Zahlreiche Antijudaismen belasten die christliche Rezeption des Johannesevangeliums. Insbesondere die Bezeichnung der Juden als „Teufelskinder“ in Joh. 8,44 verstört. Lässt sich die Problematik exegetisch lösen? Helmut Schütz nimmt hier eine Bestandsaufnahme der Interpretationsversuche vor. In einem weiteren Aufsatz will er die Problematik befreiungstheologisch aufbereiten.
„Die Juden“ im Johannesevangelium sind nicht generell „alle Juden“
Wenn Roland Bergmeier1 in seiner Betrachtung von Joh. 1,19 in Verbindung mit 5,33 den Schluss zieht (RB45), „dass sich aus der verallgemeinernden Rede von den Juden im Johannesevangelium nicht schon ein antijudaistischer Zug erkennen lasse“, so ist ihm insofern grundsätzlich zuzustimmen, als der Evangelist hier tatsächlich nicht wie in 4,9 das gesamte Volk der Juden (bzw. der Judäer im Unterschied zu den Samaritanern) im Blick hat, sondern lediglich die konkrete Gruppierung von Juden, mit denen Johannes oder Jesus es jeweils zu tun hat.
Abschließend stellt Bergmeier als Pointe seiner vorigen Beweisführung in aller Kürze heraus (RB46), dass auch „im Fall von Joh. 8 die Sache unzweideutig so liegt, dass ‚die Juden‘ da nicht generell oder als solche zu Teufelskindern erklärt werden, was in der Tat ‚johanneischen Antijudaismus‘ belegen würde.“ Aber wer sind die „Teufelskinder“, wenn nicht alle Juden, „sondern diejenigen, von denen im Kontext der aktuellen Erzählung die Rede ist“, die von Jesus so angeredet werden? Dazu bringt Bergmeier lediglich zustimmend ein Zitat von Udo Schnelle2: „Wer die Worte Gottes in der Offenbarung Jesu hört, zeugt damit von seiner Herkunft aus Gott, umgekehrt gibt sich im Nicht-Hören des Unglaubens die Herkunft vom Teufel zu erkennen.“
Im Klartext bedeutet das: Zwar sind nach Schnelle und ihm folgend Bergmeier in den Augen des Johannesevangelisten nicht alle Juden nur deswegen, weil sie Juden sind, Teufelskinder. Aber sobald Juden sich dem Bekenntnis zu Jesus als dem Sohn Gottes verweigern, hören sie auf, Kinder Gottes zu sein, sondern erweisen sich als Kinder des Teufels. M.a.W.: Allein der Nachweis, dass mit der Formulierung „die Juden“ im Johannesevangelium nicht generell alle Juden gemeint sind, reicht nicht aus, um das Johannesevangelium vom Vorwurf des Antijudaismus zu entlasten.
Sind Juden, die nicht an Jesus als den Sohn Gottes glauben, Kinder des Teufels?
Als Martin Leutzsch3 sich im Jahr 2007 mit der Problematik der Übersetzung von Joh. 8,44 auseinandersetzte, kam er unter anderem (ML3) auf die kanadische Religionswissenschaftlerin Adele Reinhartz zu sprechen, die „ein ganzes Buch der Frage gewidmet [hat], ob sie als Jüdin mit dem Verfasser des vierten Evangeliums Freundschaft schließen könne. Der drittletzte Satz dieses Buches unterstreicht, weshalb Reinhartz ihre Beziehung zum vierten Evangelisten auch nach langer und intensiver Begegnung nicht als Freundschaft begreifen kann: ‚Noch immer verlässt mich jedes Mal der Mut, wenn ich das Johannesevangelium im 8. Kapitel öffne und in Vers 44 lese, dass die Jüdinnen und Juden den Teufel zum Vater haben.‘4“
Unter Verweis auf den letzten Satz dieses Buches meint Leutzsch sagen zu können, „dass das für sie nicht Beziehungsabbruch zur Folge hat“: „Trotz der Kluft zwischen unseren Weltbildern und ethischen Empfindsamkeiten freue ich mich auf künftige Begegnungen mit dem Geliebten Jünger und auf weiterführende Gespräche.“5
In einem weiteren Buch zum Johannesevangelium6 hat Adele Reinhartz jedoch im Jahr 2018 klargestellt, dass der vierte Evangelist sich in ihren Augen tatsächlich zum Ziel gesetzt hat, die Juden samt und sonders als „Aus dem Bund ausgeschlossen“ zu betrachten. Zu Joh. 8,44 bemerkt sie ausdrücklich: „Indem Johannes den Teufel als Vater derIoudaioi identifiziert …, so wie er Gott als Vater Jesu identifiziert hat …, [begründet er] die Grenze, die Johannes zwischen seinen Zuhörern und den Ioudaioi zieht. Diejenigen, die zur Gruppe der Auserwählten gehören, gehören sozial und sogar organisch, d.h. durch göttliche Zeugung, zu den Kindern Gottes. Diejenigen, die nicht dazugehören, mögen zwar behaupten, göttlich gezeugt zu sein, sind aber in Wirklichkeit Kinder des Teufels, wie ihr Verhalten gegenüber Jesus, dem Sohn Gottes, zeigt.“7
Kritische Distanzierung vom tatsächlichen Antijudaismus des vierten Evangelisten
Martin Leutzsch erwägt in seinem Aufsatz verschiedene Möglichkeiten, mit Joh. 8,44 umzugehen. Einige davon laufen darauf hinaus, die antijüdische Haltung des Evangeliums als gegeben zu konstatieren, sich jedoch in seiner Übersetzung von ihr zu distanzieren, sei es (ML9-10) durch relativierende Bemerkungen oder (ML8) durch ausdrückliche Kritik, wie sie von Reformatoren etwa an Hebr. 10,26 oder Jak. 2,20 geübt wurde, und die (ML15-16) in Vorworten, Randbemerkungen oder Klammern zum Ausdruck kommen könnten – bis hin (ML7) zu der radikalen Entscheidung, den Vers einfach wegzulassen (ML6) oder unübersetzt abzudrucken.
Beispielhaft verweist Leutzsch (ML14) auf eine niederländische Bibelübersetzung aus dem Jahr 2005, die in einer Einleitung zum Evangelium „das johanneische Image des Judentums in den mutmaßlichen historischen Kontext zu stellen“ versucht: „Ein auffälliger Aspekt des Johannesevangeliums ist, dass die Juden in einigen Passagen eher negativ dargestellt werden. Einige argumentieren, dass sich diese Passagen speziell auf jüdische Führer beziehen. Andere sehen sie als Ausdruck der sich verschlechternden Beziehungen zwischen Juden und Christen am Ende des ersten Jahrhunderts. Wieder andere betonen, dass sich die Diskussionen zwischen ‚den Juden‘ und Jesus im Evangelium oft auf Diskussionen zwischen verschiedenen Gruppen von Christen zur Zeit der Entstehung des Evangeliums beziehen.“8
Fragwürdige Historisierungsversuche seitens der Exegeten
Nach Gerd Theißen9 hat ein solches „Verfahren der Historisierung“ jedoch Grenzen: „Eine solche Historisierung des neutestamentlichen Antijudaismus ist notwendig, aber befriedigt nicht: Denn man kann alle Aussagen der Bibel historisieren, d.h. im Rahmen konkreter geschichtlicher Situationen verständlich machen und so relativieren. Es wäre ein unzulässiger opportunistischer Gebrauch historischer Methodik, wenn man mit ihr nur Aussagen relativiert, die einem nicht zusagen, andere aber trotz derselben historischen Relativität als gültig akzeptiert.“
Klaus Wengst10 hält (KW280) die „äußerste und äußerst arge Zuspitzung, die ‚die Juden‘ zu Kindern des Teufels erklärt“, zwar für verständlich, denn (KW 281) die „als bedrückend empfundene Erfahrung, abgedrängt zu werden, führt zur Verteufelung derer, von denen man sich verleumdet und bedroht fühlt.“ Grundsätzlich nachvollziehbar ist ihm zufolge (KW282) vor dem Hintergrund von Weish. 2,24 als einer Deutung von 1. Mos. 3 auch die nähere Beschreibung des Teufels als „Mörder von Anfang an“, der „seinen Stand nicht in der Wahrheit“ hat, sondern in der Lüge. Bei alldem darf jedoch (KW 283) „nicht vergessen werden, dass Johannes hier nicht allgemein über ‚den Teufel‘ oder ‚das Böse‘ reflektiert, sondern bezogen auf eine bestimmte Situation lässt er Jesus zu einem bestimmten Gegenüber sprechen, das er damit verteufelt. In dieser gewiss als bedrückend erfahrenen Situation werden ‚Wahrheit‘ und ‚Leben‘ exklusiv für die eigene Position beansprucht, sodass für die Gegenseite nur ‚Mord‘ und ‚Lüge‘ bleiben. Man kann so V. 44 aus seiner Entstehungssituation heraus verstehen, aber seine Aussagen werden damit nicht zu unschuldigen. Sie sind es erst recht nicht, wenn sie in der Auslegungsgeschichte nachgesprochen werden. Es ist m.E. verfehlt, V. 44 irgendeinen positiven Sinn abgewinnen zu wollen. Auf der Textebene stehen Jesus ‚die Juden‘ gegenüber. Wie immer anders sie man deutet – sie müssen als Repräsentanten für etwas Negatives dienen; und dieses Negative wird auf die konkret existierenden Juden durchschlagen.“
Redet Jesus in Joh. 8,44 Christen und nicht Juden an, die den Teufel zum Vater haben?
Nur am Rande erwähnt Wengst (KW281) einen „bemerkenswerte[n] Umgang mit diesem Text“ bei Origines, der die Aussage von Joh. 8,44 auf „uns“, also auf die zum Glauben an Jesus gekommenen Christen bezieht. Ähnlich argumentiert auch Martin Leutzsch (ML9), „dass Joh 8,44 im Kontext von Joh 8 keineswegs pauschal an alle Juden und Jüdinnen gerichtet ist, sondern genau an solche, die zum Glauben an Jesus gekommen waren (Joh 8,30f.). Ihnen gegenüber thematisiert der Jesus des Joh die Teufelskindschaft“. Als Parallele dazu verweist Leutzsch (ML10) auf Mt. 16,23 bzw. Mk. 8,33, wo Jesus „den Juden Petrus“, der „Jesus als Messias bekennt, aber die Leidensankündigung dieses Messias nicht akzeptieren will“, aufgrund dieser Weigerung „als ‚Satan‘ bezeichnet“.
Eingehender verfolgt diesen Gedanken der evangelikale Theologe Ulrich Wendel,11 indem er davon ausgeht (UW131), dass im Johannesevangelium „der einmal gewonnene Glaube an Christus sich sofort vertiefen muss“. Als Beleg dafür verweist er unter anderem (UW132) auf die Jünger Jesu, die bereits „Glaubende“ sind, doch nach Joh. 15,7f müssen sie „offenbar erst noch Jünger werden, und zwar indem sie Frucht bringen, indem sie in Jesus bleiben und indem umgekehrt seine Worte in ihnen bleiben.“ Auch dem wahrhaftigen Israeliten Nathanael bescheinigt Jesus (1,50) „ein sachgemäßes und vorbildliches Christusbekenntnis …, aber er drängt auf mehr“, nämlich „auf ein Größeres“. In diesem Zusammenhang führt Wendel (UW133) als „Schlüsselszene“ Joh. 6,60-71 an, denn hier ist von Jüngern die Rede, die nicht „glauben“, weil „sie dem Anspruch von Jesu Worten nicht standhalten und nicht bei ihnen bzw. bei Jesusbleiben“. Der Jünger Judas gilt in diesem Zusammenhang (6,70) nicht nur „als vom Teufel abstammend, sondern selbst als Teufel (6,70)“.
Von diesem Ausgangspunkt her, dass einer, der in Joh. 13,18 „nicht aus der Zahl der Erwählten herausgerechnet“ wird, dennoch „zum Verräter wird“, und zwar (UW134) zugleich „eigenverantwortlich“ und „als ein vom Satan Bewohnter“, geht Wendel an die Auslegung von Joh. 8,44 heran: „Judas ist eine Schlüsselfigur für die binnenchristliche Tragik, dass ein Nachfolger Jesu Jesus preisgeben kann und so als Teufel agieren kann. Judas ist kein Paradigma für ‚den Juden‘ (man beachte, dass bei Johannes vielmehr Jesus klar ‚Jude‘ genannt wird [vgl. Joh 4,9 …] und dass Jesus ‚wir Juden‘ sagen kann [Joh 4,22 …]). Judas ist ein Paradigma für den ‚Christen‘, der nicht bei Jesus bleibt und sein Jüngersein nicht im je neuen Jüngerwerden, auch angesichts satanischen Angriffs, bewährt.“
Aufgrund (ML135) „des zweistufigen Glaubensverständnisses und dem Beispiel des Judas, in dem Teufel und Eigenes ineinander liegen“, will Wendel das Wort kai, „und“, im ersten Satz von Joh. 8,44 mit einem näher erläuternden „und zwar“ übersetzen: „Ihr habt den Teufel zum Vater, und zwar wollt ihr das tun, wonach es euren Vater verlangt.“ Da allerdings nach Joh. 12,31 und 16,11 „der Teufel entmachtet … und gerichtet ist“, gilt (UW136) auf jeden Fall „von den tatsächlich angeredeten Glaubenden, die nach 8,44 de facto die Bestrebungen des Teufels willentlich praktizieren“, dass „die Wirkung des Teufels limitiert ist. … Dass jemand den Teufel zum Vater hat, kann kein letztes Wort über den Betreffenden sein.“
Für die in Joh. 8,31ff angesprochenen Christen sieht Wendel eine „bleibende Herausforderung“ in dreifacher Hinsicht (UW137). Erstens: „Wer seinen Jesusglauben nicht sofort vertieft, wird ihn verlieren.“ Zweitens: „Zweifellose Heilsgewissheit gibt es jedenfalls für den, der sein Jüngersein bewährt, indem er je neu Jünger wird.“ Und drittens (UW138): „Wer Jesu Wort keinen Raum gibt (8,31b.37), wer die Herkunft von Abraham nicht im Leben widerspiegelt (8,39f.), wer seine Freiheit durch praktizierte Sünde verspielt (8,34-36), wer die Bestrebungen des Teufels ausüben will (8,44), der erweist schließlich, dass er in der Sphäre des Teufels lebt.“
Die Frage ist aber, ob dieser Weg, den Wendel beschreitet, um für Joh. 8,44 „einen positiven Sinn zu erschließen“,12wirklich dazu geeignet ist (UW137f), „die fatalen, auch unbewussten antijüdischen Verstehensmöglichkeiten“ in zureichendem Maße „mitzubedenken“. Zwar ist dieser Vers ihm zufolge (UW136) keine Aussage über Juden, sondern über Christen: „Nicht die Juden haben den Teufel zum Vater.“ Aber die hier angesprochenen „Christen“ sind dennoch eine Teilmenge aller Juden, nämlich derjenigen, die „sich Jesus nicht verschließen, sondern an ihn glauben“. Für sie steht beispielhaft Nathanael: Sie „zeigen sich als wahre Israeliten und kommen zum Glauben.“ Es bleibt also dabei, dass auch Wendels Auslegung wie die oben von Bergmeier zitierte Haltung Schnelles darauf hinausläuft, dass Juden, die ihren Glauben an Jesus verlieren, indem sie ihn nicht vertiefen, auch ihre angestammte Gotteskindschaft als Juden verlieren und sich als Teufelskinder erweisen.
Wie die „Bibel in gerechter Sprache“ mit Joh. 8,44 umgeht
Als Alternative zur Verwerfung des Antijudaismus im Johannesevangelium oder dessen innerchristlicher Umdeutung, als ob in Joh. 8,44 nicht ausdrücklich Juden angesprochen würden, die sich einem (vertieften) Vertrauen auf Jesus verweigern, erwägt Martin Leutzsch die Möglichkeit, zu verdeutlichen (ML10), „dass das Joh eine jüdische Schrift ist und sein negatives Judenimage eine jüdische Position darstellt“. So heben in der „Bibel in gerechter Sprache“ (BigS)13die Übersetzerinnen des Johannesevangeliums, Judith Hartenstein und Silke Petersen, in einem Vorwort hervor, „dass die judentumskritische Polemik Ausdruck von Nähe ist: Die Auseinandersetzungen im Evangelium sind innerjüdische Debatten. Erst wenn es heute in einem christlichen Kontext gelesen wird, wird Jesu jüdische Position als christlich angeeignet und die ,andere‘, jüdische Position abgespalten.“ Offen bleibt allerdings die Frage, worüber genau hier innerjüdisch gestritten wird und welche Positionen jüdischer Gruppierungen unversöhnlich aufeinanderprallen.
Mit Joh. 8,44 geht die BigS nach Leutzsch folgendermaßen um: „Die Übersetzung von V. 44a (‚Ihr kommt vom Teufel als Vater her‘) wird durch drei Verweise ergänzt. Ein Stellenverweis auf Joh 4,22 dient dazu, dass es im Joh eine positive Spitzenaussage zum Judentum gibt14. Der Glossarverweis zu ‚Teufel‘ bietet die Möglichkeit, im entsprechenden Artikel diabolos [BigS 2343-2345 (Jürgen Ebach)] die Komplexität und Problematik der biblischen Teufelsfigur zur Kenntnis zu nehmen. Entsprechendes gilt für den Verweis auf pater bei ‚Vater‘ [BigS 2375f (Martin Leutzsch)]. Wer die Übersetzung von V. 44 weiter liest, entdeckt, dass das Wort pater im Ausgangstext noch ein zweites Mal vorkommt und nun mit ‚Ursprung‘ übersetzt wird – ein Wink, dass auch das Stichwort ‚Vater‘ zu Beginn des Verses nicht biologistisch (oder geschlechtlich determiniert) verstanden zu werden braucht.“
Inhaltlich weiterführend ist hier der Hinweis auf „die Komplexität und Problematik der biblischen Teufelsfigur“, denn die bisher besprochenen Auslegungen von Joh. 8,44 haben die Frage nach der Bedeutung der Worte diabolos bzw. satanas im innerbiblischen Kontext gar nicht gestellt. Nach Jürgen Ebachs Erläuterung im Glossar der BigS (2343) ist der griechische diabolos wörtlich „eine Größe, die ‚etwas auseinander bringt‘, ‚sich dazwischen drängt‘“, während das „hebr. Verb satan zunächst die allgemeine Bedeutung ‚sich jmd. entgegenstellen‘, ‚anfeinden‘“ hat. Die uns vertraute Vorstellung vom Teufel oder Satan als absolutem Gegenspieler Gottes entsteht Ebach zufolge erst im Zuge einer sehr langen Entwicklung als „Denkmodell“ zur Bewältigung der Frage, wie „sich der Glaube an Gottes Gerechtigkeit und Güte … mit der Erfahrung des Leidens und der Realität des Bösen vereinbaren“ lässt, nämlich: „es gebe eine Macht, die sich feindlich zwischen Gottes Plan und dessen Verwirklichung drängt.“ Nirgends in der Bibel wird ein solcher Teufel jedoch als „eigenmächtiger, gar gleich mächtiger Gegenspieler Gottes“ verstanden. Dass die Macht des Teufels, Satans, Fürsten dieser Welt nach dem Johannesevangelium begrenzt ist, hatte auch schon Ulrich Wendel betont.
Als selbstverständlich wird jedoch offenbar auch vom Übersetzerteam der BigS vorausgesetzt, dass Johannes unter dem diabolos, satanas bzw. archōn tou kosmou toutou eine überweltliche Macht versteht, unter deren Einfluss die jüdischen Gegner des Juden Jesus geraten. Nur am Rande erwähnt Ebach (2344), und zwar nicht im Blick auf das Johannesevangelium, sondern auf die Versuchungsgeschichten Jesu nach Matthäus, Markus und Lukas, dass „sich in jener ‚diabolischen Macht‘ (Lk 8,12) mindestens auch die Macht des römischen Kaisers“ verkörpert, denn „wer sonst könnte Jesus alle Weltreiche anbieten?“
Ist der zweite nizänische Glaubensartikel im Respekt vor den Juden aufzugeben?
Vielleicht ist auch ein radikaler Vorschlag erwähnenswert, das Antijudaismus-Problem nicht nur bei Johannes, sondern für das NT, ja, sogar das Christentum insgesamt, zu lösen. Dieter Michaelis hat ihn im DPfBl vorgebracht,15 indem er die Christenheit dazu auffordert, den Glauben an Jesus als den „Messias der Juden“ und als „unseren Herrn“, der „an die Stelle Gottes“ tritt und ihn „verdrängt“, aufzugeben: „Wenn die Christen es grundsätzlich ernst meinen mit ihrem Nein zum Antisemitismus, dann müssen sie sich vom zweiten Artikel des Nicänums trennen. Er ist ein Horror für gläubige Juden.“
Unklar ist mir, was an einem praktisch auf den ersten Glaubensartikel reduzierten Gottesglauben christlich sein soll. Michaelis scheint ein Glaube an den Gott Israels gemäß dem Sch’ma Jisrael (5. Mos. 6,4-9) vorzuschweben, mit dem der „Heilige Geist“ identisch ist; allerdings abstrahiert der erste Glaubensartikel mit seiner Reduzierung der Eigenschaften Gottes auf seine Väterlichkeit, Allmacht und Schöpferkraft von jedem konkreten Bezug auf seine Herkunft aus der jüdischen Tradition.
Um unsere christliche Identität ernst zu nehmen, ohne den mit ihr verstrickten Antijudaismus aufrechtzuerhalten, ist ein Umgang mit dem Glaubensbekenntnis in umgekehrter Richtung viel angebrachter. Der Glaube an Gott als Vater und Schöpfer in der Allmacht seiner Liebe ist vom befreienden Namen des Gottes Israels her zu füllen. Ebenso ist das Vertrauen auf Jesus als unseren Herrn angemessen nur zu begreifen von den jüdischen Wurzeln der ihn als Messias bekennenden Schriften her, die wir das NT nennen. Wir haben nicht zu viele Glaubensartikel, sondern einen zu wenig, der auf Israel bezogen unsere Herkunft kenntlich machen würde.16
Das heißt: Entgegen der von Michaelis vertretenen Auffassung enthält das Nicänum nicht einfach nur „Reste“ eines „mythologischen Fühlens und Denkens“, im Rahmen derer Jesus als ein mit Romulus vergleichbarer „Halbgott“ verstanden werden muss, der am Ende „zum Höchsten im Götterhimmel, ja zum Schöpfer des Alls“ aufsteigt. Vielmehr versuchten die griechisch denkenden Theologen auf dem Konzil von Nizäa etwas festzuhalten und „auf den Begriff zu bringen“, was der hebräisch denkende Evangelist Johannes als „Einheit“ verstand, nämlich das Verhältnis des einen Gottes Israels zu Jesus als dem von ihm in die Welt gesandten Sohn: „Der Messias ist nicht etwas anderes als der VATER, er bringt keine neue und andere Religion.“
Diese Einschätzung des Nicänums als eines dogmatischen Versuchs, die in den Evangelien jüdisch verstandene Einheit des Messias Jesus mit dem Gott Israels auf den griechisch-philosophischen Begriff zu bringen, stammt von dem sowohl in der akademischen Theologie als auch in der evangelischen Pfarrerschaft weithin unbekannten biblischen Theologen Ton Veerkamp17. Ich halte es für sinnvoll, seinen Beitrag zur Auslegung des Johannesevangeliums der Vergessenheit zu entreißen. In seinen Augen ist die Auseinandersetzung um Jesus als den Messias zunächst ein innerjüdischer Streit, in dem es nicht um ewiges Heil in einem jenseitigen Himmel geht, sondern befreiungstheologisch um die Suche nach Wegen, wie diese von Krieg und Unterdrückung zerrissene Erde unter dem Himmel Gottes anders werden kann.
Anmerkungen
1 Roland Bergmeier, Die Rede von „den Juden“ im Johannesevangelium. Einige Anmerkungen zur johanneischen Täuferperikope, in: DPfBl 1/2024, 45-47. Auf jeweils folgende Zitate aus mehrfach angeführten Werken in diesem Aufsatz verweise ich durch in runden Klammern angegebene Seitenzahlen mit den vorangestellten Initialen des jeweiligen Autors bzw. der Autorin, in diesem Fall „RB“.
2 Udo Schnelle, Das Evangelium nach Johannes (ThHK 4), Leipzig 1998, 212.
3 Martin Leutzsch, Umgang mit Antijudaismus im Neuen Testament nach der Shoah: Am Beispiel von Joh 8,44 (Stand 12.6.07) heruntergeladen von www.bibel-in-gerechter-sprache.de.
4 Leutzsch zitiert an dieser Stelle Adele Reinhartz, Befriending the Beloved Disciple. A Jewish Reading of the Gospel of John, New York/London 2005, 167: „My heart still sinks every time I open the Gospel of John to 8:44 and read that the Jews have the devil as their father.“ Ich zitiere nach der Übersetzung von Esther Kobel: Adele Reinhartz, Freundschaft mit dem Geliebten Jünger. Eine jüdische Lektüre des Johannesevangeliums, Zürich 2005. Vgl. meine Buchbesprechung: https://bibelwelt.de/freundschaft-mit-adele-reinhartz.
5 Im kanadischen Original lautet der Satz von Reinhartz: „Despite the gap in worldview and in ethical sensibilities, I look forward to future meetings with the Beloved Disciple, and to ongoing conversation.”
6 Adele Reinhartz, Cast Out of the Covenant. Jews and Anti-Judaism in the Gospel of John, Lanham 2018. Vgl. meine Buchbesprechung: https://bibelwelt.de/befreiung-israel.
7 So der von mir übersetzte englische Text ebd., 78f: „In identifying the devil as the father of the Ioudaioi, John is drawing on the Aristotelian theory of epigenesis, just as he did in identifying God as the father of Jesus. Epigenesis, therefore, provides not only a background against which to understand the Word’s entry into the world, but also a rationale for the boundary that John draws between his audience and the Ioudaioi. Those within the elect group belong socially and even organically, that is, by means of divine generation, to the children of God. Those outside, though they may {79} claim to be divinely begotten, are in fact children of the devil, as evidenced by their behavior towards Jesus, the Son of God.“
8 So ein von mir übersetztes Zitat, das Leutzsch der niederländischen Bijbel met deuterokanonieke boeken (2005) Heerenveen/’s-Hertogenbosch 2. Aufl. entnimmt: „Een opvallend aspect van het Johannes-evangelie is dat in sommige passages Joden tamelijk negatief afgeschilderd worden. Sommigen stellen dat deze passages in het bijzonder betrekking hebben op Joodse leiders. Anderen zien ze als een weerspiegeling van de verslechterde verhouding tussen Joden en christenen aan het eind van de eerste eeuw. Weer anderen onderstrepen dat discussies tussen ,de Joden‘ en Jezus in het evangelie vaak verwijzen naar discussies tussen verschillende groepen christenen in de tijd waarin het evangelie ontstond.“
9 Gerd Theißen, Aporien im Umgang mit den Antijudaismen des Neuen Testaments. In: Erhard Blum/Christian Macholz/Ekkehard J. Stegemann eds., Die Hebräische Bibel und ihre zweifache Nachgeschichte. Festschrift für Rolf Rendtorff zum 65. Geburtstag, Neukirchen-Vluyn 1990, 535-553, hier 546.
10 Der Johanneskommentar von Wengst bestand ursprünglich aus zwei Bänden und erschien in 1. Auflage 2000 und 2001 (2. Auflage 2004/2007). Ich zitiere ihn nach der stark gekürzten einbändigen Neuausgabe Klaus Wengst, Das Johannesevangelium, Stuttgart 2019.
11 Ulrich Wendel, Wer hat den Teufel zum Vater? Ein Versuch über Joh 8,44, in: Jahrbuch für Evangelikale Theologie 21(2007), 127-139, veröffentlicht vom „Arbeitskreis für evangelikale Theologie“ unter https://www.afet.de/wp-content/uploads/2023/01/Wendel2007.pdf. Die im Folgenden in runden Klammern angegebenen Seitenzahlen mit vorangestelltem „UW“ beziehen sich auf die jeweils folgenden Zitate aus diesem Buch.
12 Damit wendet sich Wendel (UW137, Anm. 28) ausdrücklich gegen Klaus Wengst, Das Johannesevangelium 1, ThKNT 4,1, Stuttgart, 2. Aufl., 2000, 338f, der solche Versuche für „verfehlt“ hält.
13 Bail, Ulrike/Crüsemann, Frank/Crüsemann, Marlene/Domay, Erhard/Ebach, Jürgen/Janssen, Claudia/Köhler, Hanne/Kuhlmann, Helga/Leutzsch, Martin/Schottroff, Luise (Hrsg.), Bibel in gerechter Sprache, Gütersloh, 3. Aufl. 2007, 1982.
14 Leutzsch erläutert dazu in seiner Anm. 98 die Übersetzung von Joh. 4,22 durch Hartenstein und Petersen: „Die Erlösung kommt durch das Judentum.“ Warum die traditionelle Wiedergabe von sōtēriamit „Heil“ durch „Erlösung“ ersetzt wird, statt „Befreiung“ zu erwägen, lasse ich hier dahingestellt. Problematisch erscheint mir für eine Schrift aus einer Zeit, in der es noch kein als eigenständige Religion vom Judentum abgegrenztes Christentum gab, die Übertragung von ek tōn Ioudaiōn mit „durch das Judentum“.
15 Leserbrief im DPfBl 12/2023, 766f, von Dieter Michaelis zu: „2025 – Ein Jahr mit dem ersten gesamtchristlichen Bekenntnis“ von Hans-Georg Link u.a., DPfBl 9/2023, 585f: „Vom zweiten Artikel des Nizänums müssen wir uns trennen“.
16 Vgl. dazu meine Predigtreihe zum Apostolischen Glaubensbekenntnis in den Sommerferien 2013 (https://bibelwelt.de/glaubensbekenntnis/), in deren Rahmen ich neben dem Glauben an Gott, den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist, auch auf den fehlenden Glaubensartikel „Ich glaube an den Gott Israels“ (https://bibelwelt.de/gott-israels/) einging, ohne den der Wurzelgrund des christlichen Glaubens im Dunkeln bleiben musste.
17 Vgl. Ton Veerkamp, Die Welt anders. Politische Geschichte der Großen Erzählung, Berlin 2013. Vgl. dazu meine Zusammenfassung von Veerkamps Einschätzung der Bedeutung des Konzils von Nizäa (https://bibelwelt.de/die-welt-anders/#konzile) (die Seitenzahlen in Klammern verweisen auf die jeweils folgenden Zitate aus dem o.g. Buch): Das Christentum (397) hat im 4. und 5. Jh. „die Einheit aller Menschen im Reich zu repräsentieren“; daher muss seine „Lehre widerspruchsfrei gemacht werden. Der Staat hatte bei der Formulierung ein wichtiges Wort mitzureden“. Das Grundproblem, (399) um das es auf dem Konzil von Nizäa geht, ist nach Veerkamp, wie man die Szene, die das Markusevangelium bei „der Taufe des Messias im Jordan“ schildert, „verbindlich zu denken“ hat, also wie verhält sich der eine „Gott Israels (‚Vater‘)“ zu (400) „dem Gott der messianischen Gemeinden (‚Sohn‘)“. Origenes (185-245) hatte Jesus als göttliches Geschöpf oder als zweiten Gott bezeichnet. Für den Priester Arius „war der ‚Sohn‘ ein Geschöpf, ein bloßes Instrument, als Erstes geschaffen, um durch ihn die weitere Schöpfung ins Dasein zu rufen.“ Da Konstantin den Arianismus im Osten als Bedrohung der Einheit des Reiches ansieht, „rief er zu einer allgemeinen Synode in Nizäa“ auf. Dort wird 325 festgelegt: „Wir glauben an den einen Gott, Vater Allbeherrscher … Und an den einen Herrn Jesus Christus, gezeugt als Einziggeborener aus dem Vater …, wesensgleich dem Vater …“. (402) „Die Vorstellung der ousia, nach der es nur ein höchstes Wesen gibt, das immer und überall existiert, bestätigte die monarchische Struktur der Politik im Kolonat: eine Zentrale, eine Autorität, ein Gott.“ Aber nach der „‚Trinitätstheologie‘ des Johannes“ gilt: „Der Messias ist nicht etwas anderes als der VATER, er bringt keine neue und andere Religion. … Diese Einheit versuchten die Theologen auf den Begriff zu bringen.“
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 3/2025