Worin besteht der Unterschied zwischen einem Wildgarten und einem geordneten Schrebergarten? Im Schrebergarten hat alles seinen Platz: die Tomaten, das Gemüse der Rasen und die Brombeersträucher … Wenn etwas an der falschen Stelle wächst, dann reißt der fleißige Gärtner es aus und bewertet es als „Unkraut“. Anders ist es in einem Wildgarten: Da wird zwar auch manches gesät, aber es wachsen auch unerwartet Pflanzen an Stellen, wo sie gar nicht eingeplant waren. Und statt sie dann auszureißen, freut sich der Wildgärtner daran und lässt sich überraschen von dem, was da plötzlich so prächtig blüht.
In den Gemeindeaufbau-Seminaren, die ich in den letzten Jahrzehnten besucht habe, war es üblich, dass man eine Vision davon hatte, wie die Gemeinde Gottes aussehen soll. Aus dieser Vision wurden „top down“ Zwischenziele und Arbeitsschritte abgeleitet. Das ist die „Methode Schrebergarten“. Ein weltliches Unternehmen geht ähnlich vor. Es werden messbare Ziele gesetzt und überprüft. So ähnlich wurde es dann für die kirchliche Praxis übernommen.
Modell Wildgarten
In der Bibel liest man aber auch andere Geschichten: Jesus erzählt im Gleichnis vom Sämann, dass Gott wie ein unvernünftiger Landwirt ist, der seinen Samen überall hinwirft und sich überraschen lässt, wo er aufgeht (Mt. 13,3ff). Und der Apostel Paulus erinnert daran, dass nicht unsere Gärtnerei das Entscheidende ist, sondern Gott, der das Wachstum zu allem gibt (1. Kor. 3,7). Unser Bekenntnis (CA 5) sagt ausdrücklich: Der Glaube entsteht dort, „wann und wo es Gott gefällt!“ Der Geist weht, wo er will, nicht, wo wir wollen. Gott ist immer gut für Überraschungen. Und diesen Eigenwillen Gottes beim Bau seiner Gemeinde müssen wir wahrnehmen und ihm folgen.
Anscheinend ist Gott mehr ein Wildgärtner und unsere Aufgabe besteht nicht darin, wie ich es gelernt hatte, das Wachstum zu planen und herbeizuorganisieren, sondern vielmehr darin, staunend zu schauen, was Gott unerwartet wachsen lässt und dann dieses Wachstum zu fördern, zu stärken und zu schützen!
Ich wurde zum Umdenken gezwungen durch das, was Gott in den letzten Jahren in der Gemeinde am Lutherhaus in Jena getan hat: Lauter lebendige Arbeitszweige sind entstanden, die niemand von langer Hand geplant hatte. Dazu gehört u.a. die Pfadfinderarbeit oder das Produktionsteam, das unsere Online-Präsenz mitverantwortet. Ebenso gibt es den „Frauenladen“, der ein großartiges Forum zur Begegnung bietet, besonders auch für Menschen, die bisher keinen Kontakt zur Gemeinde hatten. Eine Christin hat die „Woche der Begegnung“ erfunden, um die verschiedenen Kreise miteinander zu vernetzen.
Das sind alles prächtige Pflanzen! Sie haben eines gemeinsam, woraus man eine Regel ableiten kann: Immer ist es ein einzelner Mensch, dem Gott eine Idee und eine Leidenschaft ins Herz gibt, die er dann zum Wohl der ganzen Gemeinde verwirklicht. Er hat mit seiner Begeisterung andere angesteckt, und daraus ist diese Pflanze gewachsen, ohne dass ein Pfarrer oder Superintendent oder sonst jemand es gewollt oder finanziert hätte. Gemeindewachstum entsteht anscheinend nicht nur durch absichtsvoll herbeigeführte Planungen und Strategien von oben, sondern es wächst von unten durch die Leidenschaft für eine gute Sache, die der Heilige Geist einzelnen Christen ins Herz gibt. Die Frage ist, ob sie den Raum bekommen, in dem ihre Leidenschaft sich entfalten kann?
Motivation ist die höchste Währung der Kirche
Von der Leitung braucht es Mut zum Risiko, wie ihn der Rat des Gamaliel beschreibt: Wenn es von Gott ist, wird es unaufhaltsam wachsen, wenn nicht, wird es von allein eingehen (Apg. 5,38). Aber zuerst müssen Leute da sein, die für eine Sache brennen, die nicht auf die Uhr schauen, die nicht nach Gehalt fragen oder nach Vorschriften, sondern Leidenschaft für Menschen haben und dafür, wie die Liebe Christi Gestalt gewinnt. Motivation ist die höchste Währung der Kirche. Wenn jemand für ein Sache brennt, dann kann Großes daraus entstehen. Jesus sagt: „Ich bin gekommen, um ein Feuer auf Erden anzuzünden, was wollte ich lieber als brennte es schon!“ (Lk. 12,49).
Trotzdem ist Leitung nicht überflüssig. Bei uns konnte so viel wachsen, weil die bisherige Leitung eine Atmosphäre gefördert hat, die solche Eigeninitiativen begünstigt hat. Es kommt also darauf an, den Boden zu bereiten und den Zaun zu ziehen, damit der Wildgarten gute Wachstumsbedingungen hat.
Wie kann eine Gemeinde- und Kirchenleitung so eine Wachstumsatmosphäre herstellen: Es beginnt mit dem Zutrauen zu den mündigen Gemeindegliedern. Sie müssen wissen, dass ihre Initiative und Eigenverantwortung gewollt ist und Raum bekommt. Es braucht einen klaren Rahmen, wofür Gemeinde da ist und wofür nicht: wir machen nicht jede beliebige Veranstaltung, sondern nur das, was dem Glauben und der Liebe dient. Wenn jemand eine gute Idee hat, müssen wir ihn dazu bevollmächtigen und berufen, er braucht die Rückendeckung gegen Pessimisten und Besserwisser. Wir müssen ihm Hindernisse aus dem Weg räumen und unsere Organisationsstrukturen zur Verfügung stellen. Dazu braucht es schnelle, verbindliche Entscheidungen und keine langen Genehmigungswege. Die „Macher“ in den Gemeinden haben keinen Nerv für endlose Antragsformulare und Sitzungen. Damit kann man jede Initiative töten. Also braucht es positiv die Erlaubnis und Autorisierung, etwas Neues zu starten und es braucht negativ die Abwehr von Missgunst, Pessimismus und Bürokratie. Als wir für ein Projekt kurzfristig eine Stelle schaffen wollten, hat mir ein Mitglied der Kirchenleitung geraten: „Mach es nicht auf dem offiziellen Weg, das dauert ewig und wird nicht funktionieren. Mach es über einen freien Verein.“ Und tatsächlich haben wir kurz danach den Arbeitsvertrag gemacht, den der Notar mit uns auf einem A4-Zettel entworfen hatte.
Dass die „Behördenkirche“ solche Initiativen ersticken kann, ist bekannt. Aber inzwischen haben Kirchenleitungen dazugelernt und den Rahmen für „Erprobungsräume“ geschaffen. Die Gemeinden von morgen werden wohl jenseits der bisherigen Berufsbilder und Anstellungsverhältnisse entstehen und wachsen. Das wird niemand verhindern, höchstens verzögern, wodurch wir uns aber der Dynamik Gottes berauben würden.
Offenheit für Gottes Geist
Jesus schenkt uns ein Bild von einer Gemeinde aus Schwestern und Brüdern, die aus der freien Gnade Gottes leben und alle Menschen dazu einladen (Barmer Erklärung). Die Vision ist nicht hinfällig, aber sie muss offen sein! Wie sie Gestalt gewinnt und durch wen, das haben wir nicht in der Hand. Dieses Nicht-in-der-Hand-Haben ist ein springender Punkt. In unserer Kultur haben Leiter ein starkes Kontrollbedürfnis. Darum können sie den Wildgarten nicht gut ertragen. Sie nehmen oft lieber in Kauf, dass gar nichts wächst, als dass es gegen ihren Plan geht. Aber Gott lässt sich sein Wirken nicht vorschreiben. Sein Geist weht, wo ER will. Darum brauchen wir die Demut, die den Satz Christi ernst nimmt: „Ohne mich könnt ihr nichts tun!“ (Joh. 15,5) Es ist eben ein großer Unterschied zwischen dem, was menschlicher Aktionismus ist, und dem, wo Christus selbst am Werk ist. Es geht darum, dass wir seine Werkzeuge sind und seine Werke tun, statt unser eigenes Ding zu machen.
Wie eine klare Vision und ein Auftragsbewusstsein sich mit der Fügung Gottes vertragen und manchmal auch in Konflikt geraten, das kann man gut am Missionsstil des Paulus ablesen. Er wollte nach Galatien reisen, aber der Geist Gottes ließ es nicht zu, also stellte er seinen Plan um. In Philippi wollte er in der Synagoge predigen, das war seine ursprüngliche Strategie, aber stattdessen führte Gott ihn zu den Frauen um Lydia und so begann das Christentum in Europa. Wie traurig wäre es gewesen, wenn er für diese Umorientierung nicht offen gewesen wäre und seine ursprüngliche Planung durchgezogen hätte! Aber seine Vision von der weltweiten Gemeinde Gottes war offen genug, um sich auf die neue Zielgruppe einzustellen.
Offenheit für den Geist Gottes bedeutet aber nicht, einfach alles wachsen zu lassen, was kommt. Die Leitung muss darauf achten, dass nur das sich entfaltet, was auch wirklich in einen Garten gehört. Denn auch im geistlichen Sinn gibt es Unkraut: Dazu gehören kulturelle Veranstaltungen, die keinen explizit christlichen Bezug haben oder politische Propaganda zugunsten irgendeiner Richtung. Was aber dem Liebes- und Missionsauftrag Christi entspricht; was auch in den Menschen einen Zugang eröffnet, die noch nicht glauben; was die Liebe der Christen untereinander stärkt, das sollten wir düngen und schützen.
Manchmal gibt es auch gute Ideen, für die die Zeit noch nicht reif ist oder die die Gemeinde überfordern. Ein guter Indikator ist, wenn die neue Initiative auch neue Mitarbeiter aktiviert, statt denen eine Last aufzubürden, die eh schon an anderer Stelle aktiv sind.
Vor allem geht es aber darum, eine geschützte und fruchtbare Atmosphäre zu schaffen, die Gutes aufgehen lässt. Geistliche Leitung zeigt sich darin, dass sie die Eigeninitiative der Christen ermutigt und fördert. Sie bereitet den Boden, damit dort aufwachsen kann, was der Heilige Geist in die Herzen der Kinder Gottes sät. Also will ich mich überraschen lassen, welche Pflanzen Gott als nächstes aufgehen lässt und so gut ich es kann dazu beitragen, dass sie reichlich blühen und fruchtbar sind.
▬ Jörg Gintrowski
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 2/2025