mehr weitergeführt. Mendelssohn hat sich in den Schlussnummern 39-42 bewusst gegen eine christologische Zuspitzung der Eliasgestalt gestellt und den Blick für eine ethischen Perspektive gewählt. Er bezieht sich auf ein Zitat aus dem prophetischen Buch des Maleachi: „Er (gemeint ist hier Elias) soll das Herz der Väter bekehren zu den Kindern, und das Herz der Kinder zu den Vätern, dass der Herr nicht komme und das Erdreich mit dem Banne schlage“ (3,23f). Im Schlusschor (Nr. 42) heißt es: „Als dann wird euer Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und eure Besserung wird schnell wachsen und die Herrlichkeit des Herrn wird euch zu sich nehmen“.
Mit dieser Textauswahl positioniert sich Mendelssohn in einer entscheidenden Weise gegen eine christliche Vereinnahmung des Propheten Elia. Er belässt ihn in der prophetischen Tradition und macht ihn zu einem Vermittler einer eschatologischen Verheißung für alle Völker. Mit dieser Entscheidung bekennt sich der Komponist zu seinen jüdischen Wurzeln.
4. Assimilierung
Wie andere jüdische Familien im 19. Jh., die über einen überdurchschnittlichen Besitz, einen gehobenen Sozialstatus, Bildung und Einfluss verfügten, hoffte auch die Familie von Abraham Mendelssohn-Bartholdy, sich durch eine Konversion zum Christentum nahezu vollständig in die preußische Gesellschaft assimilieren zu können. Sie verstanden sich als loyale Untertanen, die einer „evangelischen Staatsreligion“ angehörten.
Um seine Familie gegenüber antisemitischer Hetze zu schützen und seine Bereitschaft zur Assimilierung zum Ausdruck zu bringen, ließ Abraham nicht nur seine Kinder taufen und konvertierte mit seiner Frau selbst zum Christentum. Er versuchte auch den jüdischen Anteil an seinem Nachnamen zu minimieren und nannte sich M. Bartholdy. In einem Brief von 1830 mahnte er seinen Sohn: „Du kannst und darfst nicht Felix Mendelssohn heißen. Du musst Dich also Felix Bartholdy nennen. Einen christlichen Mendelssohn gibt es so wenig wie einen jüdischen Konfuzius. Heißt Du Mendelssohn, so bist Du eo ipso ein Jude, und das taugt Dir nicht, schon allein, weil es nicht wahr ist.“3 Felix folgte nicht dem väterlichen Rat und widersetzte sich in Bezug auf seinen Namen immer wieder dem Drängen des Vaters.
Felix Mendelssohn hat mit seinem Schaffenswerk der evangelischen Kirche mit seinen zahlreichen Werken und der Wiederaufführung der Musik von Johann Sebastian Bach viel gegeben. Zum 300. Jubiläum der Confessio Augustana im Jahr 1830 komponierte er seine Reformationssinfonie, die zwei Jahre später aufgeführt wurde. Doch spätestens mit seinem „Elias“ erweist er sich als ein Grenzgänger zwischen Judentum und Christentum. In der vorletzten Nr. 41 heißt es: „Aber einer erwacht von Mitternacht und er kommt vom Aufgang der Sonne … Wohl an, alle, die ihr durstig seid, kommt zu ihm.“ Vor diesem messianischen Horizont verleugnet der Komponist nicht seine jüdischen Wurzeln und hält seiner musikalischen Auslegung der Eliasgeschichte für eine christliche Perspektive offen.
5. Antisemitismus
Die Möglichkeit für Jüdinnen und Juden am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben in Deutschland im 19. Jh. teilzunehmen und es mitzugestalten, traf auf Neid, Missgunst, verbale und offene Gewalt. Auch Mendelssohn bekam dies zeit seines Lebens zu spüren. Während eines Sommerurlaubs 1819 schrien Straßenkinder in dem Küstenort Dobberan an der Ostsee ihm und seiner 14jährigen Schwester Fanny „Hepp-Hepp! Judenjung!“ entgegen, bevor sie die Geschwister körperlich attackierten. Scheinbar gleichmütig befreite der 10jährige seine Schwester aus der bedrohlichen Situation. Erst als sie heimkehrten, weinte er vor Zorn und Scham.
Die „Hepp-Hepp“-Unruhen – nach der populären Straßen- und Gewaltparole „Hepp! Hepp!! Hepp!!! Aller Juden Tod und Verderben! Ihr müsst fliehen oder sterben!“ – gingen in diesem Jahr von der fränkischen Residenzstadt Würzburg aus und führten in Deutschland und in europäischen Nachbarstaaten zu pogromartigen Ausschreitungen. Der „Hepp-Hepp“-Ruf wurde wahrscheinlich von Viertreibern übernommen und auf die gewalttätige Verfolgung von jüdischen Mitmenschen übertragen.
Auch unter dem sogenannten gebildeten Bürgertum in Berlin wurden bereits vorher antisemitische Äußerungen lauter – geprägt von einer tiefen Abwertung und von Vernichtungsfantasien. So ließ sich der Berliner Historiker und Historiograph des Preußischen Staates Friedrich Rühs 1814 zu der Bemerkung hinreißen: „Gelingt es nicht, die Juden zur Taufe zu bewegen, dann bleibt nur eins: sie gewaltsam auszurotten!“4
Die Taufe als eine Aufnahme in die christliche Kirche verlor in der Folgezeit ihre schützende Funktion. Im Laufe der Zeit nahmen der öffentliche Druck und die Verfolgung von Jüdinnen und Juden immer drastischere Formen an. Der Weg zu einer „Endlösung in der Judenfrage“, wie sie die Nationalsozialisten bei der Wannsee-Konferenz 1942 planten und Schritte zur Vernichtung von Menschen mit einem jüdischen Hintergrund festlegten, wurde in Wort und Tat bereits am Anfang des 19. Jh. in Deutschland vorbereitet.
So verband sich der Ruf nach Gründung eines Nationalstaates zur Zeit von Felix Mendelssohn-Bartholdy mit einer hasserfüllten Abgrenzung gegenüber vermeintlichen äußeren und inneren Gegnern. Der christliche Publizist und Dichter Ernst Moritz Arndt stellte fest, dass das Volk der Deutschen es durch alle Zeiten vermocht habe, nicht zu „verbastarde(n), keine Mischlinge geworden“ zu sein.5 Nun sei das „germanische Wesen“ im höchsten Maße durch das Voranrücken der Franzosen und der Juden bedroht, welche letztere mit dem Prosperieren von „Ungeziefer“ zu vergleichen sei. Forderungen nach Dialog, Humanität und Toleranz gegenüber Juden bezeichnete Arndt als „Allerweltsphilosophie und Allerweltliebe“ und als Zeichen von „Schwächlichkeit und Jämmerlichkeit“. Arndt verdammte eine solche Haltung: „Verflucht aber sei die Humanität und der Kosmopolitismus, womit ihr prahlet! Jener allweltliche Judensinn, den ihr uns preist als den höchsten Gipfel menschlicher Bildung.“6
Der Heidelberger Philosoph und Professor Jacob Friedrich Fries schrieb 1816 unter dem Titel: „Über die Gefährdung des Wohlstandes und Charakters der Deutschen durch die Juden“: „Denkt nur an ihr Schicksal in Spanien, wie es dort allem Volke zur Freude wurde, sie zu tausenden auf den Scheiterhaufen brennen zu sehen, wie sie dort die Regierung (…) samt und sonders zum Lande hinausjagen musste.“7
6. Ideologische Kulturpolitik
In dieser geistigen Atmosphäre bereitete der einflussreiche Musiker, Komponist und Mendelssohns künstlerischer Mentor Karl Friedrich Zelter den greisen Geheimen Rat Johann Wolfgang von Goethe in Weimar in seinem Brief vom 26. Oktober 1821 auf den Besuch eines 12jährigen musikalischen Wunderkindes aus dem Hause Mendelssohn mit folgenden Worten vor: „Er ist zwar ein Judensohn, aber kein Jude. Der Vater hat mit bedeutender Aufopferung seine Söhne nicht beschneiden lassen und erzieht sie, wie sich’s gehört; es wäre wirklich einmal eppes Rores (etwas Rares), wenn aus einem Judensohne ein Künstler würde.”8
Als 23jähriger bewarb sich Mendelssohn 1832 auf die Leitungsstelle bei der Berliner Singakademie. Er wurde aus eindeutig antisemitischen Gründen abgelehnt. Obwohl er den Chor 1829 mit der Wiederaufführung von Bach’s Matthäuspassion zu einem besonderen Musikereignis führte, erhoben sich heftige Gegenstimmen: „die Singakademie sei, durch ihre fast ausschließliche Beschäftigung mit geistlicher Musik, ein christliches Institut, es sei darum unerhört, dass man ihr einen Judenjungen zum Director aufreden wolle“9.
Es ist zu vermuten, dass man dem jungen Mendelssohn damals einen Musiker vorzog, der ein viel geringeres Format besaß als der junge vielversprechende Pianist, Komponist und künstlerische Leiter. Gleichzeitig wurde er um seine gesellschaftliche und durch Reichtum geprägte Herkunft wie auch wegen der Gunstbezeugung durch den preußischen König beneidet. Seine Ernennung zum Königlich-preußischen Kapellmeister und zum Generalmusikdirektor – verantwortlich auch für die geistliche Musik in Berlin, war für den ebenfalls getauften Dichter jüdischer Herkunft Heinrich Heine ein Gräuel. In seinem Versepos „Deutschland. Ein Wintermärchen“ von 1844 fertigte er den Musiker kurzerhand mit dem boshaften Vierzeiler ab: „Der Abraham hatte mit Lea erzeugt / Ein Bübchen, Felix heißt er / Der brachte es weit im Christentum / Ist schon Capellenmeister.“10 So trugen die Worte eines Menschen, der ein ähnliches Schicksal hatte wie er, dazu bei, dass die Vorwürfe, Mendelssohn sei ein privilegierter, vom Glück begünstigter und angepasster Künstler gewesen, verstärkt wurden.
In den Jahren 1835 und 1841 musste sich die Familie Mendelssohn mit einer antisemitisch intendierten Intrige auseinandersetzen. Prof. Friedrich Wilhelm Riemer gab den Briefwechsel von Zelter und Goethe heraus – u.a. mit dem Zitat von dem „Judensohn“. Die innerfamiliäre Erregung angesichts der Affäre und den Beschuldigungen hinsichtlich semitischer Machenschaften, mit welchen Riemer das Haus Mendelssohn überzog, ist nachvollziehbar. Nach dem plötzlichen Tod Abraham Mendelssohns durch einen Schlaganfall kommentiert Riemer die von ihm ausgelöste Affaire: „Was nun die Persönlichkeit Zelters anbetrifft, so habe ich mir die ganze Synagoge auf den Hals geladen, und ich glaube kaum, dass der alte Tempel das Klagegeschrei und Gequatsche aushält (…) Mendelssohns benehmen sich wunderlich genug“.11
Auch die linke Schule der Hegelianer hat antisemitische Stereotypen übernommen, um ein entsprechendes Feindbild zu kreieren. 1843 beschwört Karl Marx in seinem Essay „Zur Judenfrage“ die Macht des berechnenden Finanz- und Machtjudentums. Marx schrieb: „Welches ist der weltliche Grund des Judentums: (…) der ‚Eigennutz‘. Welches ist der weltliche Kultus des Juden? Der ‚Schacher‘. (…) sein weltlicher Gott? Das ‚Geld‘. (…)“ Die Emanzipation vom „Schacher“ und vom „Geld“, also vom praktischen, realen Judentum wäre die Selbstemanzipation unserer Zeit. „Die ‚Judenemanzipation‘ in ihrer letzten Bedeutung ist die Emanzipation des Menschen vom ‚Judentum‘.“12
7. Antisemitische Musikrezensionen
Die antisemitische Hetze drang auch in den Raum der Musikrezensionen ein. Es ist vor allem der Neid auf die künstlerische Begabung und den Erfolg, der sich mit antisemitischem Gedankengut verbindet. So schreibt der junge Richard Wagner in seiner Schrift „Das Judenthum in der Musik“ vier Jahre nach der Uraufführung des Elias: „Dieser Mendelssohn hat uns gezeigt, dass ein Jude von reichster spezifischer Tatenfülle sein, die feinste und mannigfaltigste Bildung, das gesteigertste, zartempfindende Ehrgefühl besitzen kann, ohne durch die Hilfe aller dieser Vorzüge es je ermöglichen zu können, auch nur ein einziges Mal die tiefe, Herz und Seele ergreifende Wirkung hervorzubringen, welche wir von der Kunst erwarten.“13
Wagner machte die Einstellung salonfähig, dass Juden „aufgrund ihrer Natur“ unfähig seien, wahre Kunst zu erschaffen. So wurde er zu einem der Wegbereiter für einen biologisch begründeten Antisemitismus. Seit der Beurteilung Wagners hält sich der Vorwurf der Glätte und mangelnden Tiefe gegenüber dem Werk von Mendelssohn. Eine antisemitische Polemik bestimmte auch nach seinem Tod die Auseinandersetzung mit seinem künstlerischen Schaffen. Im Januar 1850 bemängelte Dr. Eduard Krüger in der „Neuen Berliner Musikzeitung“ (NBMZ) in seiner Beurteilung der aktuell herausgegebenen „Drei Psalmen“ Op. 78, Nr. 6 posthum „sangreiche(…) Weiberstimmen“ welche in Mendelssohns Vokalwerk „rabbinisch belehrend unisonieren“ bzw. eine „in allen M’schen Werken wie eine Phrase hindurchziehende stumpfe Rhytmik, die unwiderstehlich an die Naivität rabbinischer Rezitation erinnert.“14
In der Folgezeit fügen sich in die kritischen Kommentare zu seinem Werk nahtlos die karikierenden Darstellungen jüdischer Sprache und Gesangs ein, wie sie seit Beginn der Neuzeit längst in das Bewusstsein deutscher Kultur und Lebensweise eingewandert sind und fortgeschrieben wurden.
Heinrich Eduard Jacob fasste 1958 in seinem Portrait „Felix Mendelssohn und seine Zeit“ die antisemitisch geprägte Reaktion auf diesen Künstler zusammen mit den Worten: „Musik, wie sich erwiesen hat, ist durchaus nichts unsterbliches. Aber wie jedes Zeitalter, dessen innerster Ausdruck sie ist, hat sie Anspruch auf einen natürlichen Tod. Die Musik Felix Mendelssohns ist keines natürlichen Todes gestorben. Sie wurde ermordet.“15
Mendelssohn ist bis in das letzte Jahrhundert hinein systematisch an den Rand gedrängt und vergessen worden. Andererseits fand er immer auch Verehrer und Liebhaber. Einer, der die Ambivalenz schon früh zum Ausdruck und bewusst in ein freundliches Licht getaucht hat, war Friedrich Nietzsche. Neun Jahre nachdem Mendelssohn gestorben war, schrieb er in seiner Denkschrift „Jenseits von Gut und Böse“: „Diese ganze Musik der Romantik war überdies nicht vornehm genug, nicht Musik genug, um auch anderswo Recht zu behalten als im Theater und vor der Menge; sie war von vornherein Musik zweiten Ranges, die unter wahren Musikern wenig in Betracht kam. Anders stand es mit Felix Mendelssohn, jenem halkyonischen Meister, der um seiner leichteren, reineren, beglückteren Seele willen schnell verehrt und schnell vergessen wurde: als der schönste Zwischenfall der deutschen Musik.“16
8. Zum Umgang mit den antisemitischen Anfeindungen
Nachdem Mendelssohn die Matthäuspassion von Bach wiederentdeckt und am 11. März 1829 in Berlin mit der Berliner Singakademie aufgeführt hat, sagte der 20jährige Musiker mit bitterer Selbstironie: „Was ist das für ein wunderlicher Zufall, dass es ein Judenjunge sein muss, der den Leuten die größte christliche Musik wiederbringt“.17 Man muss sich vergegenwärtigen, dass diese Wiederaufführung der krönende Abschluss von Mendelssohns Jugendjahren war. Durch den Erfolg war dem Sohn aus einer kulturell und bürgerlich hoch angesehenen Familie als Musiker symbolisch die Assimilation an die preußische Kultur gelungen. Gleichzeitig sah er seine Situation niemals als ungefährdet an. So schrieb er in einem Brief an seinen Mentor Carl-Friedrich Zelter 1832 aus Paris, dass er zukünftig auch andere europäische Musikzentren aufsuchen würde, falls er in Deutschland auf Ablehnung stoßen sollte, wenn denn „die Leute mich einmal in Deutschland nirgend mehr haben wollen, dann bleibt mir die Fremde immer noch, wo es dem Fremden leichter wird, aber ich hoffe, ich werde es nicht brauchen.“18
Nachdem Riemer über die Familie Mendelssohn in seinem Buch herzog, schrieb Felix 1841 an seinen Bruder Paul: „Lies übrigens das ganze Capitel ‚Juden‘ aus, um den Mann gehörig kennen zu lernen. Ich weiss wohl, dass der selige Vater mirs zum Gesetz gemacht hat, in keiner Weise von gedruckten Angriffen Notiz zu nehmen … aber dass einer den Namen unseres verstorbenen Vaters und unserer Ahnen auf so elende Art missbraucht, daß kann und darf ich nicht ungeahndet lassen.“19
9. Eifer und Gewalt
Mendelssohn hat sich lange Zeit vor der Entstehung des Oratoriums mit dem Propheten Elias beschäftigt. Was ihn an dieser Figur fasziniert und an dem Stoff angesprochen hat, findet sich in seiner musikalischen Auslegung wie auch in seiner Textauswahl aus Psalmen und prophetischen Texten wieder.
Felix Mendelssohn wählte als Ausgangspunkt für sein Oratorium die Auseinandersetzung mit der drohenden Vernichtung Israels. In der äußeren Bedrohung durch die aufziehende Hungersnot spricht er die existentielle Frage in aller Radikalität an: „Will denn der Herr nicht mehr Gott sein in Zion?“ (Nr. 1). Gott wendet sich gegen sein Volk: „Er wird uns verfolgen, bis er uns tötet“ (Nr. 5). Die drohende Vernichtung führt zur Unterscheidung. Gott wird sich abwenden von allen, die ihn hassen. Und er wendet sich denen in Barmherzigkeit zu, die seine Gebote halten (Nr. 5).
An dieser Stelle taucht die Frage nach einer intrinsisch angelegten Potentialität zur Gewalt auf, wie sie z.B. Jan Assmann gestellt hat: Führt der Eifer der Abgrenzung den Abweichlern eines Bündnisses (bzw. der Bindung wie es im Judentum heißt und ja auch im Ritus immer wieder neu vollzogen wird) in seiner Auswirkung zu einer gewalttätigen Einstellung und entsprechenden Handlungen nach innen und dadurch auch nach außen?20
In der Einfügung der Szene von Elia und der Witwe erweist sich für Mendelssohn die lebenserneuende Kraft einer Umkehr für alle, die sich neu auf die Weisungen Gottes einlassen: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, liebhaben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allem Vermögen“ (Nr. 8). Und der Chor antwortet auf die Ansage aus dem Sch’ma Jisrael: „Wohl dem, der den Herrn fürchtet und auf seinen Wegen geht“ (Nr. 9).
Ein weiterer Schritt im Drama zeigt sich daraufhin im Konflikt zwischen Ahab und Elias, der zu dem Wettstreit zwischen den Propheten Baals und dem Gott Israels führt. Mendelssohn breitet hier die ganze Gewalt dieses Konflikts in dramatischer Weise aus. Verhöhnende Überlegenheitsgefühle und der Wille zur Vernichtung der Feinde finden ihren musikalischen Ausdruck. Wie ein Pfeiler in der Mitte steht die monotheistische Grundhaltung, mit der das Sch’ma Jisrael ein weiteres Mal zitiert wird: „Der Herr, unser Gott, ist ein einiger Gott und es sind keine anderen Götter neben ihm“ (Nr. 16). Es kommt zur brutalen Gewalt gegen die Baalspropheten, dem das Rezitativ von Elia folgt: „Ist nicht des Herrn Wort wie ein Feuer und wie ein Hammer, der Felsen zerschlägt“ (Nr. 17).
10. Ein tröstlicher und hoffnungsvoller Ton
Der erste Teil des Oratoriums endet mit der Überwindung der Dürre und einem aufatmenden Dankesruf: „Dank sei dir, Gott, du tränkest das durst’ge Land“ (Nr. 20). Der zweite Teil beginnt erneut mit dem Bezug auf das Sch’ma Jisrael mit der Eröffnung: „Höre, Israel, höre des Herrn Stimme“. Verbunden ist hiermit die Aufforderung zum Standhalten: „So spricht der Erlöser Israels, sein Heiliger, zum Knecht, der unter den Tyrannen ist, so spricht der Herr: Ich bin euer Tröster. Weiche nicht, weiche nicht, denn ich bin dein Gott“ (Nr. 21) – worauf der Chor voller Zuversicht mit den Worten Jesajas antwortet: „Fürchte dich nicht, spricht unser Gott, fürchte dich nicht, ich bin mit dir“ (Nr. 22). Der Chorsatz führt zum Ausdruck eines problematischen Vertrauens aus Ps. 91: „ob tausend fallen zu deiner Seite und zehentausend zu deiner Rechten, so wird es dich nicht treffen“ (Nr. 22).
Im Oratorium führt uns das Vertrauensmotiv zum nächsten Schritt in dem Drama. Als Elia versucht, gegen König Ahab vorzugehen und seine Verantwortung für den Baalskult offenzulegen, schafft es die Königin, das Volk unter den Willen des Königs zu beugen und sich im Zorn gegen Elia zu erheben und ihn zu beschuldigen: „Er hat den Himmel verschlossen. Er hat teure Zeit über uns gebracht. Er ist des Todes schuldig. Tötet ihn, lasst uns ihm tun, wie er getan hat“ (Nr. 23).
Es geschieht, was oft geschieht. Wer die Schuld offenlegt, wird anschließend zum Beschuldigten erklärt. Das Volk folgt seiner Königin: „So ziehet ihn, greifet ihn, tötet ihn“ (Nr. 24). Der Prophet Obadja warnt Elia und fordert ihn auf, in die Wüste zu gehen. Dort beklagt Elia seine Wirkungslosigkeit gegenüber einem Volk, das sich nicht nur gegen ihn, sondern auch gegen seinen Gott wendet. Er ist müde und will sein Leben am Ende in Gottes Hand legen. Wenn Mendelssohn nun seinen Elias die Worte singen lässt: „Es ist genug, so nimm denn Herr meine Seele, ich bin nicht besser als meine Väter“ (Nr. 26), dann klingt dies nicht verzweifelt über ein vergebliches Mühen – nicht wie ein Ausdruck einer existentiellen Angst vor einem abgründigen Nichts, so wie es vielleicht von einem Menschen zu erwarten wäre, der sich am Ende seiner Möglichkeiten und nur noch den Tod vor Augen sieht. Mendelssohn bringt zum Ausdruck, in welch einer tiefen Erschöpfung Elias angekommen ist. Doch darin klingt eine vertrauensvolle Sehnsucht an, auch jetzt noch auf die Hilfe Gottes hoffen zu dürfen. In dieser Krise setzt sich so etwas wie eine schwebende Zuversicht durch, die ihren Ausdruck der Engel im Terzett mit Worten aus Ps. 121 findet: „Hebe deine Augen auf zu den Bergen, von welchen dir Hilfe kommt“ (Nr. 28).
Der Weg Elias ist noch nicht an sein Ende gelangt. Ein Engel empfiehlt: „Sei stille des Herrn und warte auf ihn“ (Nr. 31) und ein Chor bestärkt ihn darin: „Wer bis an das Ende beharrt, der wird selig“ (Nr. 32). Gott erweist sich dem Elia in neuer Weise. Nicht in den gewaltigen Energien der Schöpfung und ihrer Zerstörungskraft ist seine Nähe erfahrbar. „Und nach dem Feuer kam ein stilles, sanftes Säuseln. Und in dem Säuseln nahte sich der Herr“ (Nr. 34). Mit dem anschließenden Sanctus (Nr. 35) macht Mendelssohn deutlich, dass Gottes Gegenwart in einer kaum wahrnehmbaren Wirklichkeit mitten im Alltag dieser Welt erfahrbar wird, die im Glauben angenommen werden kann.
Elia, der im feurigen Wagen gen Himmel gefahren ist (Nr. 38) wird der Vermittler für eine neue Beziehung zwischen Gott und seinem Volk: „Aber einer erwacht von Mitternacht. Und er kommt vom Aufgang der Sonne“ (Nr. 41). Der Prophet, welcher einst in seinem Eifer zum Mord gegen die Gegner der Gottesvolkes aufgerufen hat, wird zum Wegbereiter für den Anbruch neuer Verhältnisse. Er steht für ein Licht der Zuversicht, die durch das fürchterliche und gewaltsame Geschehen hindurchleuchtet – eine messianische Perspektive, die auch für eine christliche Auslegung offensteht.
Dieser Linie folgt das Oratorium bis zum Schluss. Einem von Ausgrenzung, Neid und wachsender Gewalt bedrängten Menschen leuchtet eine Botschaft auf, die die dunkle Macht von Schuldzuweisungen, Verteufelungen, Verfolgung bis hin zur Vernichtung für immer durchdringt und mit neuer Hoffnung erfüllt – so elementar wie die Vision von einem neuen Himmel und einer neuen Erde. Ein Licht bricht hervor wie die Morgenröte, in der die Herrlichkeit des Herrn nicht nur für Israel, sondern für alle Völker aufscheinen wird: „Herr, unser Herrscher, wie herrlich ist dein Name in allen Landen“ (Nr. 42).
Felix Mendelssohn Bartholdy erweist sich in seinem „Elias“ als Enkel seines Großvaters. Er folgt der Einstellung von Moses Mendelssohn, die sich mit einem ihm zugeschriebenen Zitat charakterisieren lässt: „Ein jeder lebe seines Glaubens und seiner Überzeugung und liebe seinen Nächsten wie sich selber. Gott anbeten und dem Menschen wohltun, dieses ist Zweck und Ziel unseres Hierseins, unsere Bestimmung in diesem und unsere Hoffnung in jenem Leben. Alles übrige mag dahingestellt bleiben.“
Anmerkungen
1 Julius Schubring (Hrsg.), Briefwechsel zwischen Felix Mendelssohn Bartholdy und Julius Schubring, zugleich ein Beitrag zur Geschichte und Theorie des Oratoriums, Duncker & Humblot reprints 1892.
2 Ebd.
3 Dieses und nachfolgende Zitate sind entnommen aus dem Essay von Rainer Hauptmann: „‚Diese Musik wurde ermordet!‘ Felix Mendelssohn Bartholdy oder eine Geschichte kulturellen Antisemitismus im Deutschland des 19. und 20. Jahrhunderts“, Rainer Hauptmann/Die Cavallerotti – das KulturNetzWerk e.V. 1997/2005, 11, https://www.cavallerotti.de/assets/texte/projekte/mendelssohn/pdf/mendelssohn_essay.pdf.
4 A.a.O., 7.
5 A.a.O., 8.
6 Ebd.
7 Ebd.
8 A.a.O., 6.
9 A.a.O., 13.
10 Heinrich Heine, Deutschland. Ein Wintermärchen, in: Ders., Neue Gedichte, Hamburg 18441, 355.
11 Hauptmann, a.a.O., 14.
12 A.a.O., 15.
13 Richard Wagner, Das Judenthum in der Musik, zuerst veröffentlicht in der Neuen Zeitung für Musik, Leipzig 1850.
14 Hauptmann, a.a.O., 22.
15 A.a.O., 150.
16 Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft, Leipzig 18861, 245.
17 Hauptmann, a.a.O., 13.
18 A.a.O., 12.
19 A.a.O., 15.
20 Vgl. mit Rolf Schieder (Hrsg.), Die Gewalt des einen Gottes. Die Monotheismus-Debatte zwischen Jan Assmann, Micha Brumlik, Rolf Schieder, Peter Sloterdijk und anderen, Berlin 2014, 45ff.
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 3/2025